28.06.2013

thomas meyer: wolkenbruchs wunderliche reise in die arme einer schickse

jung und aus einer orthodoxen jüdischen familie stammend studiert mordechai wolkenbruch an der uni und arbeitet teilweise im väterlichen geschäft. seine mutter versucht ihn, der nun doch schon 25 jahre alt ist, zu verheiraten, er aber ist fasziniert von laura, einer nichtjüdischen mitstudentin. letztlich landet er nicht nur in den armen sondern auch im bett der schickse. zuhause wird er vor die tür gestellt, die mutter ist unversöhnlich, der vater hat ein gewisses verständnis für seinen sohn. motti, wie mordechai genannt wird, folgt seinem herzen, tut sich zu beginn schwer im nichtjüdischen leben und beginnt seinen weg zu finden.
diese geschichte ist – wie selten eine – unterhaltsam, rasant, aber auch feinfühlig und bewegend geschrieben. für mich tat sich beim lesen eine welt auf, die mir bisher fremd war, von der ich bestenfalls vom hörensagen wusste. treffend und mit viel witz werden die figuren und das leben einer jüdisch-orthodoxen familie dargestellt. selbstironisch und zielsicher werden alltägliche und besondere ereignisse beschrieben. selten habe ich beim lesen eines buches so viel und stark gelacht, dass mir das weiterlesen jeweils für einen moment unmöglich war, sei es weil ich vor lauter lachen die augen voll tränen hatte oder es mich so schüttelte, dass mir das buch aus den händen fiel. ein einzigartiges werk, erfrischend, tiefgründig, aktuell und emotional.

26.06.2013

anouar benmalek: fremde sterne

die elsässerin lislei und der algerier kader sind ende des 18. jahrhunderts gefangene in der französischen strafkolonie in neukaledonien. er wird von ihr auf seiner flucht entdeckt, für sie eine chance, dem unmenschlichen regime dieser lager ebenfalls zu entkommen. auf einem australischen schmugglerschiff, das sie nach tasmanien bringt, entdecken sie den gefangenen aborigine-jungen tiradir. nur unter unmenschlichen bedingungen, selbst morden müssend, schaffen sie es nach australien zu kommen. ihre fürsorge für tiradir steht über allem und verbindet sie letztlich in liebe zueinander. sie kämpfen sich durch diese den aborigines feindlich eingestellte gesellschaft, in der nur das recht des stärkeren zählt, zu ihrem freien, selbstbestimmten leben. dabei müssen sie viel unverständnis, ablehnung und gewalt erleben, weil niemand versteht, dass sie einen aborigine als pflegekind haben.
der einblick in diese frühe australische kolonialgesellschaft zeigt, mit welchem hass, mit welcher konsequenz und härte die aborigines auf die stufe von tieren gestellt, gejagt, gemordet und ausgerottet worden sind. die menschlichkeit und fürsorge von kader und lislei bringen diese in situationen, in denen ihre ethische grundhaltung auf eine schwere probe gestellt wird. ein kraftvolles und dramatisches buch, das in einer unmissverständlichen und schonungslosen offenheit die schrecklichen ereignisse der kolonialisierung durch europäische mächte beschreibt. die fürsorgliche nähe und liebe der hauptpersonen schaffen einen gegensatz dazu und lassen auch hoffnung zu.

24.06.2013

paul auster: nacht des orakels

sid ist schriftsteller und erholt sich nach einem viermonatigen krankenhausaufenthalt langsam zuhause von einem unfall. schreiben gelingt ihm vorerst noch nicht, er verbringt den tag mit kleinen spaziergängen im stadtviertel und findet in der papierwarenhandlung eines chinesen ein notizbuch, das ihn ganz besonders fasziniert. zuhause angekommen ist seine schreibhemmung verschwunden und er beginnt eine geschichte zu schreiben, deren handlung aber in eine ausweglose situation führt.
parallel dazu erfahren wir etwas über das zusammenleben mit seiner frau grace, deren leben für ihn einige geheimnisse birgt. seine fragen behält er aber immer für sich, um die beziehung zu seiner frau, die er über alles liebt, nicht zu gefährden. er beginnt eine andere geschichte zu schreiben, die der wahrheit um seine frau, wie er später erfährt, extrem nahe kommt.
ein roman voller phantasie, abenteuerlichen ereignissen und sehr unterschiedlichen, exakt beschriebenen personen. die häufigen szenenwechsel und immer wieder neu auftretenden personen faszinieren ebenso, wie die immer wieder überraschende handlungsführung. bis zum etwas abrupten ende hält die spannung an. ich hätte gerne noch etwas weitergelesen.

22.06.2013

markus werner: am hang

eigentlich ist die erste begegnung rein zufällig. der junge anwalt clarin setzt sich zum älteren lehrer loos im vollbesetzten restaurant, weil sonst kein tisch frei ist. nur sehr zögerlich kommt ein gespräch in gang, das aber bald die ebene der belanglosigkeit verlässt. zwar zunächst widerstrebend aber zunehmend mehr erzählt loos von seiner geliebten frau, die gestorben ist. daran zerbricht er beinahe, während sein gegenüber gerne und lustvoll lebt. ihre gespräche bringen die zwei so verschiedenen männer einander näher. zu einem dritten treffen erscheint loos nicht mehr und lässt sich auch nicht auffinden. und erst spät beginnt man zu ahnen und noch später wird es gewissheit, wie nahe die beiden lebensgeschichten der beiden sind.
es ist eine freude diesen tiefgründigen und philosophischen gesprächen zu folgen. immer weniger bleibt im ungewissen, immer klarer und unmissverständlicher kommen die fakten an den tag. trotz der nicht einfachen thematik leicht und spannend zu lesen.

18.06.2013

steinunn sigurdardóttir: gletschertheater

der laientheaterverein eines isländischen dorfes plant tschechovs kirschgarten zu spielen. was als einfaches dorftheater beginnt, wird ein immer grösseres unternehmen. der reiche dorfbewohner. der „gletsching“, ist die treibende kraft. so lässt er eigens für diese aufführung ein theater bauen und engagiert einen regisseur von auswärts. die bisherige isländische uebersetzung genügt nicht mehr, auch diese muss neu gemacht werden. die idee alle rollen mit männern zu besetzen gibt dem dorffrieden eine ganz eigene dynamik. nichts ist, wie es bei früheren theateraufführungen war. das projekt ist ambitiöser als alles zuvor, weckt wünsche und erwartungen. die geschichte endet mit der premiere, welche noch einmal einige ueberraschungen bereit hält und fragen offen lässt.
bis man sich an all die isländischen personennamen und ortsbezeichnungen gewöhnt hat, ist es etwas schwierig, den ueberblick zu erhalten, aber schon nach wenigen seiten ist man voll drin und möchte das buch gar nicht mehr weglegen. diese mischung aus isländischer dorftradition und modernem leben kommt sehr realistisch daher. spannend und lustig, manchmal auch etwas überdreht.

14.06.2013

italo svevo: senilità

der junge, in gutbürgerlichen verhältnissen lebende emilio verliebt sich in angiolina, eine frau eher zweifelhaften rufes. sie hat eine aufgelöste verlobung hinter sich, über deren hintergründe es viele vermutungen gibt, aber nicht wirklich klarheit herrscht. er bemüht sich um sie, erklärt ihr aber auch, keine wirklich verbindliche beziehung zu ihr zu wollen. doch nach kurzer zeit muss er sich eingestehen, ihr verfallen zu sein. er kann sie nicht mehr loslassen, seine gedanken kreisen um sie und er wartet ungeduldig und zuweilen auch eifersüchtig auf jedes nächste treffen. sie scheint mit ihm zu spielen, hat immer wieder etwas mit anderen männern und lässt sich auch nicht festlegen. seine verschiedenen trennungsversuche scheitern.
amalia, emilios schwester, die ihm seit dem tod der eltern bescheiden und zurückhaltend den haushalt besorgt, verliebt sich in einen seiner besten freunde, den bildhauer balli, der aber ihre liebe nicht erwidert. amalia erkrankt und stirbt schliesslich, was auch unserem protagonisten die augen öffnet und er es endlich schafft, sich von angiolina endgültig zu trennen.
eine lange geschichte, deren handlung sich nur zwischen ganz wenigen personen abspielt und sich fast ausschliesslich mit der verliebtheit, der abhängigkeit, der sehnsucht und den daraus resultierenden seelenqualen befasst. all die gemütszustände sind sensationell treffend beschrieben, ohne kitschig zu werden. dass das buch vor mehr als hundert jahren geschrieben worden ist, erkennt man zwar an der sprache, das ewige thema der menschen selbst ist aktuell wie je.

10.06.2013

ueli oswald: ausgang, das letzte jahr mit meinem vater

und was ist, wenn der vater ankündigt, dass er mit einer sterbehilfeorganisation aus dem leben scheiden will? der sohn protokolliert das letzte lebensjahr und das bewusst geplante sterben seines vaters. in dieser aussergewöhnlichen zeit führen sie gespräche, lassen die familiensituation revue passieren und es wird nähe, vertrauen und freundschaft möglich, die vorher nicht da waren.
der selbstbewusste und zeitweise auch etwas starrköpfige vater öffnet sich seinem sohn gegenüber auf eine andere, vertrautere weise. immer aber sucht er die unzulänglichkeiten und beschwerden des alters zu verbergen. den abschied von dieser welt plant er minuziös, akribisch und weitgehend unbeirrbar.
nicht nur ein offenes und beeindruckendes buch, das mit einer klaren sprache sehr persönliche erfahrungen des autors vermittelt, sondern auch ein wichtiger beitrag zur diskussion um organisierte sterbehilfe.

01.06.2013

alex capus: munzinger pascha

werner munzinger, ein abenteurer, reiste im 19. jahrhundert nach aegypten und aethiopien, trieb dort handel, heiratete und kam letztlich auch ums leben. der junge reporter max mohn, der im moment für eine zeitung arbeitet und sich aufgaben gegenüber sieht, die ihm nicht gelingen wollen und die ihn auch nicht wirklich interessieren, ist von der geschichte munzingers fasziniert. hals über kopf reist er nach kairo und geht der geschichte dieses abenteurers nach.
max' lebensgeschichte, die nach der trennung von der frau, mit der zusammen er ein kind hat, nicht so gut läuft, ist der zweite handlungsstrang in diesem roman. max sitzt mit freunden in lokalen herum, spielt, trinkt und raucht. dabei verliebt er sich in polja, eine motorradfahrerin mit einer etwas exotischen geschichte. als max aus kairo zurückkommt, erfährt er, dass sie ihm dahin nachgereist ist.
eine interessante mischung aus einem stück zeitgeschichte, die die biografie eines mannes zeichnet, der die kleinstadt verlassen hatte, um dem leben zu entkommen, das max und seine freunde hier führen. leicht und spannend zu lesen, trotzdem tiefgründig und berührend.