29.01.2019

donat blum: opoe

da sind zwei geschichten. die eine ist die von opoe, der holländischen grossmutter, deren leben voller geheimnisse ist. sie heiratet und folgt ihrem mann in die schweiz, wo sie nie ganz heimisch wird. nach ihrem tod fährt ihr enkel nach holland und trifft dort einige alte verwandte. aus deren erinnerungen und erzählungen entsteht das bild einer eigenwilligen und selbstbestimmten frau, die nicht nur damit lebt, von ihrem mann betrogen zu werden, sondern sich auch ihr eigenes leben einrichtet.
die andere geschichte ist die des autors, des enkels, der offene und freie liebesbeziehungen sucht. dieses nicht einfache bestreben, das zuweilen wegen trauer, eifersucht und anspruch an treue an grenzen stösst, beschreibt er mit einer faszinierend eindringlichen anschaulichkeit.
trotz der immer wieder langen und komplexen sätze ist der text gut verständlich und erzeugt schöne und spannende stimmungen. gerne hätte ich mehr über die geschichte der grossmutter erfahren, vieles bleibt nur angedeutet und ungenau. was die beiden parallel geführten stränge verbinden soll, hat sich mir wenig erschlossen. der gegensatz zwischen der offensichtlichen abgeklärtheit der grossmutter und dem zweifelnden und suchenden enkel ist zwar interessant, aber findet irgendwie nicht zusammen.

26.01.2019

linus reichlin: in einem anderen leben

die eltern von luis führen eine schwierige ehe. früher waren sie nach aussen ein erfolgreiches schönes und wohlhabendes paar. aber schon länger steht es um ihre beziehung nicht gut, sie streiten oft und der alkohol trägt sein übriges bei. als junger mann flüchtet luis, lässt alles hinter sich und versucht zu vergessen, was ihn als kind und jugendlichen belastete. doch haben ihn die erlebnisse geprägt und als er viele jahre später einem für seine mutter wichtigen bild gegenübersteht, holt ihn die ganze vergangenheit ein. ob ihm die befreiung daraus gelingt bleibt offen.
der roman dreht sich vor allem um das thema, was eltern ihren kindern durch vererbung oder verhalten mit auf den lebensweg geben. etwas, das uns alle irgendwie und irgendwann beschäftigt. da gehen eigene beziehungen in die brüche, weil man von der herkunftsfamilie geprägt ist, da will man unbedingt nicht in die gleichen muster fallen und trotzdem geschieht es. deshalb packt einen die geschichte, die trotz all den widrigkeiten leichtfüssig daher kommt.

21.01.2019

benedict wells: vom ende der einsamkeit

als die eltern bei einem autounfall ums leben kommen, nimmt das behütete leben von jules, seinem bruder marty und seiner schwester lys ein abruptes ende. sie werden in ein internat gebracht, wo sie die nächsten jahre leben und ihre schulzeit beenden werden. jules lernt alva kennen und lieben, aber sie werden zunächst kein paar. erst viele jahre später treffen sie sich wieder und finden zueinander. marty heiratet elena, aber liz hat kein glück mit ihren beziehungen. später als erwachsene bleiben sich die drei geschwister, so unterschiedlich ihre lebenswege sind, immer irgendwie verbunden und finden nach etlichen schicksalsschlägen wieder nahe zueinander.
diese schöne familien- und liebesgeschichte berichtet davon, wie der verlust der eltern die drei kinder unterschiedlich bewegt und aus ihnen das macht, was sie am ende sind. fröhlich leichte und schwierige zeiten wechseln sich ab, nicht alles läuft rund. aber sie scheinen keine finanziellen probleme zu haben und ihre umgebung ist wohlgeordnet. irgendwie verlassen sie sich immer aufeinander und scheinen das verwaistsein mit unverbrüchlicher gegenseitiger verantwortung füreinander zu kompensieren. die geschichte ist leicht und schön zu lesen, bleibt aber oft etwas an der oberfläche.

17.01.2019

peter hofmann: das feuer fremder häuser

gregor stellt sein bisheriges, recht erfolgreiches und bequemes leben in frage: er muss etwas ändern. die beziehung zu jan ist kaum noch mehr als langeweile und aergernis. auch seine freundinnen und freunde langweilen ihn. da erreicht ihn eine nachricht von sebastian, seiner früheren kurzen, grossen liebe, die aber nicht gut geendet hat. sebastian betreibt jetzt auf dem land gemeinsam mit seinem freund ein gasthaus und lädt gregor zu einem besuch ein. dieser fährt hin und trifft dort auf einen völlig anderen sebastian und vor allem auf eine völlig andere welt. zum ersten mal fühlt gregor sich zu hause, einfach wohl und es geht ihm gut. er erwägt, nicht mehr zurückzukehren und dort ein neues leben anzufangen.
klar und direkt beschreibt der autor diese geschichte, fast etwas zu karg. die meisten figuren nehmen nicht wirklich gestalt an, bleiben trotz detaillierter beschreibung blass. wären da nicht immer wieder einblicke in gedankengänge der einzelnen, käme die geschichte etwas flach daher. aber das buch behält die spannung und ist leicht zu lesen.

13.01.2019

francesca melandri: eva schläft

evas telefon klingelt: es ist vito, der in ihrer kindheit vor mehr als dreissig jahren der freund ihrer mutter war und die rolle ihres vaters übernahm. vito hat nicht mehr lange zu leben und möchte eva noch einmal sehen. sie macht sich auf den weg aus ihrer heimat südtirol bis in den äussersten süden italiens, nach kalabrien. während der reise erinnert sie sich an ihr ganzes bisheriges leben, an ihre kindheit im damals für seine autonomie kämpfenden südtirol, an ihre ledige mutter, die ihr immer ruhe und geborgenheit gab, an ihren cousin ulli, der ihr einziger und wirklicher freund in der kindheit war. angekommen in reggio calabria sieht sie vito wieder, der ihr so viel bedeutet hat und der damals -- für sie unerklärbar -- verschwand.
diese grosse familiengeschichte über beinahe ein jahrhundert, berichtet über das karge leben der armen bauern und über den aufkommenden tourismus, der ihnen den ersten wohlstand brachte. das leben in dieser streng katholisch geprägten gesellschaft lässt keinen platz für uneheliche kinder, konkubinate oder homosexualität. doch auch verzweifelte lebenssituationen werden erträglich, dank der nächstenliebe und dem barmherzigen handeln frommer und aufrichtiger menschen.
der roman besticht durch seine vielschichtigkeit und seine geschickte dramaturgie. in einer brillanten sprache schildert die autorin sowohl das leben einzelner menschen und deren harte arbeitsbedingungen als auch die über jahrzehnte das leben prägenden gesellschaftlichen und moralischen werte. dazu kommt das schwierige verhältnis zwischen den deutschsprachigen südtirolern und den italienern in einer für diese gegend unruhigen zeit. all das vermittelt gefühle und bilder, die sehr zu herzen gehen und einen nur schwerlich loslassen.

09.01.2019

christoph hein: verwirrnis

als wolfgang neu in die klasse kommt, dauert es nur kurz und er und friedeward werden schnell mehr als beste freunde. in den 1950er jahren in einer katholischen kleinstadt muss ihre liebe, die für die menschen um sie herum als sünde gilt, ein geheimnis bleiben. die grösste angst aber hat friedeward vor seinem strengen vater, der bei der erziehung seiner kinder vor körperlicher züchtigung nicht zurückschreckt. auch als sie beide von zuhause weg sind und in leipzig -- in einem viel liberaleren umfeld -- studieren, sind sie vorsichtig. sie lernen ein lesbisches paar kennen und kommen auf die idee, dass eine heirat von jacqueline mit friedeward eigentlich die beste tarnung wäre. für wolfgang eröffnet sich die möglichkeit in berlin weiter zu studieren. die trennung ist schwer, bringt entsagung, sehnsucht aber auch entfremdung mit sich.
in diesem roman, der sich letztlich zur lebensgeschichte friedewards fügt, finden einige elemente zusammen: zwei männer finden trotz der schwierigen, ja beinahe unmöglichen situation zueinander, sie bestehen und gestalten ihre beziehung versteckt und später formt sie der schmerz der trennung, jeder auf seine weise. kurz nach dem zweiten weltkrieg in der noch jungen ddr wird das private leben immer wieder von gesellschaftlichen und politischen bedingungen stark beeinflusst: eindrücklich, wie die historischen tatsachen zutage treten.
es ist ein buch, das ich kapitel für kapitel wohldosiert gelesen habe. schon in der mitte fürchtete ich am ende anzukommen und den lesegenuss nicht mehr zu haben.


04.01.2019

gusel jachina: suleika öffnet die augen

suleika wird 15-jährig mit dem viel älteren murtasa verheiratet. sie kennt nichts anderes als die tradition ihres volkes, der tataren. vier kinder bringt sie zur welt, die alle in den ersten lebenswochen sterben. für ihren mann und ihre schwiegermutter ist sie nur eine wertlose dienerin, die keine rechte hat. doch dann wird bei der kollektivierung der landwirtschaft der hof der familie enteignet, ihr mann wird erschossen und sie wird nach sibirien deportiert. auf diesem entbehrungsreichen transport gehört sie zu den wenigen ueberlebenden und es tut sich eine neue welt für sie auf. beim aufbau einer siedlung übersteht suleika nicht nur den ersten harten winter, sondern sie findet dort auch ihre wirkliche liebe.
das zentrale element ist das persönliche schicksal von suleika, die eigentlich unfreiwillig aus den zwängen der eigenen traditionen befreit wird. die repression des systems und die daraus resultierenden intrigen und machtspiele beherrschen das zusammenleben. in diesen extremsituationen geht es immer wieder um ethische werte und zwischenmenschliche fragen. ein packend geschriebener roman, der einen in die 1930er jahre in stalins russland führt. menschen ganz unterschiedlicher herkunft treffen nicht nur aufeinander, sondern sind existenziell aufeinander angewiesen.

01.01.2019

michael ondaatje: es liegt in der familie

der titel des buches sagt es irgendwie schon. auf den spuren seiner vorfahren – tamilen, singhalesen, engländer und holländer – beschreibt michael ondaatje das leben seiner eltern, grosseltern und weiterer verwandter im ceylon der 1930/40er jahre. viele einzelne geschichten bilden nicht nur das leben der damaligen oberschicht auf der insel ab, sondern zeugen auch von den verhältnissen innerhalb der familie. neben vielen anderen widmet er vor allem seinem trunksüchtigen vater und seiner unkonventionellen grossmutter lala mehrere kapitel. dies alles handelt in einer tropischen natur, deren fülle, farben und gerüche unermesslich zu sein scheinen.
diese art familienbiografie ist genau beobachtet und treffend beschrieben. mit einer wunderbaren leichtigkeit und distanziertheit vermag der autor über seine nächsten zu berichten und nimmt doch an deren schicksalen teil. die beschreibung der landschaft und der natur weckt richtige sehnsüchte.