13.01.2019

francesca melandri: eva schläft

evas telefon klingelt: es ist vito, der in ihrer kindheit vor mehr als dreissig jahren der freund ihrer mutter war und die rolle ihres vaters übernahm. vito hat nicht mehr lange zu leben und möchte eva noch einmal sehen. sie macht sich auf den weg aus ihrer heimat südtirol bis in den äussersten süden italiens, nach kalabrien. während der reise erinnert sie sich an ihr ganzes bisheriges leben, an ihre kindheit im damals für seine autonomie kämpfenden südtirol, an ihre ledige mutter, die ihr immer ruhe und geborgenheit gab, an ihren cousin ulli, der ihr einziger und wirklicher freund in der kindheit war. angekommen in reggio calabria sieht sie vito wieder, der ihr so viel bedeutet hat und der damals -- für sie unerklärbar -- verschwand.
diese grosse familiengeschichte über beinahe ein jahrhundert, berichtet über das karge leben der armen bauern und über den aufkommenden tourismus, der ihnen den ersten wohlstand brachte. das leben in dieser streng katholisch geprägten gesellschaft lässt keinen platz für uneheliche kinder, konkubinate oder homosexualität. doch auch verzweifelte lebenssituationen werden erträglich, dank der nächstenliebe und dem barmherzigen handeln frommer und aufrichtiger menschen.
der roman besticht durch seine vielschichtigkeit und seine geschickte dramaturgie. in einer brillanten sprache schildert die autorin sowohl das leben einzelner menschen und deren harte arbeitsbedingungen als auch die über jahrzehnte das leben prägenden gesellschaftlichen und moralischen werte. dazu kommt das schwierige verhältnis zwischen den deutschsprachigen südtirolern und den italienern in einer für diese gegend unruhigen zeit. all das vermittelt gefühle und bilder, die sehr zu herzen gehen und einen nur schwerlich loslassen.

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