21.12.2011

walther kauer: bittersalz

da liegt er im spitalbett – nach einem velounfall – in einem zustand in dem nur noch sein gehirn, sein gehör und seine nase funktionieren, völlig gelähmt und bewegungsunfähig. ueber die verbleibenden sinne nimmt er seine umwelt war, kann sich nicht dagegen wehren als der chefarzt, seine freundin und seine ex-frau beschliessen, eine operation mit einer fünfzig prozent-chance sei wohl das beste für ihn. er hört ihre gespräche, riecht ihre anwesenheit und kann sich nicht äussern. er blickt zurück auf sein leben, seinen aufenthalt im gefängnis, seine flucht, sein untertauchen auf einem bauernhof in südfrankreich. dort fasst er vertrauen zum bauern und seiner familie, alles scheint gut zu werden und er erfährt auch, eine rückkehr nach hause wäre inzwischen ohne strafbare konsequenzen möglich. doch es kommt anders. der erste sohn des bauern ist im algerienkrieg gefallen, der zweite, der die einberufung erhält wird versteckt, unfreiwillig übernimmt unser protagonist dessen identität und wird in den algerienkrieg geschickt.
neben der erinnerung an sein bisheriges leben vertreibt er sich die zeit mit einem fiktiven schachspiel. immer wieder werden dessen einzelne züge und entsprechende kommentare dazu beschrieben.
in langen und kurzen, zum teil nicht ganz einfach einzuordnenden fragmenten, verläuft die geschichte weitgehend chronologisch. manchmal ist es etwas schwierig sich zurechtzufinden.
recht und unrecht, macht und ohnmacht, reichtum und armut, ethische werte und soziale gerechtigkeit sind die leitthemen dieses romans, dessen ende etwas abrupt und abstrakt daher kommt. die phantasie des lesenden ist gefragt.

12.12.2011

maja haderlap: engel des vergessens


autobiografisch beschreibt die autorin ihre jugend, ihre wichtigen beziehungen vor allem zur grossmutter und zum vater. sie führt uns damit in das land und ein stück geschichte der sprachlichen minderheit der kärntner slowenen. in der zeit des anschlusses oesterreichs ans dritte reich bedeutete allein das sprachliche anderssein gefahr und wurde zum verhängnis vieler. die oft nur vermutete unterstützung der partisanen reichte für verhaftung und konzentrationslager. denunziationen wurden mit gewalt erpresst. die auswirkungen dieser vorgänge auf diese kleine und überblickbare volksgemeinschaft reichen bis in die heutigen tage.
vor diesem hintergrund wird die autorin gross, muss für die weiterführenden schulen und das studium von zuhause weggehen und ihr studium in deutscher sprache machen. ihre muttersprache erhält ein anderes gewicht, tritt in den hintergrund. das spätere auseinanderbrechen jugoslawiens und die unabhängigkeit sloweniens weckt neue hoffnungen, ängste und emotionen.
ein dichtes und eindringliches buch über das leben einer ethnischen und sprachlichen minderheit, das uns zeigt, wie vorkommnisse und ungerechtigkeiten früherer jahrzehnte nicht davor bewahren, dass gleiche fehler immer wieder gemacht werden.

01.12.2011

alain claude sulzer: die siamesischen brüder

im 19. jahrhundert wurden in siam, dem heutigen thailand, die beiden brüder chang und eng geboren. an der brust zusammengewachsen, verbrachten sie das ganze leben ungetrennt gemeinsam und wurden in vielen ländern als sensation auf bühnen vorgeführt. auch aerzte und wissenschaftler hatten ein grosses interesse an ihnen. der begriff „siamesische zwillinge“ geht auf sie zurück. sie heirateten zwei schwestern und hatten viele nachkommen. der tod des einen bedeutete auch den tod des anderen.
der roman beschreibt das leben der beiden brüder, teils wie es war, teils wie es gewesen sein könnte. mit viel phantasie folgt der autor den historischen gegebenheiten und führt uns in die nicht ganz einfache welt dieser beiden brüder, deren angehörigen und freunde in einer zeit, in der man sich auch darüber stritt, ob die beiden ein oder zwei menschen seien, ob sie eine oder zwei seelen hätten. informationen waren noch nicht in dem ausmass überall verfügbar wie heute, was viel raum für vermutungen und interpretationen gab. mit seiner komplexen und bildreichen sprache macht der autor den roman zu einem echten lesegenuss.

23.11.2011

serena vitale: puschkins knopf

der berühmte russische dichter alexander puschkin kam mit 37 jahren tragisch ums leben. er starb zwei tage nach einem duell, bei dem er einen bauchschuss erlitt. herausgefordert hatte er – trotz den zahlreichen versuchen seiner freunde, ihn davon abzuhalten – einen jungen französischen lebemann, der natalja puschkina ungebührlich den hof machte. die umstände, wie es zu der damals schon verbotenen tat kam, sind nie ganz geklärt worden. dies alles geschieht vor dem hintergrund des gesellschaftlichen lebens in st. petersburg im frühen 19. jahrhunderts, also zur regierungszeit des zaren nikolaus I.
der roman fusst auf historischen gegebenheiten, die mit unzähligen briefen und akten aus verschiedenen quellen teilweise belegt sind. die autorin lässt mithilfe von vielen zitaten und transkiptionen von dokumenten diese zeit auferstehen und vermittelt einen tiefen einblick in das leben des adels und der reichen. das arme volk spielt kaum eine rolle, kommt lediglich einmal beim abschied von der leiche puschkins vor. die soziale ungerechtigkeit lässt sich nur erahnen, die oktoberrevolution liegt noch beinahe hundert jahre in der zukunft.
das buch ist nicht immer ganz spannend und manchmal auch etwas schwierig zu lesen. es erfordert ruhe und konzentration um die zusammenhänge zu verstehen und den faden nicht zu verlieren. es ist aber ein geschichtsbuch der ganz besonderen sorte.

06.11.2011

henning mankell: tiefe

das wohlgeordnete leben eines marineoffiziers, die privilegien des militärs und die etwas langweilige, mässig glückliche ehe mit einer frau aus reicherer familie; all das kommt ins wanken, als er im einsatz als seevermessungsingenieur, die auf einer schäreninsel allein lebende sara fredrika kennenlernt und sich in sie verliebt. was mit ein paar notlügen und unwahrheiten beginnt wird eine komplexe beziehungsgeschichte. als er einen anderen mann bei sara fredrika – einen desertierten deutschen soldaten entdeckt erwacht seine eifersucht. er schreckt vor gewalt und selbst vor mord nicht zurück. als seine misstrauisch gewordene ehefrau selbst auf der schäreninsel erscheint, die beiden frauen sich gegenüberstehen und all die lügen auffliegen, gibt es für ihn keinen ausweg mehr.
spannend von der ersten bis zur letzten seite entrollt sich ein tiefer einblick in abgründe der menschlichen seele. die kälte des nordischen winters erscheint als symbol für die kälte des handelns des marineoffiziers. direkte und unverschnörkelte dialoge lassen die handlung eindringlich erscheinen. in der von henning mankell gewohnten spannenden und virtuosen weise erzählt, lässt einen dieses buch kaum los.

31.10.2011

juri rytchëu: polarfeuer

die russische revolution erreicht den äussersten osten der sowjetunion und damit auch das volk der tschuktschen. sie haben unter den polaren lebensbedingungen der arktis über jahrhunderte eine kultur entwickelt, in der das ueberleben aller das wichtigste ziel ist. gemeinsames bewirtschaften der ressourcen, gemeinsame jagd und gerechtes teilen der beute sind selbstverständlich, also gar nicht so verschieden vom genossenschaftlichen gedankengut der neuen lehre. mit dem bau von schulen zur alfabetisierung beginnt sich aber für die tschuktschen ebenso etwas zu ändern, wie mit dem anspruch der neuen macht, den frauen die gleichen rechte zu geben.
im kleinen dorf enmyn lebt ein weisser seit jahren mit den ureinwohnern und hat deren bräuche, sprache und gewohnheiten vollständig übernommen, ist einer von ihnen geworden. für die aus petersburg kommenden bolschewiken ist die lebens- und handlungsweise dieses kanadiers schwer zu verstehen und einzuschätzen. so sind nicht nur er und seine familie gefährdet, es bringt auch die dorfbewohner in schwierige situationen und loyalitätskonflikte. in der zeit um 1920 werden die traditionellen werte von aussen in frage gestellt.
wir lernen die leute im dorf kennen. durch ihr verhalten und handeln erfahren wir viel über eine ferne landschaft und eine kultur, die heute vom untergang bedroht ist. bis zur letzten seite hält die spannung an und wir frieren, leiden, trauern und freuen uns mit ihnen.
in einer schönen und klaren sprache vermitteln der autor und die uebersetzerin diese welt, die fernab von allem ist, was uns täglich beschäftigt und trotzdem so viele werte des zusammenlebens vermittelt, die auch in unserer gesellschaft ihre gültigkeit haben und hatten.

26.10.2011

esmahan aykol: hotel bosporus

eine deutsche filmcrew reist nach istanbul um dort einen film zu drehen. noch vor drehbeginn wird der regisseur ermordet aufgefunden. die hauptdarstellerin hat eine frühere freundin, die seit jahren in istanbul einen buchladen für kriminalromane betreibt. diese beginnt auf eigene initiative in diesem fall zu ermitteln, um den hintergrund der tat und den mörder zu finden.
dieser erste roman von eshmahan aykol lässt sich leicht lesen, auch wenn die handlungsführung oft etwas unübersichtlich ist und zu viele akteure zu viele dinge tun. ueber weite strecken fehlt der geschichte, die ja eigentlich ein krimi sein will, die spannung. die einzelnen figuren und geschehnisse sind oft überzeichnet, ohne dass es wirklich gelänge witz und satire zu vermitteln. der schluss ist so skurril wie abrupt.

16.10.2011

leonie swann: glennkill

am morgen entdecken die schafe ihren schäfer mit einem spaten in der brust tot auf der weide liegen. sie rätseln, wer ihn umgebracht haben könnte und beginnen der sache nachzugehen. mit ihren ermittlungen läuft eine art krimi an, der ein überraschendes ende nimmt.
jedes schaf, jeder widder und jedes lamm der herde hat ein persönliches, menschliches profil. trotzdem ist das ganze keine fabel. den schafen gegenüber steht die dorfgemeinschaft, deren charaktere unterschiedlicher nicht sein könnten und deren partikularinteressen weit auseinander liegen. der handlungsverlauf kommt manchmal etwas konstruiert daher und ist nicht immer ganz nachvollziehbar. auch vermag die geschichte nicht durchgehend die spannung zu halten, aber es ist ein köstlich unterhaltendes buch, das uns menschliche und tierische verhaltensweisen nahe bringt. und... man muss diese schafherde einfach ins herz schliessen.

07.10.2011

steve tesich: abspann

in einem sehr amerikanischen ambiente, vorwiegend in new york und los angeles, spielt sich diese geschichte um den reichen, übergewichtigen und kettenrauchenden „scriptdoctor“ ab. ein scriptdoctor ist einer, der missglückte filmdrehbücher umschreibt und flickt. er lebt getrennt von seiner frau, von der er sich eigentlich scheiden lassen will. als er die leibliche mutter seines adoptivsohnes kennenlernt und mit ihr eine beziehung beginnt, bringt er die zwei zusammen und es beginnt noch komplizierter zu werden.
die extrem phantasievolle geschichte, in der geld keine rolle spielt und fast alles möglich macht, ist so rasant und spannend, dass es schwierig ist, das lesen zu unterbrechen. sie ist witzig, lustig und unterhaltsam geschrieben und hat trotzdem viel tiefgang. die auseinandersetzung mit substanziellen fragen des lebens und persönlichen nöten begleitet einen durch das ganze buch und lässt einen nicht los.
einzig das letzte kapitel ist schwer zu lesen und ebenso schwer zu verstehen.

25.09.2011

melinda nadj abonji: tauben fliegen auf

aus der vojvodina kam der vater der erzählerin in die schweiz, danach die mutter, später die kinder, die bisher in der kleinstadt bei der grossmutter gelebt haben;  also das was uns unter dem amtlichen begriff "familiennachzug" bekannt ist. die geschichte einer immigrantenfamile, die sich integriert, die hart arbeitet, verzichtet, die erfolg hat, sich ihr leben einrichtet, sich einbürgern lässt, aber auch verbunden bleibt, mit ihrer herkunft, eine geschichte, die viele menschen in der schweiz haben..
schon nach dem lesen des ersten kapitels verstehe ich, dass dieses buch den deutschen und den schweizerischen buchpreis erhalten hat. so eindringlich, witzig und lustig, aber ebenso tiefgründig und reflektiert beschrieben,  entdecke ich hier das leben der familie kocsis, beschrieben aus der sicht der tochter. ohne die geschichte zu beherrschen stehen die ansprüche und träume der eltern, deren ideale und ziele, herkunft und tradition dem westlichen leben hier gegenüber. der beginn des krieges in jugoslawien gefährdet die ruhe und das bisher erreichte zusätzlich. immer wieder überrascht trifft man auf neue problemfelder, die sich stellen, die aber auch bis zum schluss immer wieder irgendwie -- und sei es durch schweigen und verdrängen der eltern und der meist stillen auflehnung der töchter -- gemeistert werden. die letzten beiden kapitel bringen einen unerwarteten, aber schönen und stimmigen schluss. 
in extrem anschaulichen bildern beschreibt melinda nadj abonji ein leben von eingewanderten, von dem wir hier immer sesshaften zwar irgendwie ahnen, dass es so sein könnte. ohne verbitterung, ohne hadern und zweifeln beschreibt sie eine lebensrealität vieler junger leute in diesem land und bleibt auch den einwanderungsgegnern und "überfremdungsgeängstigten" gerecht und fair.

21.09.2011

philip roth: nemesis

zur zeit in der der roman handelt, gibt es noch keine polioimpfung, die krankheit ist noch nicht beherrschbar. bucky cantor, ein junger sportlehrer betreut auf einem sportplatz in newark die zuhause gebliebenen jungen und mädchen. der bedrohung der grassierenden kinderlähmungsepidemie in der stadt stellt er sich mit abgeklärtheit und versucht die menschen in der aufkommenden hysterie zu beruhigen. das verhalten der verängstigten gesellschaft erinnert einen an die jüngste geschichte der achtziger jahre des letzten jahrhunderts, als das aufkommen von aids angst und schrecken verbreitete.
seine verlobte arbeitet zur gleichen zeit in einem jugendlager auf dem land in vermeintlicher sicherheit. der dortige schwimminstruktor wird in die armee abberufen, eine stelle für bucky, der sich überreden lässt, hinzufahren. eine woche später tritt der erste poliofall in diesem jugendlager auf. hat bucky die viren eingeschleppt? auch er erkrankt kurz darauf und trägt schwere folgeschäden davon. aus dem einst sportlichen und kräftigen jungen mann wird ein schatten seiner selbst, dessen persönliche krisen sich vor den augen des lesers, der leserin auftun. 
in einer starken und präzisen sprache entwickelt sich die geschichte, doch enthält sie passagen, die die geduld beim lesen auf eine harte probe stellen.

17.09.2011

david adams richards: brennendes eis

das leben einer kleinen dorfgemeinschaft an einem fluss im osten kanadas ist geprägt von armut und gegenseitiger abhängigkeit in den unterschiedlichen machtverhältnissen. aufgrund eines ereignisses verspricht sydney niemandem gewalt anzutun, geschehe was wolle. er hält dies mit aller konsequenz durch und erleidet für sich und seine familie viele demütigungen und nachteile.archaisches leben in armut lässt einen immer wieder staunen, dass dies alles in der zweiten hälfte des 20. jahrhunderts passiert. zudem in einer unwirtlichen gegend mit kurzen sommern und harten, schneereichen wintern.
der sohn sydneys – der ich-erzähler – lehnt sich auf gegen armut und demütigung, wird gewalttätig und wehrt sich für sich und seine familie. mit der einsetzung eines neuen polizisten, der von dieser dörflichen gemeinschaft und deren gegenseitigen abhängigkeiten nicht beeinflusst ist, wendet sich das blatt, viele wahrheiten kommen ans licht und die gerechtigkeit beginnt spät einzug zu halten, die machtverhältnisse beginnen sich umzudrehen.
die beschreibung der intrigen, der lügen und der gewaltbereitschaft, der hinterlistigen bündnisse und verleumdungen sucht seinesgleichen. mit einer unglaublichen stärke und direktheit – so dass es mir als leser zeitweise kalt den rücken herunterläuft – werden die niederungen des menschlichen verhaltens zur erhaltung des eigenen vermögens und ansehens beschrieben. mit spannung verfolgt man die geschichte und ist immer wieder überrascht, wie es noch schlimmer kommt.
warum der titel des englischen originals „mercy among the children“ in der deutschen übersetzung „brennendes eis“ wird, bleibt bis zum schluss ein rätsel.

28.08.2011

yusuf yeşilöz: hochzeitsflug

die geschichte von beyto, einem jungen secondo, dessen eltern aus einem tscherkessischen dorf in der türkei stammen, der homosexuell ist und einen heimlichen geliebten hat und der in den ferien im heimatdorf mit seiner cousine zwangsverheiratet wird, spricht gleich mehrere themen an, die das heutige leben von einwandererfamilien zwischen zwei kulturen prägen können. alle figuren in dieser geschichte handeln, so wie sie es für richtig halten, wie ihre traditionen es vorgeben, wie es von den anderen familienmitgliedern erwartet wird. jeder und jede will das beste aus seiner sicht und handelt geleitet von seiner persönlichen vorstellung von ehre und moral. die gegenseitigen abhängigkeiten und verpflichtungen bringen beyto und seiner angetrauten cousine kein glück und enden mit der flucht von beyto aus seiner familie in ein unbestimmtes neues leben anderswo.
ein roman, dessen autor in einer faszinierend einfachen sprache und mit einem fundierten wissen der verhältnisse hier und dort eine geschichte erzählt ohne irgendwelche schuldzuweisungen zu machen.


07.08.2011

agota kristof: das grosse heft

in kurzen, fast schulaufsatzartigen kapiteln wird die härte des lebens zweier zwillingsbrüder in einem krieg beschrieben. die kinder erlernen strategien zum überleben, die die uns vertrauten ethischen vorstellungen des zusammenlebens weit hinter sich lassen. trotzdem bleibe ich als leser emotional immer auf der seite der hauptprotagonisten.selten ein so eindringliches buch gelesen, dessen inhalt zeitweise fast nicht auszuhalten ist.