26.12.2014

uwe timm: vogelweide

auf einer hallig in der nordsee hält sich christian eschenbach auf. nach seinem konkurs als unternehmer fand er hier eine anstellung, um die vogelpopulation zu dokumentieren und wetterdaten aufzuzeichnen. ein ruhiges einsames leben, in das die ankündigung seiner früheren geliebten anna bricht, die ihn besuchen will. in der kurzen zeit bis zu ihrer ankunft – kaum zwei tage – lässt er seine lebensgeschichte revue passieren. wie er und seine freundin selma das ehepaar ewald und anna kennengelernt und sich mit ihnen befreundet haben. wie anna und er eine liebesbeziehung angefangen haben, lange unentdeckt von den anderen beiden. nach dem eklat flüchtete anna nach amerika und selma beginnt mit ewald eine beziehung und zieht zu ihm.
in dieser komplexen beziehungsgeschichte wird kaum etwas ausgelassen. die modernen und fortschrittlich denkenden, erfolgreichen menschen bleiben zum teil grosszügig und tolerant, dann wiederum verstricken sie sich in neid, eifersucht und egoismus.
trotz der brillanten dialogführung ist das buch nicht einfach zu lesen, abrupt wechseln schauplätze und die figuren scheinen mir mit ihrem wohlstand und erfolg etwas überzeichnet.

15.12.2014

friedrich glauser: gourrama

gourrama ist ein eher verlassener ort, ein grenzposten in marrokko. hier ist eine kompagnie von fremdenlegionären stationiert, über deren alltag wir viel erfahren. eine geschichte über liebe und hass, vertrauen und misstrauen, freundschaft und feindschaft. treffend sind die mechanismen dieser männergesellschaft beschrieben, menschliche abgründe tun sich ebenso auf wie kameradschaft und zuverlässigkeit. dieses stück zeitgeschichte ist sicher autobiografisch indiziert, aber aus einer gewissen distanz geschrieben.

12.12.2014

joachim b. schmidt: am tisch sitzt ein soldat

die erinnerung an den am tisch sitzenden soldaten kommt jón erst später. die geschichte beginnt in hamburg, wo der isländer jón medizin studiert und erfährt, dass seine mutter im sterben liegt. er reist zurück, auf den abgelegenen hof im norden seiner heimat, wo seine mürrische tante rósa, seine mutter und sein behinderter bruder leben. in der umgebung, in der er seine jugend verbracht hat, holen ihn bilder seiner kindheit ein, deren zusammenhang er nicht verstehen kann. fragen werden ihm nicht oder nur widerwillig beantwortet und es wird immer klarer, dass um den im fluss ertrunkenen vater ein geheimnis gehütet wird. als er unter dem einzigen baum auf dem hof vergrabene menschliche knochen findet, tun sich mehr fragen auf, als je beantwortet werden können.
spannend, unheimlich und fast ein wenig mystisch ist diese familiengeschichte. meisterhaft gelingt es dem autor nicht nur die handlung in diese einzigartige landschaft zu betten, sondern auch die wortkargen menschen und ihr leben in dieser rauen umgebung zu beschreiben. die relative langsamkeit der ereignisse baut eine starke spannung auf, die einen von anfang bis schluss fesselt.

08.12.2014

kristof magnusson: arztroman

der titel des buches lässt gemischte gefühle aufkommen, nach den ersten zwei kapiteln ist man aber voll in einer spannenden geschichte. adrian und anita, arzt und aerztin, trennen sich. adrian zieht zu seiner neuen freundin heidi, während anita sich in die arbeit als notärztin stürzt. sie meint zunächst mit der situation gut umgehen zu können. als sie ihren ehemaligen mann bewusstlos mit einer spritze in der hand auf einer toilette im krankenhaus findet, verliert sie ihre abgeklärtheit. eine achterbahn der gefühle lässt sie nicht immer geschickt handeln und die vielen erwartungen und hoffnungen erfüllen sich nicht. erst gegen den schluss findet sie wieder boden unter den füssen. 
zeitweise rasant, wie die blaulichteinsätze, zeitweise aber eher verhalten und beschaulich, pendelt der roman zwischen action und reflexion hin und her und gibt ein gutes bild, wie schräg es im leben laufen kann, aber auch, wie es eigentlich nie aussichtslos ist. mehrfach überraschende wendungen machen die geschichte spannend und speziell. ein arztroman, der nicht so ist, wie man es sich allgemein vorstellt.

04.12.2014

robert seethaler: ein ganzes leben

als kind kommt andreas egger in das tal, in dem er sein leben verbringen wird. auf einem hof wird er untergebracht, wo er schon als kleiner bub viel arbeiten muss. immer wieder wird er vom bauern geschlagen, irgendwann schlägt er zurück und geht. der beginnende tourismus bringt ihm ein auskommen als arbeiter beim bau von seilbahnen. er lernt marie kennen, die er bald wieder verliert. dann kommt der krieg und er gerät in russland in gefangenschaft. als er nach jahren ins dorf zurückkehrt, lebt er ein ruhiges und zurückgezogenes leben und wird ein auf sich alleine gestellter, etwas kauziger alter.
trotz aller widrigkeiten und schicksalsschläge blickt andreas egger auf ein leben zurück, mit dem er zufrieden ist. er strebt nicht nach geld und reichtum, sondern freut sich an der natur und dem einfachen und friedlichen dasein. wie ein antiheld, in einer welt in der status und reichtum zählen, erscheint uns dieser mann. so klar und einfach sein leben ist, so klar und einfach ist die sprache, in der diese berührende geschichte erzählt wird.

30.11.2014

jesús carrasco: die flucht

weshalb der junge von seiner familie aus seinem dorf flieht, erfährt man nur langsam; wie beschwerlich diese flucht durch die trockene und menschenleere gegend ist, wird aber sofort klar. sein ueberleben ist zunächst nur dadurch gesichert, dass er auf einen ziegenhirten trifft. gemeinsam sind sie unterwegs, aufeinander angewiesen und irgendwie unfreiwillig von einander abhängig. die moralische integrität des hirten auch in schwierigsten situationen hat beinahe etwas biblisches und wird vom jungen nicht immer sofort verstanden.
die geschichte einer flucht mit vielen entbehrungen und existenzbedrohenden situationen in denen die handelnden an gewissensgrenzen stossen. eindringlich vor allem, weil dem kind seine lebenssituation ausweglos scheint und es damit unbewusst in situationen gerät, von denen unklar bleibt, ob sie nicht schlimmer sind, als das leben zuhause.
so archaisch die landschaft ist, so archaisch ist auch die sprache mit ihrer unerbittlichen deutlichkeit.

23.11.2014

marlene van niekerk: agaat

auf ihrer farm in südafrika liegt milla zunehmend gelähmt in ihrem bett und wird von agaat, ihrer schwarzen hausangestellten, bis zu ihrem tod gepflegt; agaat, die sie als kleines mädchen noch zu zeiten der geltenden apartheitsgesetze bei sich aufgenommen hatte, um sie vor dem sicheren tod zu bewahren. unbeweglich ans bett gefesselt blickt milla auf ihr leben zurück. ein weiterer handlungsstrang sind ihre tagebücher.
wir erfahren viel aus ihrem leben: von den schwierigkeiten auf der farm, von der schwierigen ehe mit jak und von ihrem sohn jakkie, der weitgehend von agaat grossgezogen wurde und ihr letztlich näher stand als der eigenen mutter.
dieser intensive gesellschaftsroman führt uns nicht nur die unmenschlichen apartheitsgesetze und die haltung der weissen südafrikanischen gesellschaft vor augen, sondern erzählt vor allem die geschichte zweier frauen, deren gegenseitige macht- und abhängigkeitsverhältnisse sich im verlauf des lebens ins gegenteil kehren. ein buch mit einer subtil vermittelten politischen botschaft, das den beginn des untergangs einer gesellschaftsordnung vermittelt.


20.11.2014

jakob arjouni: chez max

2064 besteht die welt aus nur noch zwei herrschaftsbereichen. der wohlhabende eurasisch-amerikanische teil, der von einem 60'000 kilometer langen unüberwindlichen zaun vom rest der welt getrennt ist. dort herrschen armut, anarchie, seuchen und gewalt. im reichen teil funktioniert nichts ohne genaue regeln, systematische ueberwachung und kontrolle. „chez max“ ist ein deutsches restaurant in paris, das lediglich als tarnung für den ashcroft-mann max dient. die ashcroft-behörde, benannt nach dem seinerzeitigen us-justizminister, ist das zentrum der gesamten ueberwachung und kontrolle der bevölkerung. noch weitere sicherheitseinrichtungen sorgen für das wohl der menschen, was nicht immer unproblematisch ist. aber auch innerhalb seiner organisation hat max einen schwierigen partner.
eine einzigartige, aber auch beängstigende vision über die welt in fünfzig jahren, witzig, mit unendlicher fantasie und feinem, aber unerbittlichem sarkasmus geschrieben. was heute in unserem realen leben in ansätzen sichtbar ist, wird hier auf eine sensationelle art überzeichnet und damit auch karikiert. in einem zug ohne unterbrechung zu lesen.

18.11.2014

agota kristof: gestern

der start ins leben ist für den kleinen tobias alles andere als schön. seine mutter ist arm und lebt als prostituierte am rand des dorfes. eines tages sticht er den auf seiner mutter liegenden lehrer mit einem messer in den rücken und flüchtet. in einem anderen land verdingt er sich als fabrikarbeiter und trifft dort später auf seine frühere schulfreundin. sein heimweh und seine unerfüllte liebe zu ihr lässt ihn eine weitere untat begehen.
mit einer klaren sprache und kurzen einfachen sätzen erleben wir lesend eine berührende geschichte über liebe, heimweh, träume und wünsche. der blick in das denken und handeln dieser menschen tut sich unerwartet klar auf. es ist ein leises und schönes buch mit einer traurigen handlung.

10.11.2014

birgit vanderbeke: die sonderbare karriere der frau choi

irgendwann taucht frau choi auf, in diesem südfranzösischen, von abwanderung und strukturschwäche geplagten dorf. geschäftstüchtig eröffnet sie ein asiatisches restaurant in einer stillgelegten fabrik, welches schnell zu einem angesagten treffpunkt wird. eine ihrer angestellten wird von ihrem ehemaligen freund immer wieder bedroht. als dieser nach einem essen im restaurant am nächste tag tot ist, scheint es zusammenhänge zu seinem ableben und anderen leichen zu geben. nichts aber lässt sich wirklich beweisen
eigentlich ist das buch ein krimi, aber für mich steht eher die integrations- oder nichtintegrationsgeschichte der frau choi im vordergrund. meisterhaft wird diese südfranzösische dorfgemeinschaft mit ihren regeln und geschichten beschrieben und parallel dazu das koreanische leben der frau choi.
die neben der beschreibenden handlung einhergehenden kommentare machen das lesen zu einem ganz besonderen amusement.

06.11.2014

mary shelley: frankenstein

wer kennt es nicht, das frankenstein-monster? oder wer hat nicht zumindest schon darüber gehört? der im ausgehenden 18. jahrhundert geschriebene roman, der als vorlage für die verschiedenen verfilmungen des stoffes diente, hat nichts von seiner aktualität verloren. darin geht es weniger um das monster und seine untaten, sondern vielmehr um dessen schöpfer. er hadert mit seiner tat, dieser schöpfung eines wesens mit intelligenz und seele, welches sich nach nichts mehr als nach akzeptanz und zuneigung sehnt. sein grauenhaftes aussehen erschreckt alle, die ihm begegnen und verunmöglichen so jeden normalen kontakt. immer wieder zurückgewiesen und vereinsamt beginnt das monster die menschen zu hassen.
die zutiefst moralische, mehr als zweihundert jahre alte geschichte, die sich mit ethischen fragen auseinandersetzt, ist nach wie vor aktuell. war damals die schöpfung eines lebenden wesens utopisch, ist die wissenschaft heute mit genmanipulation und eingriffen am erbgut dabei geister zu rufen, die sich dereinst auch gegen die menschheit wenden könnten.

30.10.2014

jean-dominique bauby: schmetterling und taucherglocke

im alter von 43 jahren erlitt der autor einen hirnschlag. er verlor die kontrolle über seinen gesamten körper, was ihm blieb war einzig ein intaktes denkvermögen und die möglichkeit mit einem auge zu zwinkern. locked-in-syndrom wird dieser zustand medizinisch treffend genannt.
beraubt aller anderer kommunikationsmöglichkeiten, diktiert er einzig mit dem zwinkern des auges dieses buch, in dem er sein leben beschreibt. die gute beobachtungsgabe und sein trotz allem nicht versiegender humor lässt ein werk entstehen, das in jeder form fasziniert. eine pflichtlektüre für alle, die im gesundheitswesen arbeiten, aber eigentlich auch für alle anderen. ich glaube, niemand kann diesen einzigartigen text ohne emotionen lesen, der streckenweise sehr unter die haut geht.

27.10.2014

jonathan franzen: korrekturen

beim lesen folgen wir einer familiengeschichte im mittleren westen der vereinigten staaten von amerika. alfred, der zunehmend dement wird, und enid sind bald fünfzig jahre verheiratet, die kinder sind erwachsen und haben sich aus der kleinstadt und damit von ihrem elternhaus verabschiedet. enid, die mutter hat den wunsch, an weihnachten noch einmal die ganze familie zuhause versammelt zu haben. und tatsächlich sind an weihnachten alle zuhause, aber es wird alles andere als feierlich und gemütlich.
ueber weite strecken spannend hat das buch auch längen, durch die ich mich kämpfen musste. unterhaltsam und interessant ist es, den einzelnen leben der kinder zu folgen, die unterschiedlicher nicht sein könnten. die spannungsfelder und missverständnisse zwischen mutter und söhnen und tochter sind wirklichkeitsnah und treffend dargestellt und bilden den kern des dramas.

05.10.2014

gerard donovan: ein bitterkalter nachmittag

zwei männer auf einem feld im winter; der eine war der bäcker, der andere der lehrer im dorf. man kannte sich und lebte über jahre in frieden zusammen. nun ist krieg, die beiden stehen einander gegenüber, der eine wird gezwungen eine grube auszugraben, der andere beaufsichtigt ihn und für beide ist unausgesprochen klar wofür die grube ist. während des tages kommen sie ins gespräch und sprechen über alles, was war und was sie hier zusammenbringt, über gutes und böses, über werte des lebens, über leben und ueberleben. während des tages fahren aber auch lastwagen vor und bringen gefangene her, die hier warten müssen.
ein unheimliches buch, das mit starken szenen die situation in einem bürgerkrieg oder krieg beschreibt. mit der nähe zu den einzelnen personen verlässt diese unheilvolle geschichte die anonymität und zeigt persönliche schicksale, macht die kriegssituation individuell erlebbar. alles führt auf die zentrale frage hin, ob man um die eigenen haut zu retten, seine freunde verraten darf.
schwere kost, die nicht immer ganz einfach zu lesen ist. aber letztlich nimmt einen die geschichte gefangen und hinterlässt existenzielle fragen, die lange nachwirken.

25.09.2014

robert seethaler: der trafikant

nachdem sich die wirtschaftlichen verhältnisse zuhause bei seiner mutter geändert haben, geht franz vom land nach wien, wo er bei einem trafikanten als lehrling unterkommt. hier tut sich eine ganz neue welt für ihn auf, er lernt nicht nur seine erste grosse liebe, eine böhmische tänzerin, sondern auch sigmund freud kennen, der kunde in der trafik ist. dies alles in der zeit der machtübernahme der nationalsozialisten und der annexion oesterreichs durch das dritte reich. so geraten alle in den wirbel dieser unruhigen zeit und ihre wege trennen sich.
eine erzählung, die aufzeigt, was den menschen in der zeit widerfährt und wie sie damit umgehen. aus der sicht von franz, dem einfachen aber aufrechten landbuben, der intuitiv handelt und sich dabei selbst in schwierigkeiten bringt, wird uns der beginn dieser unseligen zeit vermittelt. spannend und schön, berührend und stimmungsvoll ist dieser roman.

15.09.2014

ismail kadare: chronik in stein

gjirokastra im süden albaniens wird während des zweiten weltkrieges wechselweise von italien und griechenland und dann von deutschland besetzt. bis hierher besitzt diese gesellschaft eine intakte sozialstruktur in der jeder mensch seinen platz hat. die jahrhundertealten traditionen und bräuche gehen jetzt aber verloren, moralische begriffe und wertehaltungen verlieren ihre bedeutung. was die fremden besatzungen nicht verändert haben, droht letztlich in der nachkriegszeit im sozialismus zu verschwinden.
aus der sicht des kindes werden uns diese unumkehrbaren veränderungen, der untergang einer epoche, erzählt. die anfänglich unbeschwerte und behütete kindheit endet jäh. angst, ungewissheit und schrecken bestimmen immer mehr das kindliche dasein. die oft poetisch-subtile erzählung ergreift einen beim lesen stark.

31.08.2014

fania fénelon: das mädchenorchester in auschwitz

die autorin, die als mitglied des mädchenorchesters das konzentrationslager auschwitz überlebt hat, gibt in ihrem bericht ein zeugnis dieser gefangenschaft. willkür und sinnlose machtausübung, hierarchien unter den häftlingen, instrumentalisierung durch begünstigung: all diese mechanismen des systems schildert die autorin aus der eigenen optik und betroffenheit. der ununterbrochen aufsteigende rauch aus den krematorien macht nicht nur bewusst, wie wenig wert das leben ist, sondern zeigt auch die bedrohung des jederzeit möglichen eigenen endes. mit starken worten und sehr authentisch schreibt fania fénelon nicht nur über die grausamkeiten der aufseherinnen und lagerkommandanten, sondern vor allem auch über die unbeschreibliche schwierigkeit, für sich selbst die menschlichen werte und die eigene würde aufrecht zu erhalten.

30.08.2014

kressmann taylor: adressat unbekannt

max und martin betreiben gemeinsam eine galerie in san francisco. martin geht in den frühen 1930er jahren zurück nach deutschland, während max, der jude ist, die galerie weiterführt. ihnen fällt die trennung schwer, sind sie doch ganz nahe freunde. schnell wir ihr von freundschaft und vertrauen geprägter briefwechsel durch die ereignisse getrübt und bald bittet martin um die einstellung dieser korrespondenz, weil sie für ihn zum risiko wird.
so wie martin durch sein handeln und seinen mangelnden mut die bedrohte schwester seines freundes in den sicheren tod schickt, so beginnt max mit dem versand von briefen an martin, deren inhalte nach verschlüsselten botschaften aussehen und ihn kompromittieren. der postvermerk „adressat unbekannt“ lässt ahnen, dass die deportation ins konzentrationslager erfolgt ist.
der briefwechsel der beiden führt uns in knapper form vor augen, wie die politische entwicklung im deutschland der 1930er jahre überhaupt möglich war. die anfängliche zurückhaltung martins den nazis gegenüber verändert sich und führt bis zu unterstützender haltung und verleugnung von bisherigen werten und beziehungen.

07.08.2014

pascal mercier: der klavierstimmer

während einer opernvorstellung in der mailänder scala wird ein berühmter tenor erschossen. der täter, ein berühmter klavierstimmer, ist schnell verhaftet und kommt ins gefängnis. seine kinder reisen aus paris und santiago de chile nach hause um zu verstehen, warum ihr vater so weit gehen konnte. sie schreiben unabhängig von einander auf, was sie sehen und erfahren. eine unheimliche geschichte über den zerfall einer familie wird entrollt. viele überraschende momente stehen bereit und das buch findet ein überraschendes ende.
diesen spannenden und unglaublich vielschichtigen roman liest man beinahe atemlos. all die rückblicke auf die geschichte der eltern und die kindheit der jungen sind kraftvoll und trotzdem sensibel geschrieben. missverständisse, abhängigkeiten, missbrauch, inzest und schwangerschaftabbruch, alles themen, die eine reisserische aufmachung haben könnten, werden hier so selbstverständlich in den handlungsverlauf eingebettet, dass sie wirklich nur zum verständnis dieses mordes dienen. ein einzigartig schönes und vollkommenes werk.

22.07.2014

jeremias gotthelf: geld und geist

auf dem gut bestellten bauernhof in liebiwil beginnt eine schwierige zeit. der bauer christen wird immer mehr von geiz und habgier beherrscht, während seine frau aenneli jeder armen nachbarin, jedem bettler etwas gibt. das gibt immer mehr streit und unstimmigkeiten unter den eheleuten, deren drei kinder darunter leiden. aber gottesfürchtig und gläubig sucht aenneli nach einem eindrücklichen predigtbesuch das gespräch mit ihrem mann und sie finden wieder einen gemeinsamen weg.
doch bald ziehen neue wolken herauf. der jüngere sohn und hoferbe, resli, lernt ein mädchen kennen, anne mareili, die tochter eines geldgierigen bauern, der in einer heirat seiner tochter nur eine mögliche vermehrung seines vermögens sieht. er fordert die ueberschreibung des ganzen hofes an resli, bevor er seiner tochter diese heirat erlaubt. dies würde die geschwister um ihre erbteile bringen und die eltern auf dem eigenen hof zu rechtlosen, geduldeten menschen machen. während eltern und geschwister für sein glück dazu bereit wären, will resli dies aus verantwortung seiner familie gegenüber nicht. nach einer langen zeit der ungewissheit und des leidens der beiden, finden sie sich am sterbebett aennelis doch noch.
voll von ethischen und moralischen belehrungen bringt uns dieser roman die lebensverhältnisse im emmental zur zeit der französischen revolution nahe. wie in der vergangenheit sind diese fragen über herrschaft und besitz, armut und reichtum und den ethischen und moralischen umgang damit auch jetzt noch gegenwärtig. während wir heute mit der frage von zwangsheiraten von migrantenkindern konfrontiert sind, erfahren wir, wie wenig frei auch hier vor zweihundert jahren junge menschen bei der eheschliessung waren.
die geschichte ist wegen der ungewohnten sprache und der ausgedehnten predigtartigen passagen, die die handlung unterbrechen, etwas schwierig zu lesen aber auf ihre weise brandaktuell.

10.07.2014

andrea fazioli: das collier

als francesca eines abends auf dem estrich in einem kleidungsstück ihrer verstorbenen mutter ein diamantcollier findet, ahnt sie nicht, was alles auf sie zukommen wird. sie bringt es zur schätzung zu einem juwelier, der das schmuckstück als das berühmte ruggeri-collier erkennt, das seit 40 jahren verschwunden ist. eine kopie aus synthetisch hergestellten moissanit-diamanten ist vor zwei wochen gestohlen worden. dieser sachverhalt entwickelt sich zu einer komplexen familiengeschichte mit drei morden und etlichen unheimlichen begegnungen. im verlauf der geschichte erkennt francesca, dass sie selbst mit der juwelierfamilie ruggeri verwandt ist und ein verschwundener, totgeschwiegener bruder ihr vater ist.
diese mischung aus krimi und familienepos ist eine phantastische geschichte, deren komplexer handlungsverlauf nie unübersichtlich wird. spannende augenblicke wechseln sich ab mit unterhaltsamen beschreibungen, mysteriöse gestalten und skurrile figuren treffen aufeinander. die orte im tessin sind authentisch beschrieben und man fühlt sich sofort erinnert an eigene reisen. hin und wieder geht es etwas zu phantastisch zu und die handlung verlässt den boden der realität.
leider finden sich in der deutschen uebersetzung ein paar ungenauigkeiten und die teilweise etwas spröde und derbe sprache stört die ausgewogenheit des romans.

27.06.2014

henning mankell: erinnerung an einen schmutzigen engel

im zentrum des romans steht die junge hanna, die als schiffsköchin nach afrika kommt und in lourenço marques, dem heutigen maputo, letztlich besitzerin eines bordells wird, in dem ausschliesslich weisse männer schwarze prostituierte treffen. als die schwarze isabel ihren weissen mann und vater ihrer kinder erschlägt und eingekerkert wird, nimmt hanna für sie stellung und unterstützt sie. dies ist im bestehenden rassistischen kolonialsystem eigentlich unvorstellbar.
die meisterhafte beschreibung der verhältnisse in der portugiesischen kolonie zu beginn des 20. jahrhunderts, eingebettet in eine spannende frauengeschichte, führt uns eine unglaubliche welt vor augen. gegenseitige verachtung, aber auch angst voreinander bestimmen den alltag zwischen schwarz und weiss. hanna beginnt diese strenge grenze zu überschreiten, lässt sich von ihrer menschlichkeit und ihrer ethik leiten und stellt sich quer gegen die herrschende, die einheimische bevölkerung unterdrückende gesellschaft.

19.06.2014

volker weidermann: ostende

nach der machtergreifung der nationalsozialisten in deutschland wird es für viele schriftsteller unmöglich dort zu publizieren und zu leben. im sommer 1936 treffen wir auf joseph roth, stephan zweig und andere im belgischen ostende. hier erfahren wir mehr über die ganz spezielle freundschaft zwischen zweig und roth, hier sind wir dabei, wie sie einen schönen sommer erleben, immer mit der ahnung eines aufziehenden krieges.
das buch bringt uns ein kleines fragment europäischer literaturgeschichte nahe mit genauen erzählungen und beschreibungen von tatsachen und gefühlen. schön zu lesen, macht es lust selbst nach ostende zu fahren, auch im wissen darum, dass die damalige stadt nach bombardierung und wiederaufbau nicht mehr die gleiche ist, in der joseph roth und stephan zweig jenen sommer verbracht haben.

18.06.2014

anne cuneo: schon geht der wald in flammen auf

das zürcher schauspielhaus ist während des zweiten weltkrieges eine der einzigen freien bühnen im deutschen sprachraum. hier werden stücke gespielt, die in deutschland längst verboten sind. bedeutende schauspielerinnen und schauspieler haben hier einen ort für ihr wirken gefunden. die junge jüdische emigrantin ella berg, die ihre ganze familie verloren hat, kommt nach zürich und wird in diese gemeinschaft aufgenommen. hier lernt sie nathan kennen, die beiden verlieben sich. ihre heirat hilft auch, den aufenthaltsstatus von ella zu regeln.
ein stück spannender zeitgeschichte kommt uns in diesem buch entgegen. ganz nahe führt uns die autorin in diese welt der bühne, eines ensembles, das unter schwierigen umständen ein freies theater macht und damit gegen den nationalsozialismus stellung nimmt. auch dass die offizielle schweiz, die auf neutralität bedacht ist und eine konfrontation mit nazideutschland zu vermeiden sucht, diesen aktivitäten kritisch gegenüber steht, wird thematisiert. ein geschichtsbuch, das fiktion und wirklichkeit in einem spannenden roman verbindet.

22.05.2014

uwe timm: halbschatten

alles andere als gewöhnlich war es zu beginn des 20. jahrhunderts, dass frauen als pilotinnen unterwegs waren. marga von erzdorf war eine der frühen fliegerinnen: als erste flog sie von europa nach japan. bei ihrer ankunft trifft sie auf christian von dahlem, der für die deutsche botschaft als diplomat arbeitet. sie verbringen eine ungewöhnliche nacht gemeinsam in einem zimmer, getrennt nur durch einen vorhang. von dahlem, früher selbst flieger unter anderem im ersten weltkrieg, erzählt in dieser nacht von seiner tätigkeit als pilot aber auch von den ersten fliegerinnen. neben der schönheit und der faszination des fliegens berichtet er auch von gefahren, schrecken und verrat, vom prestige der piloten und deren instrumentalisierung im dritten reich. kurze zeit später bringt sich marga von erzdorf nach einem flug nach aleppo in syrien um. die ganze geschichte erzählt der friedhofsführer auf dem invalidenfriedhof in berlin, wo marga von erzdorfs grab sich befindet, aber nicht nur ihres, sondern auch gräber von männern, die im dritten reich das sagen hatten.
nicht ganz einfach zu lesen, weil die handlungsstränge sich immer wieder abwechseln und man sich immer wieder in einer anderen zeit befindet. aber gerade dies zeigt uns, wie sich die gleichen muster von macht und ohnmacht, liebe und gewalt, hässlichkeit und schönheit zu allen zeiten nicht nur immer wiederholen, sondern auch parallel in erscheinung treten.




10.05.2014

wolfgang herrndorf: arbeit und struktur

ein hirntumor limitiert die lebenserwartung von wolfgang herrndorf ganz massiv. nach seiner diagnose beginnt er einen blog zu schreiben, in dem er seinen alltag, seine gedanken, seine auseinandersetzung mit der krankheit, die reaktionen seiner freunde und seines umfeldes protokolliert. arbeit und struktur helfen ihm, diese herausforderung anzunehmen und sich ihr zu stellen. er schwankt zwischen hoffnung und resignation, ist über weite strecken realist, hat zeitweise aber auch einen nahezu sarkastischen umgang mit der krankheit und dem medizinischen personal. epileptische anfälle bestimmen zunehmend sein leben. gegen schluss gelingt es ihm nur noch mit hilfe seiner freunde, die texte niederzuschreiben.
sein scharfsinn, seine intelligenz und seine beobachtungsgabe ermöglichen ihm bilder zu vermitteln, die man als leser nicht mehr vergessen kann. klarer und realistischer kann man eine solche zeit der krankheit und des bevorstehenden todes kaum vermitteln. mit einer beeindruckenden konsequenz geht er seinen weg.
es war sein wunsch, dass dieser blog als buch herausgegeben wird. dafür werde ich ihm immer dankbar sein, denn, sollte ich je selbst in eine solche lage kommen, werde ich diese texte wieder lesen. ich bin überzeugt, sie werden mir eine grosse hilfe sein.

04.05.2014

klaus merz: jakob schläft

jakob, der älteste sohn, stirbt bei der geburt, der jüngste ist behindert, der vater leidet an epilepsie. aus der perspektive des mittleren sohnes wird die geschichte erzählt. trotz des schweren schicksals der familie geht das leben seinen gang und verläuft über weite strecken so normal wie das leben anderer familien. auch jakob ist in den gedanken immer mit dabei. oft ist – vielleicht etwas unerwartet – leichtigkeit und freude zu spüren.
mit genauen und oft kargen sätzen versteht es der autor uns diese stimmungen zu vermitteln. das buch ist für mich ein kleines wunder.

26.04.2014

catalin dorian florescu: der blinde masseur

mit teodors reise zurück in seine ursprüngliche heimat rumänien, aus der er mit seinen eltern geflüchtet war, beginnt die geschichte. in einem abgelegenen kurort trifft er auf ion. der blinde masseur ist ein ausserordentlicher mann, der sich der literatur verschrieben hat. in ihm findet er einen freund, dem er vertraut und dies veranlasst ihn hier zu bleiben. aber das blatt wendet sich unerwartet: teodor wird getäuscht und betrogen.
während man beim lesen in diese etwas seltsame gesellschaft eintaucht und sich darin wohlzufühlen beginnt, ereignen sich unerwartet dinge, die den wunsch aufkommen lassen wegzugehen. erzählungen der alten bauern und die entlegene, fast mystische landschaft bringen eine eigenartige stimmung auf.
ein sprachlich reiches buch, das zu lesen eine reine freude ist.

23.04.2014

daniel zahno: die geliebte des gelatiere

der ich-erzähler alvise wird als einzelkind in venedig gross. mit seinen mitschülern hat er es nicht leicht, aber noëmi, ein mädchen in seiner klasse, ist seine jugendliebe. das glück ist von kurzer dauer: noëmi zieht mit ihren eltern weg. alvise muss seinen weg ins leben finden. auf umwegen wird er ein bekannter und erfolgreicher gelatiere. seine erste liebe kann er aber nicht vergessen. erst eine schwere erkrankung macht ihm klar, dass er noëmi suchen muss. er macht sich auf den weg und findet sie!
eine eigentlich schöne geschichte, die einen sehr bewegen kann. während die gefühle und empfindungen klar und berührend beschrieben sind, scheinen die umgebende handlung, die orte und ereignisse etwas konstruiert daherzukommen. trotzdem ein liebevolles und unterhaltsames buch.

10.04.2014

fjodor dostojewskij: verbrechen und strafe

der arme student roskolnikow erschlägt die alte pfandleiherin aljona iwanowna, um an ihr geld und ihre habe zu kommen. deren schwester überrascht ihn bei der tat und erleidet das gleiche schicksal. nur viel glück und zufälle lassen den täter unerkannt entkommen. die grosse schuld, die er sich aufgeladen hat, lässt ihn nicht mehr zur ruhe kommen, macht ihn krank. zwei wochen, in denen vieles geschieht, treiben ihn um zwischen schuldbewusstsein und verdrängung. schliesslich legt er ein geständnis ab und wird verurteilt. die ganze handlung findet im st. petersburg der 19. jahrhunderts statt. wenige reiche und viele arme bevölkern die stadt, die hierarchien des zarenreichs tragen das uebrige dazu bei, den status quo zu erhalten.

die neue uebersetzung von swetlana geier bringt uns dostojewskijs „schuld und sühne“ in einer zeitgenössischeren und flüssigeren sprache näher und macht das lesen leichter, ohne dass inhalt und botschaft leiden.

06.04.2014

alissa ganijewa: die russische mauer

in dagestan ändert sich nach dem ende der sowjetunion vieles, wie überall in russland. westliche einflüsse, neue machtverhältnisse, aufleben alter traditionen und der erstarkende einfluss der bislang marginalisierten und aus dem öffentlichen leben verbannten religionen beginnen das leben zu bestimmen. verschiedene politische strömungen halten versammlungen ab und demonstrieren. trotz der zunehmenden unruhe im land versucht schamil sein leben zu leben, widmet sich seinem krafttraining, liebt schnelle autos und geht in die disco. doch als seine freundin madina sich von ihm trennt, weil sie den schleier nimmt und einem islamischen freiheitskämpfer in die berge folgt, bleibt für ihn die welt stehen und er verliert die orientierung. assja, seine cousine, will weg aus diesem land, nach georgien und noch weiter westwärts, weil sie hier keine zukunft sieht. schamil zaudert, kann sich nicht entscheiden, mit ihr zu gehen, und bleibt. die ereignisse überstürzen sich, eine katastrophe bahnt sich an.
dieses buch bringt uns eine welt nahe, die im westeuropa der 1990er-jahre kaum wahrgenommen worden ist. am beispiel dieses staatlichen umbruchs erfahren wir von den schwierigkeiten der neuorientierung, des machtvakuums, das von allen möglichen strömungen oft mit gewalt gefüllt werden will. vor allem die darunter leidenden menschen, deren oft einzige chance es war, zu schweigen oder zu fliehen, stehen im zentrum dieser geschichte. mit unmittelbaren beschreibungen lässt uns die autorin in diese welt eintauchen, der wir uns während des lesens nicht entziehen können.

05.04.2014

albert camus: der erste mensch

in algier während und nach dem ersten weltkrieg wächst jacques als kind im ärmlichen haushalt seiner beinahe tauben mutter und seiner analphabetischen grossmutter auf. von seinem grundschullehrer gefördert sind seine schulischen leistungen so gut, dass er ins weiterführende lyzeum übertreten kann. mit seinem freund pierre, der aus dem gleichen armenviertel stammt, fährt er täglich durch die halbe stadt in eine völlig andere welt. waren bisher seine mitschüler und spielkameraden zum grossen teil kinder arabischer familien, trifft er hier beinahe nur auf kinder der vertreter der französischen kolonialmacht. in diesem spannungsfeld erlebt er seine adoleszenz und beginnt sich existenzielle fragen zu stellen.
mit jacques zeichnet albert camus seine autobiografie und berichtet über seine ureigenen erlebnisse und gedanken, über eigene abgründe und wertehaltungen. einzigartig beschreibt er traditionen, die vom kolonialismus bedrängt werden, von konflikten, aber auch vom friedlichen zusammenleben unterschiedlichster menschen. feinfühlig und detailliert berichtet er über jacques entwicklung und erwachsenwerden.
das unvollendete manuskript zu diesem buch wurde bei camus' tödlichem autounfall gefunden.

31.03.2014

josé saramago: die reise des elefanten

könig joão III von portugal schenkte im 16. jahrhundert dem vetter seiner frau in wien einen elefanten, was eine abenteuerliche reise des dickhäuters über die alpen zur folge hatte. beinahe alle menschen, denen sie begegnen, haben noch nie einen elefanten gesehen. immer wieder groteske, kritische oder lustige momente sind zu bestehen. der aus indien stammende elefantenführer, für den diese erfahrung auch neu ist, macht sich seine gedanken. aus seiner optik wird das europäische leben kommentiert.
dieser historisch belegten geschichte geht josé saramago nach und schildert die damaligen begebenheiten auf einer wunderbare weise voll ironie und witz. ein unvergleichliches lesevergnügen.

21.03.2014

knut hamsun: die weiber am brunnen

hinter diesem nicht mehr ganz der heutigen zeit entsprechenden titel findet sich eine geschichte, die sich im 19. jahrhundert in einer kleinen norwegischen hafenstadt abspielt. oliver, der junge seemann, erleidet einen unfall auf see und verliert ein bein. seine braut heiratet ihn trotzdem, sie leben in einem haus in der stadt und oliver findet eine anstellung beim reichen konsul in dessen kontor. von ihren fünf kindern studiert der älteste sprachen, wird vom konsul finanziell unterstützt, der zweite wird schmied und übernimmt die schmiede. immer wieder wird die schuld auf dem haus fällig, nur petra, olivers ehefrau, schafft es in langen besuchen, beim besitzer jeweils eine neue frist zu erlangen. als bekannt wird, dass oliver beim damaligen unfall auch seine zeugungsfähigkeit verloren hat, wissen alle, dass er nicht der vater der fünf kinder sein kann.
ganz im stil jener zeit, episch breit, schreibt hamsun diesen gesellschaftsroman, in dem er nichts wirklich anspricht, sondern den lesenden die schlüsse selbst ziehen lässt. dieses buch lässt einen eintauchen in eine vergangene zeit und in eine gemeinschaft von menschen, die es in der form heute kaum noch gibt, deren fragen und probleme aber auch heute noch aktuell sind.

02.03.2014

brian moore: mangans vermächtnis

mangan ist der ehemann einer berühmten broadway-schauspielerin. sie verlässt ihn und er fährt zu seinem vater nach kanada. dort erfährt er vom unfalltod seiner frau. sein vater berichtet ihm über seine familie in irland, deren nachfahren er ausfindig machen wollte. mangan macht sich nun auf den weg. im herkunftsdorf im abgelegenen und armen südwesten irlands angekommen trifft er auf bauern und verarmte fahrende, die seinen namen tragen. er macht viele unangenehme begegnungen und schreckliche abgründe tun sich auf. schliesslich findet er seine vorfahren, allem voran weiss er nun, dass er verwandt ist mit einem berühmten dichter, der im vorletzten jahrhundert gelebt hat.
schon alleine die beschreibung der menschen, deren armut, der landschaft und des immer wieder unerwartet wechselnden irischen wetters lohnen das buch zu lesen. die sich mangan eröffnende familiengeschichte steigert sich immer mehr ins schreckliche und abscheuliche. spannend und farbig geschrieben lässt der roman – einmal begonnen – einen kaum noch los.

20.02.2014

jonas jonasson: die analphabetin, die rechnen konnte

die geschichte beginnt in soweto, wo die junge schwarze nombeko als latrinentonnenträgerin arbeitet und nicht eigentlich eine zukunft hat. aber sie kann rechnen und hat einen sinn für mathematik wie selten jemand. am ende der geschichte sitzt sie zusammen mit dem schwedischen könig und dem ministerpräsidenten eingesperrt im laderaum eines lastwagens und es geht nur noch darum eine katastrophe zu verhindern, wie sie die welt noch kaum gesehen hat.
was alles dazwischen liegt ist eine abenteuerliche, phantasievolle und spannende geschichte, die sich virtuos zwischen realität und fiktion hin und her bewegt. humorvoll aber auch gesellschaftskritisch erzählt der autor auf eine ganz reale art eine handlung, die offensichtlich unmöglich ist.
ein lesevergnügen erster güte und zugleich auch ein buch, das einen zum nachdenken über viele ungerechtigkeiten und ungereimtheiten auf dieser welt anregt.
nach seinem letzten buch mit dem hundertjährigen, der aus dem fenster stieg und verschwand, ist es jonas jonasson gut gelungen, das niveau zu halten, vielleicht gar zu steigern.

13.02.2014

per olov enquist: der sekundant

dies ist die geschichte des vaters des autors, der als hammerwerfer in schweden in den 1940er-jahren eine leichtathletikkarriere macht und rekorde zu werfen beginnt, bis eines tages der hammer nachgewogen wird und 400 gramm zu leicht ist. dies bedeutet das ende einer vielversprechenden karriere. seine leistungen werden ihm aberkannt, es beginnt ein schweres und armes leben in der unscheinbarkeit. als erzählender sohn zeichnet der autor ein bild seines vater, als einfachen und ehrlichen mann, dem es nicht wirklich um betrug ging, sondern um den rekord für sein heimatland.
eine lange und komplexe lebensgeschichte wird vor uns aufgerollt, schön, aber nicht ganz einfach zu lesen. dem autor gelingt es aber in diesem biografischen roman nicht nur die lebensgeschichte seines vaters näher zu bringen, sondern auch viele bezüge zwischen sport und politik aufzuzeigen, in der es um ethik und moral geht.

26.01.2014

christoph ransmayr: atlas eines ängstlichen mannes

dieses buch voll von kleinen berichten über beobachtungen und begegnungen mit menschen auf allen kontinenten entführt uns mit seinen berichten von reiseerlebnissen in zauberhafte und spannende welten. christoph ransmayr begegnet insassen der psychiatrischen klinik in wien anlässlich des besuchs der berühmten jugendstilkirche und er spricht mit menschen in murmansk über deren leben zwanzig jahre nach dem ende der sowjetunion. ganz nah erfahren wir von seinem treffen mit einem mann in sri lanka, der beim tsunami sein haus, viele verwandte und freunde verloren hat, seine ehefrau und sein kind ihm aber geblieben sind. jeder seiner siebzig geschichten geht christoph ransmayer mit einer gesunden neugier auf den grund und setzt diese texte oft auch in einen geschichtlichen kontext. so ist es auch ein bildungsbuch, aus dem man ganz viele zusammenhänge erkennen kann und manchmal auch plötzlich zu verstehen beginnt, warum es in dieser oder jener gegend so ist, wie es ist.
siebzig episoden, von denen jede mit „ich sah...“ beginnt und von denen jede sich zu einer eigenständigen, berührenden und tiefgründigen geschichte entwickelt. geschrieben in einer sensationell schönen sprache birgt dieses buch einen unvergleichlichen schatz.

10.01.2014

arno geiger: alles über sally

sally ist seit vielen jahren mit alfred verheiratet, die beziehung der beiden ist längst zu einer gewohnheit geworden. sie wohnen in einem vorstadthaus, die kinder sind erwachsen. das ehepaar nadia und erik aus der unmittelbaren nachbarschaft sind ihre besten freunde. während sally noch voll im leben steht und herausforderungen sucht, liebt alfred nur seine frau und sucht ruhe und ein zufriedenes zuhause. sally beginnt eine affäre mit erik, doch dieser liebt eine andere junge frau, wegen der er die scheidung will. nadia sucht bei ihrer besten freundin sally trost. eine aufregende und etwas verwickelte geschichte voller dilemmas, in der alle irgendwie nicht glücklich werden können. und alfred beginnt sich zu fragen, was er eigentlich über seine frau weiss.
ernsthaft und trotzdem humorvoll und unterhaltsam begegnet man hier dem alltäglichen leben von menschen, die bereits etwas über der mitte des lebens stehen. ein witziges und tiefgründiges buch, das uns virtuos durch die schwierigkeiten eines alltages führt, den jeder und jede von uns auch treffen könnte. die herausragenden beschreibungen von stimmungen und gefühlen gibt dieser ehegeschichte farbe und spannung.