29.12.2017

alain claude sulzer: privatstunden

martha, die frühere lehrerin und mittlerweile mutter und ehefrau erteilt dem jungen flüchtling leo aus osteuropa deutschunterricht. doch bald entwickelt sich mehr daraus: ein heimliches liebesverhältnis, das endet, als leo nach kanada zu seinem bruder geht. zurück bleibt eine enttäuschte martha, die aber gereift in der ausgeleierten familienstruktur weiterlebt. jahre später sucht und findet andreas den früheren geliebten seiner mutter um der geschichte nachzugehen.
faszinierend ist die nachzeichnung von ganz unterschiedlichen beziehungen zwischen menschen. ehen, deren ende längst überfällig wäre, wortloses zusammenleben und aufrechterhaltung des scheins. all dies und mehr bringt der autor auf eine art und weise in den roman ein, die das lesen zum vergnügen machen. die ende der 1960er jahre angesiedelte handlung hat kaum an aktualität verloren.

25.12.2017

juli zeh: adler und engel

die karriere von max in einer angesagten anwaltskanzlei endet abrupt, als seine freundin jessie sich das leben nimmt. max verliert den halt im leben, nur regelmässiger kokainkonsum lässt ihn alles aushalten. als er in eine radiosendung anruft, die sich menschen mit grossen lebensproblemen widmet, beginnt etwas neues. clara, die moderatorin bringt ihn dazu, sich mit seiner vergangenheit auseinanderzusetzen.
die spannende sprache mit vielen abenteuerlich beschriebenen alltagssituationen und lustigen vergleichen liess mich beim lesen durchhalten. uebertreibungen, aktionismus und realitätsfremdheit beherrschen immer wieder den text. zu viele nebenhandlungen liessen die spannung nicht aufkommen. die grosse handlungsdichte und eine etwas unübersichtliche zeitfolge mit retrospektiven machten mir das lesen schwer. kurz, ich habe nicht in das buch hineingefunden.

15.12.2017

john von düffel: zeit des verschwindens

zwei von einander unabhängige geschichten laufen parallel durch das buch.
in der einen ist philipp beruflich viel unterwegs. die beziehung zu seiner frau ist eigentlich gelaufen, aber zum geburtstag seines kleinen sohnes fährt er nach hause. er ist unsicher und immer wieder will er umkehren.
in der anderen handlung stürzt christina wegen des todes ihrer schwester in eine tiefe krise. sie kann schlecht darüber reden und ihr freund hendrik ist ihr kaum eine hilfe.
in diesem sensiblen und zeitlosen buch, erfahren wir von den gedanken und nöten dieser beiden letztlich hilflosen menschen, die am schluss unerwartet aufeinander treffen. diese gefühlvolle und trotzdem sachliche geschichte lässt einen sehr berührt zurück.

07.12.2017

édouard louis: im herzen der gewalt

auf dem heimweg von einer weihnachtsfeier wird édouard von einem jungen mann angesprochen und schnell ist klar, dass es eine spontane gemeinsame nacht werden wird: édouard nimmt reda mit zu sich nach hause. was zärtlich und liebevoll beginnt, endet mit der bewaffneten drohung redas, er werde ihn umbringen. édouard kommt mit einer tiefen seelischen verwundung davon, die er in diesem buch zu verarbeiten sucht.
dieses einzigartige werk ist nicht ganz einfach zu lesen und erfordert nicht nur wegen der vielen perspektivenwechsel grosse aufmerksamkeit. die exakt beschriebenen ereignisse sind streckenweise schwer auszuhalten. sein eigenes leiden, die veränderung seiner wahrnehmung und das erstaunen darüber, geben einen tiefen einblick in seine wechselvollen gefühle. treffend beschreibt er das oft hilflose und ignorante verhalten der professionellen helfer und die harte probe, auf die die persönlichen freundschaften gestellt werden. vor allem aber seine eigene ambivalenz dem täter gegenüber macht diesen autobiografischen roman extrem stimmig und hinterlässt eine tiefe betroffenheit.

02.12.2017

eberhard rathgeb: kein paar wie wir

ruth und viktoria emigrieren vor dem zweiten weltkrieg mit ihren eltern nach argentinien. ihr tyrannischer vater und ihre depressive mutter machen den beiden die jugend schwer. zuerst entscheidet sich ruth zur flucht und zieht nach new york, viktoria folgt ihr zwei jahre später nach. dort führen sie ein freies und unbeschwertes leben. als ihre eltern pflegebedürftig werden, kehren sie zu ihnen zurück und bleiben dort. im hohen alter blicken sie zurück auf ihr gemeinsames leben und ihre symbiotische beziehung.
das zentrale thema ist das finden eines gleichgewichtes zwischen dem verantwortungsgefühl der eigenen familie gegenüber und der realisierung der eigenen träume. diese geschichte, die exemplarisch für viele schicksale von töchtern steht, beschreibt nicht nur den weg zum selbstbestimmten leben der zwei, sondern zeichnet auch die ganz besondere beziehung zwischen den beiden frauen.

24.11.2017

andrea de carlo: ein fast perfektes wunder

wie zwei seelenhälften, die nach langer zeit zusammenfinden, wie zwei zwillinge, die nach langer trennung sich treffen, so sind die ersten zufälligen begegnungen von milena und nick. er, erfolgreicher lead-sänger einer weltberühmten band ist reich und steht unmittelbar vor der hochzeit mit seiner dritten frau. milena, kreative inhaberin einer kleinen glacé-manufaktur hat in einigen tagen einen termin zur künstlichen befruchtung, um mit ihrer freundin ein kind zu haben. ihre begegnungen stürzen beide in grosse zweifel und stellen ihre jetzigen sehr unterschiedlichen lebenssituationen grundsätzlich in frage. aber ganz langsam und nicht ohne zweifel bewegen sich nick und milena unweigerlich aufeinander zu.
mit einer dynamik und einer unheimlichen intensität werden die gefühle und empfindungen der beiden beschrieben. beides – die beinahe bis ans unerträgliche karikierte entourage von nick und die dynamik der beziehung der beiden frauen – entwickeln beim lesen einen sog, dem man sich nicht entziehen kann. und trotz allem ist es keine aschenbrödel-prinz-geschichte.

20.11.2017

philippe grimbert: ein geheimnis

der autor wächst als einzelkind seiner sportlichen eltern auf. schwächlich und geplagt von selbstzweifeln kann er die erwartungen seines vaters nicht erfüllen, leidet darunter und zieht sich in sich zurück. als jugendlicher erfährt er von louise, einer verwandten, die geschichte seiner familie, in der der vater seine jüdische herkunft zu tilgen versucht hat. die erste frau seines vaters und sein älterer halbbruder sind deportiert und in auschwitz umgebracht worden. erst später, nach seinem schulabschluss, entdeckt der erzähler in den archiven mehr und konfrontiert seinen vater damit.
trotz des grossen emotionalen potenzials der eigenen betroffenheit erzählt der autor mit einer gewissen sachlichen distanz, was dem buch eine enorme stärke gibt und tief berührt.

17.11.2017

atiq rahimi: verflucht sei dostojewski

in der zeit nach der sowjetischen besetzung afghanistans erschlägt der junge stundent rassul die alte wucherin nana alia. kaum ist es geschehen, kommt ihm roskolnikow aus dostojewskis roman «verbrechen und strafe» in den sinn und dieser geschichte entlang verlaufen auch rassuls nächste tage. die leiche verschwindet, niemand klagt ihn an, er bleibt allein mit seinem schwer belasteten gewissen. verzweifelt sucht er einen richter, der ihn zur rechenschaft zieht.
dieser philosophische roman über einen jungen mann, der in einer dauernden ausnahmesituation lebt, dies in einem von kriegswirren gezeichneten land, in dem die gesellschaftlichen werte dauernd in frage gestellt werden, ist ein dichtes werk. trotz der parallelen zu dostojewskis roman ist hier eine eigenständige und bewegende geschichte entstanden.

13.11.2017

hugo claus: der kummer von flandern

louis, der sohn der weitverzweigten familie seynaeve, wächst vor und während des zweiten weltkrieges in flandern auf. unter den flamen gibt es viele sympathisanten der deutschen, die bei deren einmarsch sich auf der siegerseite sehen. gegen ende des krieges wendet sich jedoch das blatt. die politischen meinungen gehen quer durch louis' familie und sind grund für misstrauen und viele diskussionen. louis beobachtet und kommentiert die geschehnisse in seinem nahen familiären umfeld und in seiner heimatstadt walle als kind und jugendlicher.
der erste teil des buches widmet sich den vielen familienmitgliedern und deren leben und schicksale. im zweiten teil erlebt louis das erwachsenwerden vor dem hintergrund der ereignisse in belgien und die nachkriegszeit.
teilweise spannend, teilweise langfädig ist das buch nicht einfach zu lesen und erfordert einiges an geduld. die unzähligen verwandten und weiteren plötzlich auftretenden personen machen es nicht einfach den ueberblick zu behalten. die collageartig angelegte geschichte kommt in einer komplizierten und schwierig zu lesenden sprache daher.
am ende weiss man aber einiges mehr über die geschichte belgiens, insbesondere flanderns, und beginnt die heutigen probleme zwischen flamen und wallonen besser zu verstehen.

05.11.2017

finn-ole heinrich: räuberhände

janik kommt aus einem geordneten und wohlhabenden elternhaus, bei samuel zuhause ist es eher desolat. seine alleinerziehende mutter ist alkoholikerin und lebt halbwegs auf der strasse. janik und samuel verbindet eine innige und tiefe jungenfreundschaft. sie teilen alles und haben keine geheimnisse voreinander. ein gravierendes erlebnis wirft einen schatten auf ihre freundschaft und nichts ist mehr so unbeschwert, wie es war. später reisen die beiden auf der suche nach samuels vater nach istanbul, wo sie eine schwierige zeit erwartet.
ein erfrischender und gleichzeitig ernsthafter roman, der emotionen und befindlichkeiten in dieser freundschaft treffend beschreibt. auf der suche nach sich selbst, versuchen sich die jungs zu befreien vom einfluss der erwachsenen und finden sich doch immer wieder in einer abhängigkeit. spannend ist das wechselnde machtgefälle zwischen den beiden und wie schuldgefühle die kommunikation hemmen.

03.11.2017

joachim b. schmidt: moosflüstern

anna lieber wird mit 300 anderen frauen und männern nach dem krieg angeworben nach island auszuwandern, um dort auf einem bauernhof zu arbeiten. sie verlässt ihren mann und ihren erst vor kurzem geborenen sohn heinrich. vierzig jahre später stirbt sie und erst jetzt erfährt heinrich von seinem vater, wer seine leibliche mutter war. er reist nach island auf der suche nach dem grab und dem grund, weshalb seine mutter ihn verlassen hat. und island lässt ihn nicht mehr los. parallel dazu erzählt anna zurückblickend ihre ganze geschichte seit ihrer ankunft in island.
moosflüstern ist eine wunderbare und fantasievoll erzählte geschichte, die letztlich den grossen emotionalen unterschied zwischen heinrichs vater und mutter erklärt und damit den grund von annas weggang aufzeigt. dazu kommen die einzigartigen beschreibungen von landschaft und wetter, von kargem und archaischem leben, die beim lesen einen unausweichlichen bann ausüben. bereits in der mitte des buches hofft man, die geschichte und damit der lesegenuss möge nie zu ende gehen.

30.10.2017

wilhelm kuehs: dianas liste

während des zweiten weltkrieges werden auch aus kroatien viele menschen als zwangsarbeitende nach deutschland verschickt. die zurückgebliebenen kinder werden in lager verbracht, in denen unvorstellbare zustände herrschen. mehr zufällig erfährt diana budisavljević davon und beginnt mutig und beharrlich, sich für diese kinder einzusetzen – zunächst beinahe alleine, später mit immer mehr helferinnen und helfern. so gelingt es ihr einen teil der not zu lindern und viele der kinder vor dem sicheren tod zu retten. ihr grosser verdienst ist jedoch auch das registrieren all der kinder, damit sie später wieder mit ihren eltern zusammengeführt werden können.
dieser biografische roman beschreibt das leben und handeln einer wohlhabenden und mutigen frau für die es keine religiösen, ethnischen oder weltanschaulichen grenzen gibt. die schonungslose beschreibung der gräueltaten während dieser zeit ist beinahe unerträglich harte kost und nur für leserinnen und leser mit guten nerven.
zudem öffnet der bericht über die kriegshandlungen im damaligen kroatien eine weitere optik auf den jugoslawienkrieg der 1990er jahre.

23.10.2017

lukas hartmann: auf beiden seiten

marios laufbahn als journalist ist in einer zunehmenden abwärtsspirale und auch die ehe mit bettina ist in die brüche gegangen. bettinas vater war seinerzeit der deutschlehrer marios und er dessen lieblingsschüler. während bettinas vater aber auch mitglied einer illegalen geheimorganisation war, die das land im falle eines angriffes aus dem osten retten wollte, sympathisierte mario mit der studentenbewegung von 1968. diese zwei unvereinbaren positionen treten in diesem roman in einer langsamen retrospektive immer mehr zu tage und zeichnen das bild einer möglichen familiengeschichte.
ein sehr politisches buch, das trotz der vielen zusätzlichen protagonistinnen und protagonisten gut zu verstehen und nachzuvollziehen ist. detailliert gezeichnete figuren und psychologisch eindringlich geschilderte handlungen lassen die zeit des kalten krieges auferstehen und zeigen, wie private beziehungen davon dominiert worden sind.

17.10.2017

colm tóibín: brooklyn

eilis steht immer etwas im schatten ihrer erfolgreichen schwester rose. im irland der 1950er jahre ist es schwierig arbeit zu finden. so nutzt eilis die gelegenheit nach new york auszuwandern um dort zu arbeiten. heimweh und einsamkeit plagen sie in der fremde, bis sie tony kennen und lieben lernt. doch plötzlich wird sie wegen eines tragischen ereignisses in ihrer familie nach hause zurückgerufen. in der heimatlich-vertrauten umgebung trifft sie wieder auf jim, der um sie wirbt. eine schwierige entscheidung, zwischen zwei welten und zwei männern steht an.
eine liebevoll und zart geschriebene liebesgeschichte, die einfühlsam die begegnungen der jungen leute unterschiedlicher sozialer herkunft beschreibt. in der verklemmtheit und prüderie jener zeit, findet die junge eilis mutig – wenn auch manchmal nicht ohne selbstzweifel – ihren weg und wird zur selbstbestimmten frau. manchmal läuft die geschichte etwas sehr rund und wird auch zum «stoff aus dem die träume sind». da passt es nur, dass der roman zur vorlage eines hollywood-films werden konnte.

07.10.2017

silvio huonder: dicht am wasser

in einem brandenburgischen dorf ausserhalb berlins leben neben den einheimischen auch etliche zugezogene, junge familien, die sich alle untereinander kennen. das beschauliche leben der zuzüger nimmt jäh ein ende, als der neunjährige nelson nach dem klavierunterricht nicht nach hause kommt. während er sich versteckt, damit er das jährliche vorspiel in der dorfkirche nicht bestehen muss, werden die beziehungen zwischen den menschen auf einer harte probe gestellt. die bisherige harmonie erweist sich als wenig tragfähig.
die ueberforderung des kindes, die beziehungen der zugezogenen familien untereinander und zu den ursprünglichen, noch von der ddr geprägten einwohner, werden zu zentralen elementen der geschichte. an diesem einen tag wird vieles in frage gestellt, was bisher selbstverständlich war. das buch – sowohl eine psychologische studie als auch ein krimi – ist tiefgründig, spannend und leicht zu lesen, auch wenn die vorstadtidylle manchmal etwas plakativ daherkommt.

04.10.2017

flurin jecker: lanz

in der projektwoche seiner schule entscheidet sich lanz für den kurs «blog schreiben», nicht weil es ihn wirklich interessiert, sondern weil er gehört hat, dass sich seine mitschülerin lynn auch dort angemeldet hat. die enttäuschung ist gross am ersten tag: sie ist nicht da und sein meist gehasster lehrer unterrichtet. schon die suche nach titel und inhalt eines blogs gestaltet sich schwierig, bis er sich entscheidet über die projektwoche selbst zu schreiben. immer mehr wird es aber ein schreiben über seine persönlichen verhältnisse und seine gefühlslage.
unterhaltsam aber manchmal auch nachdenklich und voller zweifel wird man hier durch eine woche des lebens eines jugendlichen geführt. die erfrischende, jugendliche sprache besticht und es finden sich immer wieder überraschende wendungen im ablauf der geschichte.

28.09.2017

saleem haddad: guapa

der frühe ruf des muezzins bedeutet jeweils das ende der gemeinsamen liebesnacht, taymour verlässt rasa bevor er gesehen wird. doch als die beiden jungen männer eines nachts entdeckt werden, ist nichts mehr wie vorher. rasa hat eine unaussprechliche schande über die familie gebracht. während der nächsten vierundzwanzig stunden begleiten wir rasa, dessen leben eine radikale wendung nimmt. vor dem hintergrund des arabischen frühlings mit demonstrationen und gewalt, blickt rasa zurück auf sein bisheriges leben und muss sich einer ungewissen zukunft stellen.
die präzisen bilder und bestechend akkuraten, teilweise karikierenden beschreibungen des lebens in dieser nahost-grossstadt lassen einen schnell in diese welt eintauchen. in diesem roman nur eine liebesgeschichte zu sehen, greift zu kurz, zu gross ist die politische aussage.
schon in der mitte fürchtet man, diese ergreifende und intensive geschichte zu schnell zu ende gelesen zu haben. und wenn auf seiner rückseite steht, dass dieses buch «einem die letzte träne entreisst» könnte es nicht zutreffender auf den punkt gebracht werden.

21.09.2017

christoph hein: landnahme

als heimatvertriebene aus schlesien haben sich die eltern von bernhard haber in einer kleinstadt im osten deutschlands niedergelassen. sie sind unwillkommene gäste und der verschlossene und wortkarge bernhard muss bereits in der schule die ausgrenzung spüren. er weiss sich jedoch zu behaupten, bringt es später – nicht immer auf ganz legalen wegen – zu einem beachtlichen wohlstand. doch er bleibt in den augen vieler immer ein fremder und gehört nicht hierher. immer wieder hat er aber auch glück, menschen kennenzulernen, die zu ihm stehen. das ende der ddr ändert vieles und er muss sich erneut zurechtfinden.
seine lebensgeschichte erfahren wir aus fünf berichten von menschen, die auf irgend eine weise seine weggefährten gewesen sind. ein schönes, spannendes und leicht zu lesendes buch, das sich mit dem phänomen der fremdenfeindlichkeit auf eine ganz besondere art auseinandersetzt.

12.09.2017

tim krohn: nachts in vals

eine sammlung kurzer erzählungen, die eines gemeinsam haben: alle handeln von menschen, die nach vals in die therme fahren. unterschiedliche erwartungen und realitäten, die sich nicht immer decken, treffen aufeinander. für alle gilt das gleiche, in ihrem leben verändert sich nach diesem aufenthalt etwas.
nicht nur, dass diese geschichten auch die sehnsucht nach diesem ort wieder wecken, sie sind schön zu lesen und einfach einzigartig. und wer schon einmal in vals war, erkennt die stimmung gleich wieder.

10.09.2017

imbolo mbue: das geträumte land

eingewandert aus kamerun fährt jende jonga taxi in new york, bis er nicht ganz ohne hilfe eines cousins der persönliche chauffeur von mr. edwards, einem banker bei lehman brothers, wird. für ihn und seine familie bedeutet das sicherheit und einen gewissen wohlstand. doch mit der finanzkrise und dem untergang der firma seines chefs ändert sich alles. beide familien, so unterschiedlich ihre leben sind, müssen entscheide für die weitere zukunft fällen.
dieser erste roman der autorin öffnet den blick auf das leben in new york, jenseits jeglicher touristischer optik und berichtet von den schwierigkeiten, als einwanderer nicht nur fuss zu fassen, sondern auch seinen aufenthalt zu legalisieren. ihre art zu erzählen vermittelt nicht nur gute unterhaltung, sondern auch erheblichen tiefgang.

07.09.2017

pierre lemaitre: wir sehen uns dort oben

am ende des ersten weltkriegs werden die soldaten der französischen armee demobilisiert. der körperlich durch eine gesichtsverletzung stark entstellte édouard und der psychisch schwer traumatisierte albert sind untrennbar miteinander verbunden; édouard hat albert im letzten moment das leben gerettet. sie müssen erleben, wie der einzelne soldat, der für das vaterland gekämpft hat, wenig gilt und die alten eliten unehrlich versuchen, den ruhm für sich zu beanspruchen. mit einer grossangelegten betrugsaffäre bringen sie nicht nur ihren ehemaligen offizier – der sie in den letzten kriegswochen unnötigen gefahren ausgesetzt hatte – zu fall.
diese im wahrsten sinne des wortes phantastische geschichte liest sich wie ein krimi. tief können wir eintauchen in das abenteuerliche leben dieser zwei jungen männer, erfahren aber auch von der not des einen vaters, der seinen sohn nie verstehen wollte. gerne hätte ich noch weitergelesen. so bin ich gerade etwas enttäuscht vom unerwarteten und schnellen ende.

30.08.2017

cornelia vinzens:
nus savevan da nuot auter / etwas anderes kannten wir nicht

alte menschen aus dem bündner oberland erzählen aus ihrem leben und zeichnen damit ein bild aus einer zeit, die noch keine hundert jahre zurück liegt. in den grossen familien mit oft mehr als zehn kindern mussten damals alle mitarbeiten um das auskommen zu sichern. für schule und ausbildung reichte es oft nur knapp und nicht für alle. die katholische kirche hatte eine unvorstellbare macht und in den dörfern waren die stellung der einzelnen familien klar. frauen hatten kaum rechte und unterlagen ungeschriebenen bekleidungsvorschriften. geheiratet wurde nur katholisch, oft innerhalb des dorfes oder mit jemand aus der näheren umgebung. oft wusste man in den langen wintern nicht, ob die vorräte reichten und hatte schulden im dorfladen. während des zweiten weltkrieges lag die ganze last auf den schultern der frauen. reisen gab es nicht, oft kam man kaum einmal ins nachbardorf. und trotzdem waren die menschen mit ihrem leben zufrieden. cornelia vinzens hat erstaunliche und berührende portraits von menschen gezeichnet. diese erzählungen werden zu einem stück erzählter und schriftlich festgehaltener geschichte, die einen grossen schatz darstellen. das schön gestaltete, zweisprachige buch lässt die erinnerung an eine zeit auferstehen, die droht vergessen zu gehen. persunas attempadas dalla surselva raquentan da lur veta e dattan in maletg dad in temps avon meins che tschien onns. en grondas familias, savens cun pli che diesch affons, stuevan tuts gidar a segirar l'existenza. per la scola e l'educaziun tunscheva ei strusch e meinsvart buca per tuts. la baselgia catolica veva ina pussonza inimaginabla ed els vitgs fuva la situaziun sociala da mintga famiglia enconuschenta. dunnas vevan bunamein negins dretgs e stuevan sevestgir suenter reglas socialas. maridau vegneva mo denter catolics, savens enzatgi dil vitg ni forsa d'ina vischnaunca vischinonta. duront ils liungs unviarns savev'ins darar, sche las provisiuns tonschien. savens stuev’ins far deivets ella stizun. duront la secund’ uiara mundiala purtavan las dunnas gl'entir buordi. viadis fagev'ins buc, ins vegneva strusch ina gada el proxim vitg. malgrad tut eran ils castgauns cuntents cun lur veta. cornelia vinzens presenta purtrets marviglius e commuentonds. quels raquents ein per in ton dai vinavon a bucca ed era a scret. en tuttacass ein quei historias che representan in grond scazi. il cudisch biling, fatgs cun gronda premura, salva las regurdientschas d'in temps, ch'ei periclitaus dad ir a piarder.

25.08.2017

luís llach: die frauen von la principal

seit drei generationen wird das weingut la principal von jeweils einer frau – grossmutter, mutter, tochter – geleitet. eigenständig und selbstbewusst führen sie nicht nur die geschäfte und sorgen sich um ihre angestellten, sondern ebenso folgen sie ihren herzen und wählen ohne rücksicht auf ihren sozialen stand ihre männer aus.
während der zeit des spanischen bürgerkrieges findet man die leiche eines ehemaligen angestellten vor dem haus. als die damals eingestellten ermittlungen wieder aufgenommen werden, kommt viel ueberraschendes und unerwartetes zutage.
vor dem hintergrund spaniens der 1940er jahre, mit der noch jungen diktatur francos, dem einfluss der katholischen kirche und mit den forderungen katalanischer unabhängigkeit konfrontiert, erleben die wohlhabenden und einflussreichen frauen, wie sehr geschicktes verhandeln und die eigene autorität den lauf der dinge beeinflussen kann.
eine spannende und einzigartige geschichte, die sich zwischen familiensaga und kriminalroman bewegt und die mit hervorragend gezeichneten figuren aufwartet.

20.08.2017

john von düffel: schwimmen

es ist beinahe ein ultimatives essay für schwimmerinnen und schwimmer. die begegnung mit dem anderen element, dem wasser, wird hier mit einer leichten, schönen und treffenden sprache beschrieben. schwimmen ist nicht nur sport, es ist auch meditation, stille und emotion. so vielfältig das erleben des schwimmens sein kann, so vielfältig sind die einzelnen kapitel dieses buches.
ein kleines buch, das es in sich hat und auch nichtschwimmenden und wasserscheuen die lust auf wasser wecken kann.

18.08.2017

graham swift: ein festtag

jane, ein dienstmädchen, und paul, der sohn der begüterten nachbarn haben schon seit einiger zeit ein verhältnis. sie treffen sich an verschwiegenen und geheimen orten. paul wird aber in zwei wochen standesgemäss eine andere frau heiraten. doch zuvor gibt es diesen sonntag, an dem niemand zuhause ist. jane und paul lieben sich zum ersten mal in seinem zimmer. der abend kommt und der tag mündet in eine katastrophe. lange später blickt jane als alte frau und bekannte schriftstellerin zurück auf diesen einen tag, der ihr leben veränderte.
ein beinahe etwas frivoler roman, der die gesellschaftlichen unterschiede und die damalige moral treffend beschreibt. tiefgründig und trotzdem leicht zu lesen ist er ein juwel.

14.08.2017

thomas meyer: trennt euch!

«es passt oder es passt nicht» — dies ist die radikale these dieses essays, und da es in beziehungen meistens nicht passt und auch nie passen wird, wird uns geraten uns zu trennen. ein radikales und konsequentes essay, dem eigentlich nichts entgegenzustellen ist. immer wenn man beim lesen wieder ein «aber...» denkt, folgt gleich die entkräftende passage zum thema. einzig die gegenthese, ob es denn auf immer passt, wenn es passt, wird nicht behandelt.
ein sehr lesenswertes, sprachlich genial geschriebenes buch, das aber den ganzen bisherigen lebensentwurf und die ganze momentane beziehung in frage stellen oder in brüche gehen lassen kann und das somit auch die definitive befreiung bringen kann. den entscheid überlässt es aber immer dem lesenden. und das passt!

11.08.2017

alissa ganijewa: eine liebe im kaukasus

als sich marat und patja zufällig treffen, verlieben sie sich gleich ineinander. aber so einfach ist das nicht. beide sind im sommer aus moskau in ihre heimat dagestan zurückgekommen. beide erwartet das gleiche: sie sollen von ihren eltern verheiratet werden. marats mutter präsentiert ihm eine liste von anwärterinnen, patja wird bedrängt von timur, mit dem sie ein halbes jahr auf facebook gelegentlich chattete, der sich aber in wirklichkeit als konservativer und traditioneller junger mann herausstellt. schliesslich aber können sich die beiden durchsetzen und die hochzeit ist anberaumt. der hochzeitstag endet überraschend, doch beim genaueren hinsehen ist das alles keine ueberraschung.
zwei jungen menschen, die sich ihre liebe gegen althergebrachte traditionen und ueberlieferungen erkämpfen müssen. mit einem genauen auge und grossem wissen beschreibt die autorin vor dem hintergrund dieser ursprünglich traditionellen gesellschaft, in der nach dem ende der sowjetunion die alten werte wieder erstarken, diese spannende und emotionale geschichte zweier liebenden. allein durch die genaue beschreibung gewährt sie uns einen sozialkritischen einblick in die konflikte zwischen archaischen strukturen und dem einfluss der moderne.

07.08.2017

marilynne robinson: lila

doll, eine wanderarbeiterin, nimmt lila als findelkind mit und zieht sie gross. ein hartes leben in armut ist ihr alltag. erwachsen schlägt sich lila alleine durchs leben und lernt einen älteren prediger kennen. sie zieht zu ihm und zwischen ihnen entsteht eine liebesbeziehung. sie heiraten und lila wird schwanger.
die ganze geschichte ist ziemlich schwierig zu lesen. handlungsteile, die kaum miteinander zu tun haben, eingefügte bibelzitate, die nicht immer mit dem geschehen einhergehen und permanente zeitsprünge erfordern eine grosse aufmerksamkeit. es tauchen figuren auf, deren rolle sich nicht erschliessen lässt, weil ihr tun entweder keinen bezug zur geschichte hat oder keinen abschluss findet. die ungewöhnliche, manchmal beinahe abenteuerliche sprache stört den lesefluss.
bis zum ende wurde mir nicht klar, welche botschaft der autorin mit diesem roman wichtig war.

14.07.2017

vladimir nabokov: pnin

professor pnin, ein in die vereinigten staaten ausgewanderter russe, beobachtet seine neuen landsleute und wundert sich immer wieder über ihr verhalten und ihre handlungsweisen, über ihre gespräche und ihre werthaltungen. in diesem humoristischen roman können wir seinen betrachtungen folgen. er selbst kann sich nie ganz in dieses neue leben hineinfinden, bleibt sich selbst aber treu, so dass die anderen immer wieder in frage gestellt werden.
eine köstlich formulierte migrationsgeschichte, die erheiternd zu lesen ist.

05.07.2017

hisham matar: die rückkehr

der untertitel «auf der suche nach meinem verlorenen vater» fasst zusammen, worum es geht. der vater des autors war nach der machtübernahme gadaffis ein wichtiger oppositioneller. im exil in kairo lebend wurde er entführt und verschwand in den libyschen gefängnissen. mehr als zwanzig jahre später, nach dem tod gadaffis werden viele gefangene befreit. hishams vater ist nicht darunter. die jahrelange suche nach dem verbleib und die frage, ob er noch am leben ist, ist nicht nur wichtiger inhalt des lebens des autors, sondern auch dieses buches.
trotz der schrecklichen ereignisse, der gewalt und ungewissheit schimmert immer wieder viel menschlichkeit durch. ein buch, das einen sehr persönlichen einblick in das leben und die oft unbekannten ereignisse in libyen gibt.

04.07.2017

julian barnes: der lärm der zeit

dieses biografisch angelegte buch beginnt mit dem begabten, lebenslustigen und aufmüpfigen jungen dmitri schostakowitsch, der ein unabhängiges leben führen will, für die gleichberechtigung von frau und mann und für freie liebe einsteht. früh hat er schon erfolg mit seiner musik, wird anerkannt und gefeiert. die unbeschwertheit findet aber bald ein ende: unter stalins herrschaft lebt sich besser unauffällig und im hintergrund. als der diktator ohne kommentar während der aufführung einer oper schostakowitschs die loge verlässt, verheisst dies nichts gutes. seither werden seine werke verboten und nicht mehr aufgeführt. nach stalins tod wendet sich das blatt und er wird rehabilitiert und sogar aufgefordert oder gar gezwungen, der partei beizutreten. wie schostakowitsch, um arbeiten zu können, sich gegen seinen willen letztlich doch der macht beugt, seine gedanken und gewissensbisse dazu, wird meisterhaft beschrieben.
keine chronologische biografie, sondern ein buch, das viele verschiedene blicke auf das leben und die gedanken dieses berühmten komponisten freigibt. trotz der schwere des themas leicht und spannend zu lesen.

29.06.2017

roman graf: niedergang

andré und louise sind ein paar, das unterschiedlicher nicht sein könnte. ihre gemeinsame, lange vorbereitete bergwanderung beginnt schon unter ungünstigen vorzeichen. das wetter ist schlecht. andré lässt sich davon nicht beeindrucken, während louise bereits zögert. immer mehr entfernen sie sich voneinander, bis sie sich unterwegs trennen. während andré den gipfel um jeden preis erklimmen will, gibt louise vor dem ziel auf.
schon bald zu beginn ist man mit diesen kleinen streitereien, uneinigkeiten und missverständnissen konfrontiert, die exakt und meisterhaft beschrieben sind. schade, dass dies alles etwas einseitig ist: man erfährt viel über die gedankenwelt und das handeln des mannes, die frau bleibt oft in der objektrolle und kommt manchmal etwas schlecht weg, auch wenn sich ihr aufgeben zum schluss als richtig erweist.

27.06.2017

siegfried lenz: schweigeminute

von der liebesbeziehung zwischen christian und seiner lehrerin stella weiss niemand, einzig seine mutter scheint etwas zu ahnen. das versteckte glück dauert nur einen sommer: stella verunglückt und stirbt. während der trauerfeier erinnert sich christian an diese kurze zeit, die für ihn so wichtig war und sein leben verändert hat.
diese liebe – sie hat alles zu einem skandal – wird so rein und schön beschrieben, keinen moment kitschig und wenn auch traurig, so doch mit einem schönen und emotional stimmigen ende.

18.06.2017

per olov enquist: lewis reise

die geschichte zweier führer der schwedischen pfingstbewegung ist eine komplizierte und wechselvolle. lewi, der eigentliche begründer dieser freikirche, ist ein strenger und beinahe fundamentalistisch gläubiger mann. sven, der später dazu stösst, ist geistreicher, intellektueller und wesentlich liberaler. trotz dieses gegensatzes finden sich die beiden und befreunden sich eng. sie führen lange zeit zusammen die gemeinde, deren wachstum sie zu einem politisch und gesellschaftlich wichtigen faktor im land macht. doch irgendwann zerbricht ihre freundschaft. sven lehnt sich gegen die absolutheit von lewi auf.
ein roman, den zu lesen mir ziemlich viel konzentration abfordert. bis zum schluss bleibt es ein rätsel, was die beziehung der beiden männer wirklich ausmacht. aber der autor bringt uns das denken und die aus der heutigen sicht kaum noch zu verstehenden moralvorstellungen dieser menschen nahe. historisch wie psychologisch interessant, kann der roman die spannung aber nicht durchgehend halten.

04.06.2017

robert seethaler: die weiteren aussichten

die geschichte von herbert, dem etwas ungelenken, zu gross gewachsenen epileptiker, und der übergewichtigen, kräftigen hilde, beginnt dramatisch, verläuft hektisch und endet fulminant, mit einem ausgang der etwas hoffnung lässt. beide sind aussenseiter im dorf, finden aber ihre liebe und gehen trotz einiger unheilvollen begegnungen ihren weg.
ein schönes und liebevolles buch, das vor allem von seinen figuren lebt. die handlung ist manchmal etwas utopisch und unrealistisch, so dass man immer wieder mal staunen kann.

27.05.2017

pascal mercier: perlmanns schweigen

bei der leitung einer forschungsgruppe in einem hotel an der ligurischen küste ist philipp perlmann – als sprachwissenschaftler selbst in einer schaffenskrise – mit hohen erwartungen konfrontiert. er hat den eindruck, diese nicht erfüllen zu können, ist schlecht vorbereitet und versucht dies zu verstecken. dabei kommt er auf eine abenteuerliche idee, die ihn beinahe einen seiner kollegen ermorden lässt.
die bildhafte und treffende beschreibung der verzweiflung eines menschen, der bisher erfolgreich war, dominiert den roman, der trotz seines vielschichtigen aufbaus und der komplizierten lügengebilde leicht zu lesen ist. das psychologische bildnis eines einsamen menschen entwickelt sich zu einem spannenden und raffinierten krimi. gegen ende verliert er etwas von seiner spannung, findet aber ein unerwartet schönes ende.

07.05.2017

steven uhly: glückskind

als hans – ein sozialhilfeempfänger – seinen kehrichtsack entsorgen will, findet er einen säugling im abfallcontainer. er nimmt das mädchen zu sich und will fortan für sein wohlbefinden besorgt sein. das leben, dass ihm in den letzten jahren so sinnlos vorkam, bekommt wieder einen inhalt, es lohnt sich wieder zu leben. aber wer hat das kind ausgesetzt? er verbirgt ein kind, darf er das? rasch kommt er an seine grenzen, er hat aber nachbarn, die ihn unterstützen und letztlich findet diese schöne geschichte mit dem sozialkritischen ansatz ein schwieriges aber gutes ende.
die manchmal etwas utopische handlung hat spannung und emotion. sprachlich speziell sind die vielen kurzen sätze, die einen beinahe zu einem rhythmischen lesen führen.

01.05.2017

jonathan littell: die wohlgesinnten

maximillian aue, sohn einer französin und eines deutschen, der sich früh aus ueberzeugung den nationalsozialisten anschliesst, ist die zentrale figur, mit dessen fiktiver lebensgeschichte wir durch den ganzen roman und damit auch durch den ganzen zweiten weltkrieg geführt werden. als ss-offizier ist er unterwegs im kaukasus und in stalingrad im einsatz, später in berlin. aus dem überzeugten nationalsozialisten wird zunehmend ein kritischer, aber im system gefangener beobachter dieses unfassbaren geschehens. immer wieder muss er sich mit gegebenheiten arrangieren um selbst zu überleben. das alles verändert nicht nur seine wahrnehmung und haltung, sondern bringt ihn zu handlungen, zu denen er zuvor niemals fähig gewesen wäre.
ein buch über die dunkle zeit des dritten reiches, einmal – und das macht es ganz besonders spannend – nicht aus der perspektive eines opfers sondern aus der eines täters, eines vertreters des systems. langsam entwickelt er aber eine kritische haltung, weil er zusehen muss, wie persönliche interessen und karrieresucht viele seiner genossen leitet. deutlich wird aber auch, wie die konfrontation mit der unmenschlichkeit und dem grauen ihn selbst als mensch verändert, wie er seine ethischen und moralischen grundsätze anpasst um zu überleben. als die niederlage bereits greifbar ist und die rote armee berlin erreicht hat, lässt er sich zu unfassbaren handlungen verleiten, um zu entkommen.
ein spannender und grossartiger roman, den zu lesen nicht immer vergnügen bereitet und dessen grauen manchmal kaum auszuhalten ist.

26.04.2017

uwe timm: der freund und der fremde

die späten 1960er-jahre waren gezeichnet von unruhen und demonstrationen. in ganz europa ging die jugend auf die strasse. wer erinnert sich noch an benno ohnesorg, der 1969 auf einer anti-schah-demonstration in berlin von einem polizisten erschossen wurde?
der autor holte mit ihm in braunschweig das abitur nach und sie wurden in jener zeit freunde. literatur und schreiben verband sie. in dieser erzählung blickt uwe timm zurück auf die zeit der jugendfreundschaft in einer bewegten zeit des aufbruchs und der rebellion. aus eigenen erfahrungen und auf der basis von gesprächen mit weggefährtinnen und weggefährten ohnesorgs, zeichnet er das bild eines stillen, sensiblen und intelligenten jungen mannes, dessen leben ein gewaltsames und sinnloses ende fand.
ein schönes, beinahe poetisches buch, das einem menschen, der so früh den tod fand ein würdiges denkmal setzt.

18.04.2017

meinrad inglin: urwang

in einem ruhigen bergtal wird der bau eines wasserkraftwerkes mit einem stausee geplant. mehrere bauernhöfe mit ihrem land werden überschwemmt werden. neben den fortschrittsgläubigen, die in der industrialisierung eine zukunft sehen und sich mehr arbeitsplätze und reichtum erhoffen, gibt es die menschen, die ihre seit generationen bewirtschafteten höfe nicht verkaufen wollen, sich aber letztlich aus unterschiedlichen gründen dazu gezwungen sehen. bagger und baumaschinen fahren auf, ein uralter bergahorn muss der neuen strasse weichen und ein teil des immer gut gepflegten waldes wird gerodet. die talgemeinschaft, in der jeder jedem geholfen und beigestanden hat, wird auseinandergerissen.
mit sprachlicher wucht beschreibt meinrad inglin eine konservative gesellschaft mit einem ausgeprägten gegenseitigen verantwortungsbewusstsein. nicht nur der technische fortschritt bricht über die hier ansässigen menschen herein, auch ein teil der jugend, die in den städten arbeitet und wohnt, kommt mit neuen ideen und anderen wertehaltungen nach hause.
allein die einzigartig detaillierte und farbige beschreibung der natur im jahreszeitenwechsel und der einzelnen figuren lohnt schon die lektüre. vor diesem hintergrund einen solch eindringlichen sozial- und gesellschaftsroman zu finden, ist eine wahre lesefreude. die spannende handlung liess mich das buch kaum aus der hand legen.

15.04.2017

siegfried lenz: der ueberläufer

in den letzten kriegsmonaten kommt alfred proska zu einer kleinen einheit, die den auftrag hat eine bahnlinie zu bewachen. bereits umzingelt von partisanen und den kontakt zur eigenen truppe verloren, erteilt der korporal oft sinnlose befehle. für alfred stellt sich immer mehr die sinnfrage und als sich die gelegenheit gibt überzulaufen, nutzt er sie. nach kriegsende bleibt er im sozialistischen lager und arbeitet an einer dienststelle, wo immer wieder mitarbeiter verschwinden und durch neue ersetzt werden. bevor er selbst entfernt wird, flüchtet er in den westen.
ein tiefgründiges und ergreifendes buch, das einen ganz nah ins kriegsgeschehen führt und uns drastisch und konkret wie selten das dilemma von männern an der front nahe bringt. entsetzliche, unmenschliche situationen, die auszuhalten und zu überleben sind, momente in denen nur das töten eines anderen das eigenen ueberleben garantiert, werden so konkret, dass es beim lesen kaum auszuhalten ist. die schwäche des menschen, der immer wieder fremdbestimmt ist, reduziert sich aber auch später wieder einzig auf das eigene sein und leben.

04.04.2017

joël dicker: die geschichte der baltimores

marcus goldman kommt aus einer mittelstandsfamilie. er bewundert die familie seines onkels saul in baltimore. sie ist reich und hat ein harmonisches leben. alle ferien und viele wochenenden verbringt er da, zusammen mit hillel und woody, seinen cousins. sie sind engste freunde, teilen alles und haben keine geheimnisse voreinander. diese geordnete welt erhält aber erste risse und immer mehr zerbricht alles. jahre später ist marcus ein erfolgreicher schriftsteller geworden und macht sich daran, die geschichte der baltimores aufzuschreiben. bei seinen nachforschungen wird er von vielen wahrheiten und wirklichkeiten überrascht.
ein roman, der einen von der ersten zeile an fesselt. gleich zu beginn wird schon klar, dass eine katastrophe über die baltimores hereingebrochen war. langsam führt einen der autor an dieses ereignis, das man über hunderte von seiten mit spannung erwartet. einiges klärt sich langsam auf und man beginnt zu begreifen, wie wenig es braucht, dass menschen von ihrem bisherigen weg abkommen und dinge tun, die sie letztlich ins verderben führen. oft sind beobachtungen und falsche interpretationen der anlass zum beginn des niedergangs.
aber nicht nur spannend sondern auch ergreifend ist diese geschichte, denn den vom lesenden geliebten protagonisten geschieht schlimmstes. das buch ist mir tagelang nachgegangen.

28.03.2017

matthias nawrat: die vielen tode unseres opas jurek

die sich um den grossvater jurek drehende familiengeschichte zieht sich durch beinahe ein jahrhundert wechselvoller geschichte polens. vom ende des ersten weltkrieges bis zum untergang des sozialismus lebt jurek in polen. zunächst in warschau, nach dem zweiten weltkrieg und dem ueberleben in oświęcim kommt er nach opole in schlesien, wo er als direktor eines delikatessengeschäftes verschiedene erfahrungen macht. dies alles wird erzählt aus der optik eines enkels, der in westdeutschland gross geworden ist.
mit einer leichtigkeit und zeitweisen beinahe erstaunlichen naivität übersteht opa jurek alle widrigkeiten des lebens. die komplexen und schwierigen lebensverhältnisse im sozialismus weiss er immer wieder zu seinem vorteil zu nutzen. mit den wechselnden regierungen arrangiert er sich, ohne sich selbst untreu zu werden, was ihm aber gefängnis und lagerhaft einbringt.
erzählt ist die geschichte mit viel feinem humor und aus einer beinahe wohltuenden distanz.

14.03.2017

sándor márai: die schwester

sie treffen sich über weihnachten in einem abgelegenen hotel, schnee fällt und die verbindungen nach der aussenwelt sind unterbrochen. leute unterschiedlicher herkunft verbringen hier die feiertage. der berühmte pianist überlässt dem autor sein manuskript in dem er von seinem leben und seiner unerfüllten liebe schreibt.
es war für mich ein kompliziertes und schwieriges leseerlebnis. vor allem die schöne, klassische und ausgefeilte sprache hat mich motiviert, es bis zu ende zu lesen.

20.02.2017

wolfgang herrndorf: tschick

die sommerferien beginnen, die mutter wird zum alkoholentzug in eine klinik gebracht, der vater fährt mit seiner assistentin in die ferien und maik bleibt alleine in der villa zurück. da taucht andrej tschichatschow auf, sein russischer mitschüler aus den hochhäusern. tschick hat ein auto geklaut und animiert maik zu einer reise in richtung walachei, wo tschicks grossvater noch lebt. unterwegs läuft es nicht immer rund, aber maik erlebt vielleicht zum ersten mal etwas wie glück und freiheit, und die beiden jungen entwickeln eine freundschaft, die auch hält, als ihre unternehmungen scheitern und sie vor gericht landen.
es ist einfach eine wunderbare, unterhaltsame jugendgeschichte, deren manchmal etwas überzeichnete handlungen keineswegs stören, sondern dem roman etwas besonderes geben. in einer erfrischenden sprache dieser generation geschrieben und trotz des gesellschafts- und sozialkritischen anspruchs wird der roman nie belehrend oder elitär. ein buch, das immer wieder gelesen werden kann und nicht vergessen wird.

15.02.2017

paul beaten gronda: straus park

amos, sohn durch kunsthandel reich gewordener jüdischer eltern, dümpelt durchs leben. seine ehe scheitert, eine längere beziehung zu einer anderen frau ist schwierig. als julie, eine kunsthistorikerin aus london für ein interview vor ihm steht, weiss er, dass sie die grosse liebe sein wird. aber julie hat ihren freund adam in london und kehrt zu ihm zurück. amos reist nach london um julie wieder zu sehen, julie verlässt schliesslich adam und reist nach new york. beide beginnen zu ahnen, dass ihre vorfahren eine gemeinsame düstere geschichte haben, aber sie bringen dies nicht zur sprache. damals während des zweiten weltkrieges waren die grosseltern der beiden in amsterdam im untergrund.
das lesen ist nicht ganz einfach. von anfang an kämpft man sich durch viele ablenkende neben­handlungen und bleibt immer wieder in der unübersichtlichen dialogführung hängen. erst im zweiten teil, der die retrospektive in die kriegszeit bringt, nimmt die handlung fahrt auf und beginnt kongruent und spannend zu werden, während der dritte teil dann wieder eher im ungefähren bleibt. zudem tragen die oft unnötigen und ausführlich beschriebenen bettszenen zur handlung meistens nicht wirklich etwas bei. dadurch geht die wichtige botschaft – zu was menschen in extremsituationen fähig sind – leider etwas unter.
schade, denn eigentlich ist es eine fesselnde und interessante geschichte, die man nicht so schnell wieder findet.

11.02.2017

dario fo: meine ersten sieben jahre und ein paar dazu

die autobiografische geschichte entführt uns in die kindheit des autors. in den jahren vor dem zweiten weltkrieg, zur zeit des faschismus in italien, und schliesslich während des krieges ist das leben so nahe an der grenze zur schweiz von flüchtlings- und schmuggelgeschichten geprägt. in diesem umfeld wird der junge dario gross, erlebt trotz allem eine weitgehend unbeschwerte kindheit, in der er bereits seinen fähigkeiten und talenten nachgehen kann. mit dem aufstieg mussolinis und dem ausbruch des zweiten weltkrieges wird dies schwieriger und letztlich ist das ende des krieges auch eine persönliche befreiung.
er beschreibt diese zeit spannend aus der sicht eines kindes und mit viel liebe zu details, lässt keine zweifel offen über die politische haltung seiner eltern und berichtet ebenso über die schwierigkeit im umgang mit der faschistischen staatsmacht, wie über menschen die sich dem system widersetzen.

26.01.2017

anne cuneo: zaïda

zaïda wird als tochter reicher eltern in südengland geboren. ihre erziehung ist geprägt von konventionen, strenge und dem bestreben ihrer mutter, sie standesgemäss zu verheiraten. zaïda entscheidet sich früh, ein anderes leben zu führen und setzt sich über alle regeln weg. emanzipiert beginnt sie bereits im 19. jahrhundert ein medizinstudium, zu einer zeit, in der frauen nur an wenigen universitäten zugelassen werden. beinahe hundertjährig blickt sie zurück auf ihr bewegtes leben. dreimal ist sie witwe geworden und hat zwei weltkriege erlebt, in denen sie zwei ihrer drei söhne verloren hat.
in diesem ergreifenden und berührenden roman, lernen wir eine leidenschaftliche und sozial denkende frau kennen, die ihren reichtum immer wieder zugunsten sozial schwacher und armer mitmenschen einsetzt. ihre beinahe unerschöpfliche energie, ihre robuste gesundheit und ihre pragmatik, lässt sie bis ins hohe alter aktiv am leben teilnehmen ohne dabei abzustumpfen oder emotionslos zu werden.
ein buch, das nicht nur mut macht unruhigen zeiten entgegen zu sehen, sondern auch die angst vor dem alter etwas verlieren lässt.

22.01.2017

helen liebendörfer: des kaisers neue socken

basel im 15. jahrhundert, das konzil tagt über jahre, kommt in seinen entscheidungen nicht voran und seine legitimation wird immer wieder in frage gestellt. der bürgermeister und der rat machen sich sorgen, immer wieder werden diplomatische interventionen bei kaiser, papst und anderen herrschern und würdenträgern nötig. immer wieder wird henman offenburg, die zentrale figur in diesem roman damit beauftragt. oft ist er auf reisen, muss seine familie im schutz seines stiefvaters zurücklassen. seine frau anna ist mit all dem nicht immer einverstanden, weiss aber, ihre rolle als frau, ehefrau und mutter lässt nichts anderes zu.
das leben in dieser zeit war alles andere als ungefährlich und einfach. das haus offenburg mit seinen dienstboten steht im zentrum der geschichte, die die herrschaftsverhältnisse und abhängigkeiten eindrücklich darstellen. es gelingt der autorin ein spannendes bild der lebensumstände in jener zeit zu zeichnen, die bestimmt waren von der absoluten macht der kirche, von hexenglauben und zauber, angst vor krankheiten, feuersbrünsten, naturkatastrophen und pestepidemien.
geschichtsvermittlung fernab von trockener materie! es ist ein genuss, diesen bericht von der ersten bis zur letzten seite zu lesen und damit ein stück geschichte unserer vorfahren auf diese art und weise erkunden zu können.

16.01.2017

kristín marja baldursdóttir: die eismalerin

anfangs des 20. jahrhunderts ist es in island nicht üblich, dass alle kinder zur schule gehen. die witwe steinnun zieht von ihrem abgelegenen wohnort in eine kleine stadt, um ihren sechs kindern den schulbesuch zu ermöglichen. karitas, eine ihrer töchter ist künstlerisch begabt und beginnt schon früh zu zeichnen und malen. wenig geld und ein hartes leben dominieren ihre jugend, alle müssen zum einkommen beitragen.
als junge frau lernt karitas den gutaussehenden sigmar kennen und eine schwierige liebesgeschichte beginnt. karitas steht als junge mutter zwischen familienpflicht und der malerei.
es ist eine geschichte, die viel über das leben und die geschlechterrollen in island vor 100 jahren, über frauenemanzipation und solidarität der menschen untereinander berichtet.

08.01.2017

robert seethaler: jetzt wirds ernst

er, der sohn eines coiffeurs, geht in einer provinzstadt in die schule. seine perspektive ist später das geschäft seines vaters zu übernehmen und er beginnt auch tatsächlich seine coiffeur-lehre. aber spätestens, als er wegen eines mädchens sich auf das mitspielen im schultheater einlässt, weiss er, wohin es ihn zieht. auf der einzigen kleinen bühne dieser stadt spricht er vor und hier beginnt er seinen traum zu verwirklichen. nicht alles geht reibungslos: versagensängste, selbstzweifel und unerfüllte liebe begleiten ihn durch seine jugendjahre. seine erste grosse liebe wird nicht erwidert, das mädchen wendet sich ausgerechnet max zu, seinem einzigen jugendfreund. und die frau, mit der er seine erste erfahrung macht, lässt ihn nach einer nacht alleine zurück. zum schluss macht er sich auf die suche nach ihr.
die geschichte dieses jugendlichen kommt etwas plakativ daher. die teilweise etwas derbe sprache und die oft etwas konstruierten figuren und handlungen liessen mich nicht wirklich in die geschichte eintauchen.