26.12.2022

matthias jügler: die verlassenen

johannes, der ich-erzähler, wächst in den 1980er-jahren in halle auf. früh verliert er seine mutter. als er 14 jahre alt ist, verschwindet sein vater. von da an lebt er bei seiner grossmutter, die gut für ihn sorgt. aber den vielen fragen, die johannes beschäftigen, weicht sie aus und lässt ihn ohne antwort. lange nach dem tod der grossmutter findet er einen an seinen vater adressierten brief von einer frau aus norwegen. er fährt zu ihr in der hoffnung seinen vater zu finden. dies erfüllt sich nicht. doch erfährt er die gründe, warum ihm damals vieles unerklärlich war. hier entdeckt er, wie seine eltern wegen staatsgefährdenden verhaltens überwacht und bedroht worden waren.
eine kindheit und jugend in der ddr, beeinflusst durch die tätigkeiten der staatssicherheit, die unsägliches leid mit sich brachte — dies ist das zentrale thema, das ganz aus der perspektive des jungen berichtet wird. knappe und klare sätze prägen diesen text. genau so wie das kind nicht versteht, was hier geschieht, ist es mir ergangen, alles von anfang an zu erfassen. ich musste das buch gleich ein zweites mal lesen, dann aber machte es mich tief betroffen. dieser roman ist in seiner schlichtheit etwas ausserordentliches.

23.12.2022

édouard louis: anleitung ein anderer zu werden

das dorf seiner jugend, in dem er in grosser armut aufwächst ist der ort, den er hinter sich lassen will. er schafft es aufs gymnasium in amiens, der nächstgrösseren stadt. auf der schule findet er in elena eine freundin, mit der er viel zeit verbringt und von deren eltern er wie ein sohn aufgenommen wird. mit aller energie will er seine herkunft abstreifen, verändert sein verhalten und seine sprache, lernt menschen kennen, die ihm neue perspektiven eröffnen. das ihm zunächst als eldorado erscheinende amiens verliert aber seine attraktivität, sein neues ziel ist in paris zu leben. er schämt sich seiner herkunft. getrieben von seinem zwang, der armut zu entfliehen und ein anderer zu werden, verbringt er jahre der unruhe und zweifel. er folgt seinen träumen, will berühmt werden, um es letztlich denen in seinem herkunftsdorf, die ihn verachtet haben, zu zeigen. mit grosser anstrengung und disziplin erreicht er sein ziel. doch bleibt er letztlich seiner vergangenheit verbunden, mit der er sich auch irgendwie versöhnt.
ein weiteres autobiografisches buch von édouard louis mit den bereits bekannten themen seiner herkunft und der damit verbundenen armut, die er hinter sich lassen will. trotzdem ist es wieder spannend und eindringlich zu lesen, weil er meisterhaft versteht nicht nur die zustände zu beschreiben, sondern sich auch immer einer kritischen selbstreflexion unterzieht. trotz aller zielstrebigkeit bleibt er immer bei sich und hinterfragt sein handeln, betrachtet sich von aussen. extrem ehrlich mit sich selbst und authentisch fragt er sich auch, inwieweit er menschen, die ihm begegneten für seinen weg missbraucht hat. auch scheut er sich nicht über seine teilweise misslichen sexuellen abenteuer zu berichten. zutiefst menschlich kommt dieses dilemma eines jungen mannes daher, der nicht nur in armut gross wird, sondern auch seine homosexualität entdeckt.
ob das ganze – wie es der buchtitel verkündet – als «anleitung ein anderer zu werden» taugt, lasse ich dahin gestellt.

19.12.2022

giorgio bassani: der reiher

edgardo limentani lebt auf seinem landgut, einem alten familienbesitz, dem die wirren des faschismus und die darauffolgenden gesellschaftlichen veränderungen etwas zugesetzt haben. auch er selbst findet sich in dieser neuen ordnung, die einen verlust seines status mit sich bringt nicht zurecht. seine frau langweilt ihn, zu seiner kleinen tochter hat er nicht wirklich einen zugang. er entflieht seinem alltag, indem er in die berge auf die jagd geht. die absicht bei dieser gelegenheit seinen neffen ulderico zu treffen, verunsichert ihn. ihr verhältnis trübte sich massiv, als dieser sich den faschisten angeschlossen hatte. er trifft aber nur auf die frau uldericos, die ihn mit ihrer leichten anzüglichkeit verunsichert. als er sich wieder auf die heimfahrt macht, weiss er, dass er all dem ein ende setzen muss.
in einer reich bebilderten sprache lässt uns giorgio bassani in die nachkriegszeit italiens eintauchen und deren umwälzungen erahnen. es ist ein buch, das nicht nur über einen schwierigen lebensentwurf berichtet, über die mangelnde fähigkeit mit veränderungen umzugehen und daran zu scheitern, sondern auch über die stimmung im land nach dem ende des faschistischen regimes.


13.12.2022

emilia smechowski: wir strebermigranten

ein jahr vor dem fall der berliner mauer kommt emilia mit ihren eltern nach westberlin. sie sind aussiedlerdeutsche und erhalten deshalb unkompliziert schnell deutsche pässe und müssen nicht mit der unsicherheit eines asylverfahrens leben. sie gelten als deutsche, verleugnen ihre herkunft, lernen intensiv deutsch und machen alles für eine totale integration. in der oeffentlichkeit sprechen sie nicht polnisch und vermeiden jeden kontakt mit anderen landsleuten. emilia geht dieses verhalten in fleisch und blut über. sie spricht nie über ihre herkunft. den druck zuhause hält sie aber nicht mehr aus, zieht mit sechzehn jahren aus und hält sich mit gelegenheitsjobs über wasser. nach einer ausbildung zur opernsängerin kommt sie zum journalismus, beginnt einen anderen blick auf ihre ursprüngliche heimat zu erhalten und definiert letztlich ihre identität neu.
dieses buch ist ein etwas anderer beitrag zum thema migration. es thematisiert eine einwanderergruppe, der es gelingt, sich ziemlich unsichtbar zu machen. wie assimilation und integration über alles gestellt wird, lässt einen beinahe etwas aufschrecken. der autobiografische text wird ergänzt durch analysierende kapitel, die das ganze in den mir weitgehend unbekannten kontext der aussiedlerdeutschen stellen. das buch findet ein versöhnliches ende und schliesst den kreis der handlung auf eine schöne art.

06.12.2022

nino haratischwili: das mangelnde licht

die jugendjahre der vier frauen fallen in die zeit des politischen umbruchs nach dem ende der sowjetunion und der schwierigen gründung des eigenen staates in ihrer heimat georgien. dina, nene, ira und keto, die die geschichte erzählt, stehen sich seit ihrer schulzeit sehr nahe und bilden, trotz verschiedener charaktere eine eingeschworenen gemeinschaft. sie erleben ihre erste liebe, aber auch viel gewalt und unsicherheit in einer zeit, wo clans um einfluss und macht kämpfen. der neugegründete staat steht auf schwachen füssen, bürgerkriegsähnliche zustände kommen auf. es gibt momente, in denen die jungen frauen abenteuerliche entscheide treffen müssen, bis tod und verrat sie auseinander treiben, jede ihren eigenen weg geht. etwa 30 jahre später treffen sich drei von ihnen wieder an einer ausstellung von fotografien der nicht mehr lebenden dina. hier finden sie irgendwie wieder zueinander.
ein spektakulärer und emotionaler roman, der über 800 seiten einen sog ausübt, dem man unausweichlich unterliegt. die reiche sprache mit kunstvollen sätzen lässt einen wunderbaren lesefluss erleben. trotz der vielschichtigen erzählung und der vielen figuren geht die orientierung nicht verloren. meisterhaft versteht es die autorin vor dem hintergrund der damaligen politischen und gesellschaftlichen ereignisse die persönlichen geschichten der vier frauen aufleben zu lassen. ihre träume, wünsche und unterschiedlichen lebensziele kollidieren immer wieder mit einer männerdominierten gesellschaft, die sich nur ganz langsam zu verändern beginnt. die handlung, die zwischen brutalität und sinnlichkeit pendelt, nimmt einen unweigerlich gefangen. keto, die ich-erzählerin, reflektiert, analysiert und beschreibt daneben immer wieder, was dies alles in ihr auslöst. dieser blick in ihre gedankenwelt spiegelt auf eine spannende und tiefgründige art die realen ereignisse, denen die menschen ausgesetzt sind.

26.11.2022

thomas röthlisberger: das licht hinter den bergen

1939 tobt der zweite weltkrieg. die schweiz ist für viele menschen der letzte ort der hoffnung. spät abends klopft es an der türe des dorflehrers anton, vor ihm steht anna, eine junge fremde frau und bittet um einlass. sie ist aus dem vorarlbergischen über einen pass in die schweiz geflohen, ihr mann wurde bereits deportiert und erschossen. zunächst zögernd lässt anton sie ins haus, aus der geplanten einen nacht werden wochen. ihre anwesenheit geheim zu halten wird immer schwieriger. es gibt gerede im dorf, aber auch das bisher geordnet verlaufende leben der familie gerät durcheinander. nach wochen wird anna verraten, die polizei holt sie ab. niemand weiss, wohin sie gebracht worden ist, man spricht nicht mehr darüber. lange später, erst nach dem ende des krieges, löst sich das rätsel auf eine unerwartete weise.
spannend entfaltet sich beim lesen eine stimmungsvolle, tiefgründige handlung. die bildgewaltige sprache bringt uns die menschen und deren schicksale, die natur, die landschaft und das dorfleben nahe. treffend werden die beziehungsgeflechte in der dorfgemeinschaft und die nicht einfache familienstruktur dargestellt. das dilemma des ethischen handelns, das sich gegen das herrschende recht stellt, ist ein zentrales moment dieses romans. trotz unwahrscheinlich anmutender elemente bleibt die geschichte realistisch und behält etwas bodenständiges.

20.11.2022

anita shreve: eine gefangene liebe

als charles zufällig das bild von siân richards in der zeitung sieht, erinnert er sich an das jugendlager, in dem sie sich mit 14 jahren getroffen und sich verliebt hatten. die gleichen gefühle sind sofort wieder da und lassen ihn nicht in ruhe. er schreibt ihr nun 31 jahre später und bittet sie unverbindlich um ein treffen. sie antwortet und willigt ein. beide sind inzwischen verheiratet und eltern und führen ein geordnetes leben. sofort ist beim wiedersehen die gegenseitige anziehung wieder da und beginnt ihr bisheriges leben in frage zu stellen. sie treffen sich weiterhin, beide sind getrieben, vom wunsch zusammen zu sein. nichts ist mehr, wie es einmal war.
ganz behutsam beginnt die handlung immer schneller zu drehen und entwickelt einen sog, dem nicht nur die beiden liebenden unterliegen. beim lesen kann man kaum noch innehalten. sehr nahe an den gefühlen und zweifeln führt uns die autorin durch die geschichte. der text bleibt konzentriert und beschränkt sich auf das wesentliche und wirkt – das ist das faszinierende daran – keinen moment moralisierend.

15.11.2022

paolo cognetti: das glück des wolfes

immer wieder zieht es fausto in ein kleines bergdorf in den italienischen hochalpen. nach der trennung von seiner frau verbringt er dort einen ganzen winter, arbeitet als koch in einem saisonrestaurant. hier lernt er silvia kennen, mit der er eine beziehung beginnt. im frühling fährt er nur kurz zurück nach mailand, um seine wohnung zu verkaufen. den sommer über kocht er für die waldarbeiter, während silvia auf einer berghütte im monte-rosa-massiv arbeitet. er kann sich ein gemeinsames leben hier in diesem dorf vorstellen, sie aber zieht es im herbst wieder hinunter in die stadt. er kann sie nicht vergessen und träumt von einem gemeinsamen leben hier oben.
alleine die schilderung der natur im verlauf der jahreszeiten lohnt sich, das buch zu lesen. mit einer ruhigen, bildreichen sprache lässt uns der autor in diese wunderbare gegend eintauchen. mit gut beobachteten details zeichnet er ein liebevolles bild der leute im dorf und des jungen glücks der beiden zugewanderten. die dramatik der wetterphänomene und naturschauspiele sind ebenso zentral wie die begegnung von fausto und silvia. trotz oder vielleicht auch wegen des philosophischen tiefgangs leicht und schön zu lesen.

06.11.2022

regula portillo: andersland

als matilda noch keine sieben jahre alt ist, stirbt pascal, ihr alleinerziehender vater. für pascals bruder tobias und dessen partner michael ist es selbstverständlich, dass sie für das mädchen sorgen werden; die behörden entscheiden jedoch anders. lucia, die mutter, kommt aus mexiko in die schweiz um ihre tochter abzuholen. in der neuen heimat trifft matilda auf lucias familie, in der sie liebevoll aufgenommen wird. während ihrer jugend verliert sie auch ihre mutter, sie kann sich aber auf ihren stiefvater und ihre grosseltern verlassen. sie studiert psychologie, lernt als junge frau ihren mann kennen und wird selbst mutter. gleichzeitig beschäftigt sie die fehlende erinnerung an ihre ersten lebensjahre immer mehr. parallel dazu erfahren wir über tobias und michael, dass deren versuche kontakt aufzunehmen scheitern und all ihre briefe unbeantwortet bleiben. der seinerzeitige entscheid, einem männerpaar die sorge um das kind nicht zu erlauben, belastet tobias schwer. nach einer langen lebenskrise beginnt er, sich für die rechte gleichgeschlechtlicher paare einzusetzen. kurz vor dem ende wendet die geschichte sich zum guten, ein erster kontakt kommt zustande.
die klar strukturierte sprache mit eher kurzen sätzen hindert etwas den lesefluss. der gut und leicht verständliche text erinnert irgendwie an ein jugendbuch. trotz der zahlreich auftretenden personen und der teilweise abrupten szenenwechsel, verliert man den ueberblick nicht, auch wenn wiederholt gewisse sequenzen etwas isoliert dastehen, die keinen wirklichen bezug zum handlungsverlauf haben. die figuren bleiben etwas blass und nicht so greifbar: alle sind irgendwie schön, sympathisch, wohlhabend und leben in geordneten verhältnissen. der roman versucht vielen themen gerecht zu werden, was ihn überladen daherkommen lässt. viele realistische ereignisse und handlungen wechseln ab mit psychologisierenden abschnitten, was etwas konstruiert wirkt. das buch bietet aber einen beitrag zur diskussion über erziehung und kinderbetreuung ausserhalb traditioneller familienstrukturen.

02.11.2022

sasha filipenko: die jagd

der russische oligarch slawin legt sein vermögen im ausland an. zudem führt er in frankreich mit seiner familie ein luxuriöses leben. dies alles passt nicht zu seiner angeblich patriotischen einstellung und seinen politischen ambitionen. anton quint, ein aufrechter journalist, beginnt die machenschaften dieses mannes aufzudecken. deshalb muss er zum schweigen gebracht werden. die jagd auf ihn wird eröffnet, slawin beauftragt einen korrupten journalisten. falsche aussagen über quint werden veröffentlicht, vermutungen verbreitet, drohungen ausgesprochen. scheinbar zufällige begebenheiten und ereignisse stören die ruhe seiner kleinen familie aber quint gibt nicht auf, versucht sich treu zu bleiben. zum schluss läuft die aktion aus dem ruder.
drastisch ist die beschreibung der hinterhältigen methoden, derer sich slawins vasallen bedienen, um den ruf und das leben von anton quint zu zerstören. dieses bild menschenverachtender handlungen und verhältnisse fordert einem beim lesen einiges ab. der autor baut diese geschichte interessant auf, die parallelen der beiden journalisten sind frappierend, nur ist einer der jäger, der andere der gejagte. es zeigt auf, wie klein der unterschied sein kann, der darüber entscheidet, auf welcher seite man steht. ein brandaktuelles werk, das uns erahnen lässt, wie es im heutigen russland zugeht.


25.10.2022

christian kracht: eurotrash

christians besuch bei seiner etwas dementen, aber sehr reichen mutter beginnt in einer psychiatrischen klinik und führt sie zunächst nach saanen und gstaad, die orte seiner kindheit. sie fahren weiter, ändern spontan immer wieder ihre reiseziele, was das ganze zu einer art roadmovie werden lässt, während diesem sie wiederholt unwahrscheinliche situationen heraufbeschwören und erleben. so gelangen sie an verschiedene orte, die in ihrer vergangenheit eine rolle gespielt haben. während am anfang ein vielversprechender ansatz in der auseinandersetzung um die nazi-vorfahren steht, entwickelt sich die geschichte immer skurriler. klassische mutter-sohn-dialoge und kaum glaubwürdige begebenheiten wechseln sich ab. sie lassen die handlung ohne ersichtliches ziel dahin mäandern.
während sich mir der sinn des buches kaum erschlossen hat, liess mich lediglich die virtuose sprache noch weiterlesen. die zu beginn aufkommende spannung und faszination hält nicht an, gegen das ende zieht sich die geschichte in die länge und findet einen etwas offenen und unwirklichen schluss. so versteht man zumindest die zweite hälfte des buchtitels.

17.10.2022

joseph andras: die wunden unserer brüder

der algerienfranzose fernand iveton ist ein überzeugter kommunist, gegner des kolonialismus frankreichs und verfechter der freiheit des algerischen volkes. für die unabhängigkeit des landes riskiert er viel, legt eine bombe, wird dabei aufgegriffen und zum tod verurteilt. weder das letztinstanzliche urteil noch ein begnadigungsgesuch beim französischen präsidenten ändert dieses verdikt. obschon seine tat keine todesopfer forderte, wird mit der zu unrecht ausgeführten todesstrafe an ihm ein exempel statuiert.
mit diesem auf einer wahren geschichte beruhenden buch wird nicht nur fernand iveton ein denkmal gesetzt, sondern auch die realität und die ungerechtigkeit der französischen kolonialherrschaft treffend aufgezeigt. ungeschminkt, schonungslos offen beschreibt der autor die zustände an den gerichten, in den gefängnissen und auf polizeistationen. die rechtlosigkeit der angeklagten oder verdächtigten menschen erscheint drastisch, folter ist eine gängige verhörmethode. dagegen stehen die solidarischen momente mit mitgefangenen. auch die starke liebe seiner frau, die unerschrocken zu ihm steht und ihn mit viel mut moralisch unterstützt, lässt ihn viel ertragen. zu beginn sind die innerhalb der kapitel immer wieder auftretenden zeitsprünge etwas irritierend, was sich aber mit der zeit gibt. nicht nur ein sehr berührender, sondern auch politischer roman, der ein uns nicht so bekanntes stück neuere kolonialgeschichte näher bringt.

 

07.10.2022

nicolas matthieu: rose royal

rose hat ihre kinder grossgezogen, eine scheidung ausgestanden und steht beruflich nicht schlecht da. noch ist sie eine attraktive erscheinung, weiss dies auch und trifft sich immer wieder mal mit männern. aber sie glaubt nicht mehr wirklich daran, einen mann fürs leben zu finden. doch dann lernt sie den eher zurückhaltenden und etwas rätselhaften luc kennen. immer mehr verlässt rose ihr bisher selbstständiges leben, gibt ihre wohnung auf, vernachlässigt ihre freundinnen und zieht ganz zu ihm. sie kündigt ihre arbeitstelle und beginnt für ihn zu arbeiten. aber immer schwieriger wird die beziehung, streit und versöhnung werden zur regel. rose realisiert, dass sie in einem goldenen käfig sitzt, den zu verlassen sie nicht schafft, bis alles eine unerwartet böse wendung nimmt.
in einem kurzen und prägnanten roman wird hier die vielleicht exemplarische geschichte einer frau in der mitte des lebens erzählt. das buch ist ein lehrstück über die mechanismen von macht und abhängigkeit im traditionellen rollenverhalten von mann und frau und führt vor augen, wie subtil sich solche beziehungsgefälle entwickeln können. starke und präzise bilder machen aus dem handlungsarmen geschehen eine spannende und überraschende geschichte.

29.09.2022

michael köhlmeier: spielplatz der helden

in den 1980er-jahren durchqueren drei südtiroler alpinisten grönland an seiner breitesten stelle von ost nach west. schon in den ersten tagen streiten sie sich und sind einander feindselig gesinnt. trotzdem erreichen sie nach vielen entbehrungen das andere ende der eiswüste. dieser wahren begebenheit folgt der autor mittels fiktiver gespräche mit drei männern, in denen jeder aus seiner sicht erzählt. die beziehungsschwierigkeiten dieser zweckgemeinschaft treten in einer art psychogramm zutage. die gegenseitige abhängigkeit, die schwächen und stärken, die wechselnden allianzen innerhalb der dreiergruppe lassen die expedition mehrmals beinahe scheitern.
dieses unheimliche aber auch faszinierende unternehmen wird hier lebensnah aus drei perspektiven erzählt; spannend und zugleich tiefgründig. die drei männer pendeln zwischen heldentum und monstrosität, so dass beim lesen die frage aufkommt, worum es hier eigentlich geht. wer setzt sich warum freiwillig dieser unwirtlichkeit und gefahr aus? die frage was sie antreibt, bleibt aber offen. die daneben in der zweiten hälfte des romans immer mehr platz einnehmende geschichte des interviewers und der beziehung zu seiner frau stört den fortgang des eigentlichen themas, irritiert und enttäuscht mich etwas. trotzdem ein fesselndes buch, das ganz tief in die emotionen und abgründe der menschlichen seele blickt.

20.09.2022

daniel tammet: die poesie der primzahlen

zahlen sind nicht einfach zahlen, so könnte man es auf den punkt bringen. in diesem sehr persönlichen und emotionalen buch werden uns rechnerische aufgaben und mathematische fragen auf eine ganz besondere weise nahegebracht. selbst für menschen, die mit zahlen eher schwer haben, tut sich hier eine spannende welt auf. die 25 eigenständigen kapitel sind jedes eine mischung aus lebensgeschichte des autors, beschreibungen von mathematischen -- für den laien zuweilen rätselhaften -- highlights, sowie literarischen bezügen zum jeweiligen thema. wem in der schule dieses fach eher eine qual war und wer sich von rechenaufgaben eher fernhält, könnte beim lesen dieses buches neue entdeckungen machen und einen ganz anderen neuen zugang zur dieser wissenschaft finden. das wort poesie im titel verspricht nicht zu viel.

11.09.2022

alena mornštajnová: hana

mira wird als neunjährige während einer typhusepidemie zur vollwaise. zunächst findet sie aufnahme bei einer vierköpfigen pflegefamilie. als ihre ebenfalls totgeglaubte tante hana überraschend auftaucht, geht mira mit ihr, um fortan bei ihr zu leben. hana ist eine eigenartige, wortkarge frau, die sich oft zurückzieht. mira versteht dies nicht, schafft es aber durch ihre zuwendung und fröhlichkeit, sie für sich zu gewinnen. langsam nähern sich die beiden an. so erfährt mira langsam von hanas ueberleben in theresienstadt und auschwitz.
ein aussergewöhnliches buch, das uns durch seinen geschickten aufbau der handlung und viel feingefühl ganz unterschiedliche menschen in einer zeit existenzieller bedrohung nahebringt. das unsägliche leiden, die enttäuschungen und intrigen, die hana erleben muss, könnten anschaulicher nicht beschrieben werden. die meisterhafte schilderung ihrer inneren stimme, ihres ueberlebenswillens, aber auch ihrer verzweiflung machen den roman zu einem ganz speziellen zeitdokument, das ganz besondere beachtung verdient.

28.08.2022

annina haab: bei den grossen vögeln

schon in jungen jahren ist ali eine frau, die ihren eigenen weg geht. früh verlässt sie gegen den willen ihrer eltern das heimatliche kleine dorf in den bergen um nach london zu gehen. später kommt sie zurück. das leben im dorf ist nichts mehr für die freiheitsliebende ali, sie sucht sich wohnung und arbeit in der stadt. nach einem langen und für jene zeit unkonventionellen leben zieht sie als grossmutter ins altersheim. sie redet nun oft vom sterben. ihre enkelin, die eine nahe und besondere beziehung zu ihr hat, besucht sie oft. es fällt ihr aber schwer sich mit dem bevorstehenden abschied auseinanderzusetzen. erfolglos fordert sie ali auf, ihre erlebnisse, ihre lebensgeschichte niederzuschreiben. nun tut es die junge frau stellvertretend für sie. als ali stirbt, ist die geschichte unvollständig.
in diesem wunderbaren «generationenbuch» bringt uns die autorin nicht nur die beziehung zwischen diesen zwei frauen unterschiedlichen alters nahe, sondern erzählt auch alis leben. die unvollständigen berichte der grossmutter werden mit fiktiven oder erahnten elementen ergänzt. so könnte es damals gewesen sein. die liebevolle erzählweise in einer reichen und subtilen sprache macht den roman zu einem emotionalen und tiefgehenden leseerlebnis.

14.08.2022

elvira dones: kleiner sauberer krieg

während des jugoslawienkrieges greift die nato in den konflikt um den kosovo ein. auf pristina fallen bomben, serbische milizen machen jagd auf die albanischstämmige bevölkerung. rea, hana und nita, drei frauen unterschiedlichen alters und lebenshintergrunds sitzen in einer wohnung fest, ohne strom, ohne wasser, ohne telefon. sich auf die strasse zu begeben kann tödlich enden. trotzdem müssen sie immer wieder hinaus, um essen zu beschaffen oder zu telefonieren. nur vage und unsicher sind die informationen über ihre freundinnen und verwandten. parallel erfährt man beim lesen von deren schicksal in ihrem zuhause oder auf der flucht und ist so den drei frauen voraus im wissen um die wirklichkeit. nach über sechzig tagen ist dieser krieg zu ende, die drei haben überlebt, viele ihrer nächsten und freunde aber nicht.
ohne jede rücksicht und zurückhaltung wird hier das grauen eines brutalen kriegsgeschehens beschrieben. unerträglich viel blut fliesst, unvorstellbare gräueltaten, getrieben vom gedanken der ethnischen säuberung machen das einzelne leben wertlos, es gibt kein verlässliches recht mehr. als tröstlicher kontrast leuchten dazwischen momente der solidarität zwischen albanischen und serbischen frauen auf. der eindringliche, schonungslose und ungeschminkte bericht über diese dunklen tage in der geschichte des balkans, lässt sich nicht unberührt lesen. eines der beeindruckendsten und emotionalsten bücher, das ich in den letzten monaten gelesen habe.

03.08.2022

r. o. kwon: die brandstifter

will, der aus einfachen verhältnissen stammt, beginnt an einer renommierten universität im staat new york zu studieren. dort trifft er bald auf die allseits beliebte und attraktive phoebe, die aus einer gutsituierten familie stammt. die beiden werden ein paar. doch phoebe fühlt sich am tod ihrer mutter schuldig und wird damit ein leichtes opfer des jungen, charismatischen john leal, der eine sektenartige gruppe um sich schart, die konservative werte vertritt. phoebe entfremdet sich will, gerät in den sog dieser gemeinschaft, die letztlich mit gewalt ihre anliegen durchzusetzen versucht. will erkennt schnell die gefahr und versucht bis zum ende, seine freundin zurückzugewinnen und aus dem teufelskreis herauszuholen.
mit zunehmender spannung liest sich dieses dramatische buch, über eine liebesbeziehung, die durch einen äusseren einfluss auf eine harte probe gestellt wird und letztlich scheitert. die aus den verschiedenen perspektiven erzählte geschichte handelt vom schmalen grat und den zerbrechlichen grenzen zwischen der normalität und ausnahmemomenten. exemplarisch berichtet der roman über abhängigkeiten und machtausübung. ein aktuelles thema in zeiten von rollbacks und verschwörungstherorien.

26.07.2022

dror mishani: vertrauen

ein zu früh geborener säugling wird vor einer klinik aufgefunden und am gleichen tag verschwindet ein tourist auf unerklärliche weise aus einem hotel, wo er sein gepäck zurücklässt. bei avi avraham, einem inspektor der örtlichen kriminalpolizei in tel aviv landen die beiden fälle zur bearbeitung, was ihn in abenteuerliche und komplizierte ermittlungen führt, auf die er eigentlich zunächst gar keine lust hat.
die detailliert und faszinierend beschriebenen figuren und geschehnisse aus dem israelischen alltag und die beruflichen zweifel des inspektors, lassen die geschichte über einen gängigen kriminalroman hinausgehen. zum ende werden die beiden fälle auf eine emotionale weise zusammengeführt, mit der eine wichtige botschaft über das schwierige zusammenleben in israel vermittelt wird. aber nicht alleine deshalb lohnt es sich, das buch zu lesen.

08.07.2022

usama al shahmani: im fallen lernt die feder fliegen

noshe und aida, zwei mädchen aus einer irakischen flüchtlingsfamilie, wachsen in der schweiz auf. nach jahren beschliessen ihre eltern die rückkehr, die jugendlichen müssen ihre freunde zurücklassen. im irak sehen sie sich einer zukunft gegenüber, die nicht die ihre sein kann. als noshe verheiratet werden soll, beschliessen sie die flucht und kehren zurück in die schweiz, wo sie alles andere als willkommen sind. der erneute flüchtlingsstatus bringt viel unsicherheit in ihr leben.
in einer subtilen, klaren sprache beschreibt der autor sehr konkret, wie die beiden unterschiedlichen kulturen einen einfluss auf die beziehungen innerhalb der familie haben. aus unterschiedlichen perspektiven vermittelt er einen einblick in den alltag von menschen, die nicht freiwillig zuwandern. er berichtet davon, wie schwer es ist in einem fremden land fuss zu fassen und wie beinahe unausweichlich die eltern ihre kinder an eine andere kulturelle gegebenheit mit deren werte verlieren. umgekehrt hält er auch uns, den hier lebenden, den spiegel vor und zeigt uns damit unseren umgang mit fremden. bei aller vielschichtigkeit des themas ist der text leicht zu lesen, fasziniert mit seiner sensibilität und versöhnlichkeit und wird damit zu einem ganz besonderen stück flüchtlingsliteratur.

28.06.2022

jakub małecki: saturnin

saturnin ist dreissig jahre alt und lebt alleine in warschau. als ihn seine mutter anruft, weil sein 96-jähriger grossvater tadeusz verschwunden ist, nimmt er urlaub und fährt nach hause ins dorf, wo er seine kindheit verbracht hat. zwei tage dauert die suche, bis der vermisste kilometerweit entfernt am ufer eines flusses im schlamm liegend gefunden wird. was hat dieser ort zu bedeuten? langsam erfährt der enkel die von kriegsereignissen gezeichnete lebensgeschichte seines grossvaters, der vieles wollte und konnte, nur nicht in den krieg ziehen.
es ist nicht nur die geschichte einer familie über drei generationen, die von einem krieg geprägt wird. beispiellos tritt in diesem an gewissen stellen auch etwas gruseligen roman zutage, wozu ein mensch in einer solchen krisensituation fähig ist und wie dies sein weiteres leben verändert und zerstört. nicht nur wegen der zeitweise hervorgerufenen gänsehaut, sondern auch wegen der mehrschichtigen und teilweise fiktiven erzählweise ist die zweite hälfte nicht immer ganz leicht zu lesen. aber dieses ganz besondere buch über ganz besondere verhältnisse ist in einer eindringlichen sprache geschrieben.

23.06.2022

sofi oksanen: hundepark

nach dem ende der sowjetunion entscheiden olenkas eltern von tallinn in die ostukraine, die heimat des vaters, umzuziehen. als jugendliche will olenka so schnell wie möglich weg aus dieser armen gegend. eine kleine anzeige an einem strommast weist ihr den weg: als eizellenspenderin beginnt ihr neues leben. bald steigt sie auf, wird koordinatorin in der firma, die kinderwünsche von unfruchtbaren paaren aus westeuropa erfüllt. ein jahrzehnt später lebt olenka in helsinki, wo sie eines tages daria begegnet, die sie damals als spenderin angeworben hat. jetzt plant daria ein aus ihrer eizellenspende gezeugtes kind zu entführen. olenka muss dies verhindern.
der roman handelt in einer zeit, in der sich vieles im halblegalen oder illegalen bereich zugetragen hat. gewalt, korruption und erpressung sind allgegenwärtig. direkt und ohne beschönigung erfahren wir exemplarisch über die ausbeutung von frauen durch die fortpflanzungsindustrie. die vielschichtige aber auch komplizierte geschichte, mit ihren zeitsprüngen und den detailliert beschriebenen persönlichen schicksalen, ist nicht immer ganz übersichtlich, was dem ganzen aber keinen abbruch tut. prägnant, detailliert, leicht sarkastisch und mit etwas schwarzem humor führt uns die autorin in die unvorstellbare zeit der auflösung eines politischen systems und dessen folgen. durch den krieg in der ukraine erhält das buch eine zusätzliche aktualität.

06.06.2022

assia djebar: die schattenkönigin

die eher westlich orientierte isma, mutter von zwei kindern, sucht für ihren mann eine zweite frau, um sich selbst aus den verpflichtungen der ehe zu befreien; etwas, das in der tradition ihrer gesellschaft durchaus vorgesehen ist. in hanja, einem jungen, bescheidenen mädchen aus einer armen familie findet sie die frau, die fortan ihre stelle einnehmen und ihren kindern eine gute mutter sein soll. aber auch hanja sucht sich mit phantasie und list ihre freiheiten.
hier tut sich ein blick in werte einer völlig anderen kultur auf. der tiefe einblick in die rolle der arabischen frau fördert für uns beinahe unverständliches und doch irgendwie logisches zu tage. mit viel geschick werden diese frauen den gesellschaftlichen ansprüchen gerecht und behalten sich dabei trotzdem ihre freiheit. das soziale gefälle ist unübersehbar und hat einen starken einfluss auf den grad der abhängigkeit. die autorin versteht es meisterhaft, gefühle und gedanken zu beschreiben. sie bringt uns damit eine fremde welt und denkweise auf faszinierende art nahe.

28.05.2022

pier paolo pasolini: ragazzi di vita

riccetto ist einer der jungen aus einer römer vorstadt. er lebt wie die meisten seiner freunde in prekären verhältnissen. die realität ihres lebens entspricht weitgehend nicht ihren träumen. mit kleinkriminalität, strichertum, glücksspiel und anderen nicht legalen tätigkeiten versuchen sie sich jeweils etwas geld zu beschaffen, das dann gleich wieder ausgegeben wird. die jungen streunen oft hungrig und mittellos zwischen den vorstädten und dem zentrum roms mit wenig perspektiven umher.
der roman, der keine durchgehende handlung hat, zeichnet in einzelnen episoden ein anderes bild von italien, jenseits der tourismuswerbung, der guten küche und der schönen plätze in den innenstädten. alleine die schilderung der in den nachkriegsjahren schnell hochgezogenen aussenquartiere, wo der zerfall schon vor der fertigstellung einsetzt und wo sich das leben der menschen oft auf der strasse oder den brachliegenden feldern der umgebung stattfindet, macht dieses buch zu einem wichtigen dokument. ich werde es noch im italienischen original lesen müssen, weil ich den eindruck nicht loswerde, die uebersetzung vermöge dem slang der jugendlichen nicht gerecht zu werden.

19.05.2022

peter weibel: schneewand

drei menschen werden in einer berghütte von einem schneesturm überrascht. alles ist weiss und nebel zieht auf. bleiben oder den abstieg wagen? diese frage stellt sich ihnen. sie machen sich auf, verlieren die orientierung, treffen aber unterwegs auf einen schutzcontainer, in den sie sich flüchten können. sie versprechen sich gegenseitig zusammen zu bleiben, keine einzelaktionen zu machen. der raum ist nicht beheizbar und ihre nahrungsvorräte reichen nur für wenige tage. täglich wird es schwieriger zu überleben, trotz hunger und kälte geben sie die hoffnung auf eine rettung nicht auf. aufs existenzielle reduziert bleiben sie einander solidarisch verbunden.
auch wenn die drei zeitweise beinahe übermenschlich erscheinen, bleibt die erzählung realistisch und weiss mit ihrer klaren und nüchternen sprache die gefühle einer solchen extremsituation zu skizzieren. mit den wiederkehrenden perspektivenwechseln fügt sich der text zu einem komplexen und umfassenden bericht, den zu lesen eine ganz spezielle faszination auslöst.

14.05.2022

rafael seligmann: lauf, ludwig, lauf!

ludwig wächst in den 1920er-jahren mit seinen geschwistern in einer traditionellen jüdischen familie auf dem land auf. er ist ein guter schüler, besucht das gymnasium und spielt als stürmer in der heimischen fussballmanschaft. als sein vater schwer erkrankt, muss er die schule verlassen um eine lehre als kaufmann zu beginnen. er ist zwischen seinen eigenen ambitionen und den erwartungen seiner familie hin- und hergerissen. der patron seines lehrbetriebes würde ihn gerne als mitarbeiter behalten, doch er fühlt sich seiner familie verpflichtet, kehrt zurück und hilft im familieneigenen betrieb. der aufstieg der nationalsozialisten macht dem friedlichen zusammenleben von christen und juden ein ende. dem so heimatverbundenen ludwig bleibt letztlich nur die flucht mit seinem bruder zu einem onkel in die schweiz. später treffen sich verwandte und freunde in israel wieder, viele sind aber auch in deutschland geblieben und umgekommen.
der roman bietet einen eindrücklichen einblick auf das leben in der zwischenkriegszeit in deutschland mit den politischen verwerfungen der weimarer republik, der inflation und der grossen arbeitslosigkeit. bewegend wird das zerbrechen von freundschaften und sicherheiten beschrieben. auch wenn ludwig als genie und alleskönner daherkommt, was manchmal eher etwas unwahrscheinlich wirkt, bleibt er sympathisch und liebenswert. die figuren sind lebensnah beschrieben, was dem roman eine besondere lebendigkeit verleiht. nicht nur spannend, sondern trotz allem streckenweise auch vergnüglich zu lesen.


05.05.2022

anna burns: milchmann

sie ist 18 jahre alt, tochter aus einer grossen, etwas zerrütteten familie und lebt in einer gesellschaft, die von bürgerkriegsähnlichen zuständen gezeichnet ist. misstrauen prägt das leben aller: möglichst nicht auffallen um nicht ins visier einer der gegnerischen parteien zu geraten. da passt es schlecht, dass der 23 jahre ältere milchmann ein auge auf sie wirft und eine beziehung mit ihr anfangen will. argwöhnisch beobachten nachbarn, verwandte und freunde das geschehen; gerüchte machen schnell die runde, sie lasse sich mit einem mann von der gegnerischen seite ein. dazu geht ihre aktuelle, etwas ungewisse beziehung zu einem jungen mann in die brüche. und dann ist sie plötzlich auch für ihre drei kleineren schwestern verantwortlich, weil ihre mutter sich aufopfernd um einen verletzten mann kümmert, den sie liebt. der milchmann wird ermordet, was eigentlich das zentrale problem der jungen frau auf einen schlag lösen sollte, aber dem ist nicht so.
auch wenn es nie erwähnt wird, ist man schnell an die situation in nordirland in den 1990er-jahren erinnert. eindrücklich und genau wird hier das leben in einer in zwei lager getrennten stadt beschrieben. alle misstrauen einander, jeder und jede äussert sich vorsichtig unbekannten gegenüber. die eher spärliche handlung scheint eher als hintergrund zu dienen, vor dem sich die komplizierten lebensumstände, die vielen verhaltens- und denkweisen der menschen abspielen. die analytisch genaue schilderung von alltagssituationen und konflikten geben diesen ein zentrales gewicht im roman. zudem widmet sich die autorin im besonderen diesem männlich dominierten milieu, in dem frauen immer wieder opfer von uebergriffen sind oder marginalisiert werden. aber sie zeigt auch auf, wie mutige frauen im von gewalt dominierten zusammenleben vermittelnd und deeskalierend wirken können. der insgesamt sehr dichte und nicht einfache text erfordert eine hohe konzentration beim lesen. es lohnt sich, auch wenn es nicht immer leicht fällt, bis zum ende durchzuhalten.

23.04.2022

khaled alesmael: selamlik

als sohn einer gutbürgerlichen familie studiert furat in damaskus. dort erlebt er nicht nur die unruhige zeit nach dem tod des präsidenten hafiz al-assad, sondern auch die erste grosse liebe seines lebens mit ali, seinem zimmernachbarn im studentenwohnheim. er erkundet damals das vielfältige, versteckte schwule milieu der syrischen hauptstadt, was wegen der verfolgung durch islamische fundamentalisten nicht ungefährlich ist. als das haus seiner familie geplündert wird und homosexuelle männer immer mehr opfer von verfolgung und gewalt werden, beginnt seine flucht, die letztlich in schweden endet.
von anfang an bannt einen diese besondere und sehr persönliche flüchtlingsgeschichte. nicht die träume, die nicht in erfüllung gehen, nicht die neue realität im asylland stehen im zentrum, sondern der alltag im asylbewerberheim. hier wird furat mit einem ebenso homophoben milieu konfrontiert, wie zuhause in syrien. er zieht sich oft zurück in sein zimmer und beginnt mit der aufzeichnung seiner erinnerungen. zurückblickend lässt er in einem dichten text ein bild seines damaligen lebens und seiner flucht nach europa entstehen. direkt, offen, schonungslos bis brutal beschreibt er erotische und sexuelle träume, aber auch seine wünsche von einem besseren leben in einer gerechteren gesellschaft.

17.04.2022

bas kast: das buch eines sommers

das leben von nicolas ist eher anstrengend. nach dem tod seines vaters führt er das erbe, ein pharmaunternehmen, weiter. seine familie sieht er immer seltener, weil die arbeit ihn völlig beansprucht. aber eigentlich hatte er andere träume und ziele in seinem leben. alles fühlt sich irgendwie falsch an. als sein onkel, der immer sein grosses vorbild war, stirbt, beginnt er sich darauf zu besinnen, was er im leben wirklich immer wollte. er beginnt mit dem schreiben seines ersten buches.
ein fast zu schöner und leicht zu lesender roman. auch wenn einiges sehr gut arrangiert ist, manchmal etwas konstruiert daher kommt, trifft dies jeweils nur die vordergründige geschichte. der dahinter liegende philosophische diskurs trifft den puls der zeit und könnte als handlungsanleitung für menschen dienen, die den ausstieg aus einem ungewollten, fremdbestimmten leben versuchen und mehr sich selbst werden wollen.

15.04.2022

karl rühmann: der held

im gefängnis des internationalen gerichtshofs in den haag freunden sich zwei insassen an. beide haben früher in der gleichen armee gedient, im krieg kämpfen sie dann aber auf gegnerischen seiten. der general wird in einem prozess freigesprochen und kehrt als held in die heimat zurück. dort lebt er zurückgezogen und bleibt in einem briefwechsel in kontakt mit seinem ehemaligen mitgefangenen offizier. ana, eine kriegswitwe aus dem dorf, wird seine haushälterin. sie findet heraus, dass der general ein kriegsverbrechen zu verantworten hat, bei dem ihr mann ums leben gekommen ist. kurz vor der heldenfeier, wird der general erneut verhaftet.
ohne dass orte oder genaue begebenheiten genannt würden, assoziiert man beim lesen die geschichte mit dem balkankrieg in den 1990er-jahren. während der briefwechsel etwas kompliziert und unbestimmt die damaligen ereignisse ans licht bringt, erscheinen demgegenüber die beziehung zwischen den handelnden menschen sehr konkret und klar. trotz der schwere des themas leicht zu lesen, gibt dieses buch mit einer gut geführten handlung einen blick auf späte folgen eines bürgerkrieges und deren schleppende aufarbeitung.

05.04.2022

tim krohn: herr brechbühl sucht eine katze

alte und junge leute wohnen, teilweise seit jahren, gemeinsam in einem mietshaus in zürich. ihr zusammenleben ist geprägt von liebschaften, langjährigen beziehungen, streitigkeiten, nach­bar­schafts­hilfe und gegenseitigen abhängigkeiten. eine durchgehende handlung gibt es eigentlich nicht, es ist eher eine erfrischende aneinanderreihung von ereignissen. sehr unterschiedliche gefühlslagen kommen an die oberfläche und beeinflussen das jeweilige geschehen.
in einer nachbemerkung am ende erfährt man, dass das buch teil eines projektes ist, das der autor «menschliche regungen» nennt. unterstützende personen konnten zu einem begriff, in den text zu integrierende wörter und zahlen vorgeben. auf dieser grundlage sind die kapitel und deren ueberschriften entstanden; dementsprechend erscheinen einzelne umstände, orte oder wörter manchmal etwas abenteuerlich in der gesamtgeschichte. eine lustige idee, meisterhaft umgesetzt, so ist ein echt lesenswertes, erfrischendes buch daraus entstanden.

24.03.2022

cihan acar: hawaii

hawaii ist hier keine insel mit rauschenden palmen – hawaii heisst das stadtviertel zwischen industrieanlagen und bahntrassen, in dem vor allem türkische arbeiter mit ihren familien leben. hierher kehrt kemal zurück, nachdem seine vielversprechende fussballerkarriere wegen eines unfalls ein abruptes ende genommen hat. auf der suche nach sich selbst und seiner zukunft verbringt er die tage. er trifft auf alte bekannte, frühere freunde und versucht wieder mit sina, seiner früheren freundin, zusammenzukommen. gleichzeitig beginnen unruhen, die in einen richtigen strassenkampf zwischen neo-nazis und den migranten ausarten. kemal gerät, obschon er sich immer aus handgreiflichkeiten herauszuhalten versucht, mit hinein ins geschehen. danach will er nur noch weg von da.
aus der optik von kemal, der eine gewisse distanz zum geschehen zu halten versucht, wird hier die lebensrealität von jugendlichen aus migrantenfamilien aufgezeigt. gewalt, beleidigungen, unterdrückung, denen sie ausgesetzt sind, werden ebenso kritisch gesehen, wie die strukturen und machtverhältnisse innerhalb ihrer familien und gemeinschaft. der ungeschminkte einblick in das leben dieser parallelgesellschaft ist manchmal etwas überzeichnet, gleitet aber nie ins plakative ab. erfrischende momente, wie die dialoge mit seinem auto, lassen beim lesen hin und wieder auch etwas aufatmen. das buch – in einer klaren und direkten sprache geschrieben – vermag bis zum schluss die spannung zu halten.


23.03.2022

jürgen pettinger: franz

1922 geboren war für franz doms nicht die beste zeit, um als jugendlicher seine homosexualität zu leben. zur zeit seiner ersten erfahrungen mit anderen männern sind die nationalsozialisten bereits an der macht. nach 1938 werden auch in wien schwule männer von den behörden gezielt verfolgt. so kommt franz doms ein erstes mal mit dem gesetz in konflikt: er wird zu einem jahr gefängnis verurteilt. wieder in freiheit versucht er seinen bewährungsauflagen nachzukommen, was ihm aber nicht lange gelingt. sensibilität, gewisse leichtsinnigkeit und die suche nach der liebe bringen ihn wieder in gefahr. eine erneute festnahme führt letztlich zum todesurteil, das 1943 an dem damals 21-jährigen vollstreckt wird.
subtil und realistisch leuchten das leben und die lebensumstände dieses jungen mannes auf, der auf der suche nach sich selbst ist. exemplarisch berichtet der autor darüber, wie viele männer damals wegen ihrer sexuellen orientierung verfolgt worden sind. besonders eindrücklich bleiben mir die schilderungen des versteckten schwulen milieus und des gefängnisalltags in erinnerung. die zwischen dem text stehenden originaldarstellungen von vernehmungsprotokollen, gerichtsurteilen und anderen dokumenten illustrieren die damalige realität zusätzlich. auf deren grundlage wurde hier die mögliche lebensgeschichte von franz doms nachgezeichnet und ihm und den vielen anderen vergessenen opfern ein denkmal gesetzt.

20.03.2022

joachim b. schmidt: tell

eigentlich ist wilhelm tell ein wortkarger bergler, der selbst von seinen mitbürgern kaum verstanden wird. von diesem mann und seinem leben wird hier berichtet. etwa zwanzig menschen, die mit ihm zu tun haben, kommen in knapp hundert kurzen kapiteln zu wort, beschreiben begegnungen, ereignisse und tatsachen, die mit tell, seiner familie und seinem handeln zu tun haben. so entsteht ein bild das fern von dem ist, wie der nationalheld uns bisher begegnet ist. ohne ihn zu demontieren wird hier ein ganz anderer tell gezeichnet. auch gessler, den wir als seinen feind und widersacher kennen, erscheint als mensch mit familie und gefühlen, wie auch die weiteren protagonistinnen und protagonisten ein eigenes, markantes profil erhalten.
nein, so hat man die geschichte des nationalhelden noch nie gelesen, so ist die legendäre apfelschussszene noch nie beschrieben worden. ein faszinierender blick auf eine gestalt und auf die lebensumstände zu jener zeit bettet diese legende in eine mögliche geschichte. mutig und phantasievoll nimmt sich der autor seinem hauptdarsteller an. oft, wie zufällig erwähnt, erfährt man über das harte, entbehrungsreiche damalige leben. packende und überraschende szenen gehen immer wieder ineinander über und machen aus diesem buch nicht zuletzt auch ein sozialkritisches werk mit einem schönen, etwas mystischen schluss. spannend von der ersten bis zur letzten seite: man taucht in jene welt ein und kann kaum aufhören zu lesen.

17.03.2022

erich hackl: am seil

reinhold duschka versteckt während des 2. weltkrieges regina, die jüdische frau seines besten freundes, und deren tochter lucia vor den nazis. die beiden frauen haben niemanden mehr, auf den sie sich sonst verlassen könnten. in der werkstatt reinholds finden sie unterkunft und selbst nach der zerstörung dieses verstecks durch einen bombeneinschlag findet reinhold eine neue lösung. dank seiner beherztheit und dem uneingeschränkten gegenseitigen vertrauen entgehen die frauen der deportation: sie überleben die herrschaft der nationalsozialisten. nach dem ende des krieges bleiben die drei miteinander in kontakt. lange später will lucia mit dieser erzählung ihrem retter ein denkmal setzen. nur widerwillig lässt er sich erst im alter von über 90 jahren als «gerechter unter den völkern» in der gedenkstätte yad vashem in israel ehren. er bleibt ein bescheidener, wortkarger mann bis zum lebensende.
in einer schlichten, klaren sprache und ohne sensationslust ist diese erzählung, die eine wahre begebenheit darstellt, sehr authentisch und eindringlich. sie vermittelt das bild eines ausserordentlichen menschen, der einfach das getan hat, wovon er überzeugt war. der text nimmt einen beim lesen richtig gefangen und lässt einen am wirken dieses mannes teilhaben. ganz schön ist, dass die geschichte nicht bei der befreiung aufhört, sondern auch darüber berichtet, was danach war.

13.03.2022

james baldwin: giovannis zimmer

david zieht aus new york nach paris um frei und unabhängig zu sein. als er eines abends giovanni kennenlernt, der ihm mit charme und offener zuwendung begegnet, verlieben sich die beiden. damit wird davids geplante heirat mit seiner freundin hella in frage stellt. er ist hin- und hergerissen zwischen den beiden beziehungen und kann sich zwischen der konvention und seinem herzen nicht entscheiden. letztlich scheitern beide beziehungen: hella reist zurück nach amerika und giovanni begeht eine verzweiflungstat.
nach vielen jahren habe ich das in den 1970er-jahren erschienene buch wieder gelesen und bin erneut beeindruckt davon. die beschreibung des sozialen drucks und der stimmung im damaligen paris sind in einer wunderbaren sprache bildhaft dargestellt und fangen den zeitgeist treffend ein. ganz stark kommt die subtile, beinahe verhaltene beschreibung der inneren zerrissenheit davids, der seine homosexualität zunächst verdrängt, zum tragen. ein werk das jene zeit beschreibt, ihr aber weit voraus ist.

05.03.2022

andrej kurkow: graue bienen

sergej sergejitsch ist imker und lebt in in der umkämpften region donbass im osten der ukraine. der ganze konflikt interessiert ihn nicht, er ist nur für seine bienen da, die ruhe brauchen um nektar zu sammeln. deshalb beschliesst er seine bienenvölker in eine friedlichere gegend wegzubringen. auf seiner reise bis hinunter zur krim wird er mit menschen und deren lebensrealität in dem land konfrontiert, das er als seine heimat betrachtet.
ein schön und liebevoll gezeichnetes portrait eines menschen, den die konflikte nicht interessieren und der nur für seine leidenschaft lebt. parabelhaft wird die ordnung der bienenvölker den konflikten und dem chaos der menschen gegenübergestellt. mit dem ausbruch des krieges in der ukraine ist dieses buch brandaktuell geworden, lässt nicht nur einen teil der vorgeschichte aufleben, sondern zeigt auch deutlich, wie die menschen im land nur in frieden leben wollen.

27.02.2022

pascal mercier: das gewicht der worte

simon leyland lebt als uebersetzer in london. eines tages begegnet ihm livia, die frau, die er später heiratet und der er nach triest folgt. livia, die tochter eines verlegers führt nach dem tod des vaters den verlag weiter und stirbt selbst, als ihre kinder noch nicht erwachsen sind: somit wird simon der besitzer des verlags. später wird ihm ein hirntumor diagnostiziert, was sein leben völlig verändert. er entschliesst sich, alles zu verkaufen und nach london zurückzukehren. wochen später erweist sich die diagnose als fehler, simon ist zurück im leben und erfüllt sich den traum, selbst eine geschichte zu schreiben.
das eigentlich zentrale thema der fehldiagnose und deren auswirkungen geht in den vielen nebenschauplätzen und begleithandlungen unter. dauernd treten neue personen auf, neue orte, neue beziehungen. viele eher unwahrscheinlich scheinende zufälle lassen das ganze etwas konstruiert erscheinen. alle sind irgendwie reich oder wohlhabend, alle haben wohnungen und häuser voll von bücherwänden, sind intellektuell, mehrsprachig und lesen gerne, was ein verzerrtes bild zur realität gibt. die jeweilige reflexion der ereignisse in fiktiven briefen an seine verstorbene frau geraten immer wieder zu wiederholungen von bereits gesagtem. das war nun definitiv nicht mein buch.

09.02.2022

kenneth bonert: der löwensucher

als sohn jüdischer einwanderer aus litauen wächst isaac in johannesburg auf. schon früh weiss er, was er will, setzt sich auch mal mit fäusten durch. immer steht er zwischen den ansprüchen seines vaters, ein gutes handwerk zu lernen und denen der mutter, die ihn antreibt, mit handel möglichst schnell viel geld zu verdienen. das leben der juden verändert sich in den 1930er-jahren, als die nationalsozialisten in deutschland an die macht kommen. die privilegien, die auch sie als weisse in der apartheidsgesellschaft haben, drohen verloren zu gehen. isaac, immer relativ unpolitisch seine ziele verfolgend, steht zwischen seiner ausbildung als karosseriemechaniker und seiner beteiligung an geschäften von bleznik, einem charmanten vertreter, dessen umgang mit geld eher etwas unseriös ist. gleichzeitig verliebt isaac sich in yvonne, die tochter reicher eltern. die beziehung ist ein stetes auf und ab bis yvonne sich von isaac abwendet. der aber schafft es, in einem noblen quartier ein haus für sich und seine eltern zu kaufen – den traum seiner mutter wahr werden zu lassen.
es ist ein roman, wie selten einer. vielschichtig, übersichtlich und immer spannend führt er uns beim lesen durch isaacs bewegtes leben, lässt uns bei seinen niederlagen mit ihm leiden und uns an seinen erfolgen freuen. einmal angefangen, kann man kaum aufhören zu lesen. trotz der unterhaltsamkeit hat die geschichte tiefgang und präsentiert die südafrikanische gesellschaft in der zeit vor, während und nach dem zweiten weltkrieg. personen und landschaften bleiben manchmal etwas ungenau, was aber nicht wirklich stört – das buch lebt von der rasanten handlung. der etwas überraschend plötzliche schluss lässt einen etwas im vakuum stehen, so dass unweigerlich der wunsch nach einer fortsetzung aufkommt.

31.01.2022

deniz ohde: streulicht

kein schöner ort: eine grosse fabrikzone, die luft ist belastet, im winter fällt industrieschnee. hierher kommt die erzählerin nach einem hochschulstudium zurück zu besuch in das dorf, in dem sie als kind gross geworden ist. sie erinnert sich an das leben in dieser arbeiterwohnung. die mutter ist früh verstorben, der vater ist einer, der nichts wegwerfen kann. nach einem schulabbruch holt sie erst viel später an einer abendschule das gymnasium nach. sie trifft wieder auf ihre ehemaligen mitschüler, die einen anderen gesellschaftlichen hintergrund haben, deren bildungsweg deshalb wesentlich direkter verlaufen ist.
wie noch heute arbeiterkinder und kinder aus migrationsfamilien trotz vielgepriesener chancengleichheit es unheimlich viel schwerer haben, gerecht und richtig wahrgenommen zu werden, dies ist da zentrale thema des buches. mit einer feinfühligen, exakten beschreibung bringt die autorin uns das thema nahe. vorurteile und soziales gefälle lösen früh eigene zweifel aus und stören das selbstbewusstsein. exemplarisch wird aufgezeigt, wie angst davor, sich in der welt ausserhalb der eigenen erfahrungen nicht bewegen zu können, für betroffene zu einer grossen anstrengung wird. damit liefert dieser vielschichtige roman das bild einer realität, die immer wieder ignoriert wird.

23.01.2022

édouard louis: die freiheit einer frau

die mutter des autors wird mit 16 jahren bereits schwanger. von ihren träumen eines besseren lebens bleibt nichts: sie heiratet den vater des kindes, einen gewalttätigen alkoholiker. nach der trennung, trifft sie einen neuen mann, das beziehungsmuster wiederholt sich. erst viel später verlässt sie auch diesen und – mit einem schlechten gewissen – ihre inzwischen erwachsenen jüngsten kinder. als édouard seine mutter trifft, ist sie völlig verwandelt, um jahre jünger aussehend macht sie einen glücklichen eindruck. aus der perspektive des sohns beschreibt der autor, wie er sich als kind eine andere mutter gewünscht hatte, wie auch er sie beleidigte und er in seiner jugend unter diesen umständen litt.
ein eindringliches, ehrliches buch, das nicht nur die beziehung zu seiner mutter, sondern auch die abgründe und auswirkungen der sozialen unterschiede in der gesellschaft beleuchten. beeindruckend ungeschönt, aber auch emotional wird hier über eine frau berichtet, die lange zeit brauchte, zu sich selbst zu finden, bis sie den mutigen schritt zur eigenen befreiung wagte. ein werk das hoffnung macht.

21.01.2022

hannes köhler: in spuren

felix und jakob sind seit ihrer kindheit beste freunde, gemeinsam gross geworden sind sie wie brüder. aber eines tages verschwindet felix und ist nicht mehr erreichbar: er wird vermisst. in seiner wohnung findet jakob ein tagebuch und den computer. er beginnt darin zu lesen und nach dem grund von felix' verschwinden zu suchen. die freundinnen der beiden männer können mit all diesen veränderungen schlecht umgehen, es kommt zu gewalt und trennungen. jakob fragt sich immer mehr, was er wirklich von felix weiss. je fremder dieser ihm wird, umso mehr beginnt er in sein leben einzudringen.
ein geglückter ansatz zu dem spannenden thema: wie gut kennen wir unsere besten freunde? fragen der identität stellen sich ebenso, wie solche nach zukunftsperspektiven, sinn des lebens oder dem umgang mit einem plötzlichen verlust. stark und markant ist die darstellung der unterschiedlichen, teils hilflosen reaktionen der einzelnen personen. trotz der tiefgründigkeit des themas ein leicht zu lesender fesselnder text.

12.01.2022

tomasz jedrowski: im wasser sind wir schwerelos

ludwik und janusz begegnen sich bei einem ernteeinsatz. nach dessen ende verbringen sie eine traumhafte zeit an einem see in masuren, entdecken ihre liebe und werden eins. aber in polen um 1980 muss diese beziehung ein geheimnis bleiben und wird – zurück in warschau – auf harte proben gestellt. im umfeld von hannia und maksio, einem geschwisterpaar, dessen vater ein hoher funktionär ist, tut sich eine neue verlockende welt auf: vieles scheint möglich zu werden. aber ludwik will sich selbst treu bleiben und ein leben ohne kompromisse führen: er träumt davon das land zu verlassen. janusz kann sich ein leben irgendwo sonst nicht vorstellen und versucht sich mit dem herrschenden system zu arrangieren. so steht ludwik immer mehr vor dem entscheid, sich treu zu bleiben und seinen eigenen idealen zu folgen oder sie für seine liebe aufzugeben.
eine mehrschichtige handlung, die sich nicht nur um die liebe der beiden männer dreht, sondern ebenso das funktionieren des damaligen kommunistischen systems darstellt, das wenigen privilegien, vielen aber armut und abhängigkeit beschert. beeindruckend realistisch sind die schilderungen der momente von repression und einem system, in dem beziehungen zu einflussreichen leuten beinahe überlebenswichtig werden. sehr emotional, extrem berührend und nie kitschig schreibt der autor in einer wunderbaren, sehr subtilen sprache die geschichte, die sowohl dramatisch aber auch sehr philosophisch ist. der text findet im harten alltag und der brutalen realität immer wieder zurück zu der aufkeimenden liebe, den träumen und sehnsüchten der beiden. alle figuren – auch die in nebenrollen auftretenden – sind mit wenigen worten charakteristisch genau beschrieben. sie machen einen weiteren reichtum dieses buches aus. mich hat der roman auch so extrem berührt, weil er immer wieder ereignisse und gefühle aus meiner eigenen jugend an die oberfläche schwemmte. jedes kapitel habe ich zweimal gelesen um den genuss möglichst lange zu haben und den schluss weit hinauszuschieben.

04.01.2022

benjamin myers: offene see

roberts obligatorische schulpflicht endet. in seinem heimatort, der von einem kohlebergwerk dominiert wird, ist seine berufliche zukunft vorbestimmt: untertagearbeit als bergmann, so wie sein vater und sein grossvater. für den licht und natur liebenden robert ist dies eine schwierige vorstellung. zuvor will er das meer sehen und macht sich auf zu einer wanderung an die küste. als er unterwegs dulcie, eine starke und unkonventionelle frau, kennenlernt, eröffnet sich ihm eine neue welt, in der kunst und literatur einen wichtigen platz einnehmen. langsam erfährt er auch die geheimnisvolle lebensgeschichte von dulcie.
das erwachsenwerden, der abschied von einem vorgegebenen leben, die erfüllung der träume eines jugendlichen stehen der realität einer älteren frau, ihrem pragmatismus und ihrer weisheit gegenüber. wie die beiden hier aufeinandertreffen und sich gegenseitig viel geben können, ist exzellent beschrieben. eine philosophische tiefe begleitet und stärkt die handlung auf eine art, dass das buch leicht zu lesen ist und viel freude macht.