26.12.2023

florian illies: zauber der stille

wer kennt nicht das bild «kreidefelsen auf rügen» von caspar david friedrich? viel mehr über den künstler erfährt man in diesem buch. in vielen kurzen texten zeichnet der autor das leben und schaffen des malers nach und lässt so ein gesamtbild dieses stillen, etwas menschenscheuen künstlers, seiner familie und seiner zeit entstehen. darüber hinaus geht er dem schicksal der vielen werke nach. viele von ihnen werden von reichen adeligen oder monarchen gekauft und werden weitervererbt. etliche verschwinden, tauchen wieder auf oder hängen bis zu ihrer wiederentdeckung jahrzehntelang unerkannt in irgendwelchen stuben. etliche werden in kriegswirren zerstört, einzelne zeitweise andern malern zugeschrieben, denn signiert hat caspar david friedrich seine werke nicht. die unterschiedlichen interpretationen durch kunstsachverständige werden ebenso beleuchtet, wie der versuch der nationalsozialisten und der sozialisten, ihn für ihre sache zu vereinnahmen.
das buch ist eine faszinierende art, sich auf eine ganz andere weise einer biografie zu nähern und eine vergangene zeit auferstehen zu lassen. eine echte weiterbildung, die zugleich leicht, spannend und interessant zu lesen ist, ohne auch nur einen moment langweilig zu sein.

23.12.2023

donna leon: himmlische juwelen

als die historikerin caterina pellegrini das angebot erhält, bei einer venezianischen stiftung sich zweier geheimnisvollen truhen, dem nachlass des komponisten und kirchenmanns agostino steffani, anzunehmen, freut sie sich wieder in ihrer heimatstadt arbeit zu finden. die nachkommen steffanis, zwei sich nicht vertrauende cousins, erwarten ein grosses erbe, doch zunächst finden sich nur viele bündel wenig bedeutender papiere. als caterina aber auf einen doppelten boden in der einen truhe stösst, steigt die spannung: der wirkliche schatz wird gehoben.
wem die krimis mit commissario brunetti vertraut sind, trifft hier auf eine etwas andere donna leon. etwas weniger spannend, aber immer noch süffig zu lesen, folgt sie der historisch belegten figur des wenig bekannten komponisten steffani auf eine interessante und vielschichtige weise. das lokalkolorit von venedig – immer noch präsent – tritt jedoch etwas in den hintergrund. weiterhin stark sind die gesellschafts- und kirchenkritischen elemente, die diesen zeitweise etwas unübersichtlichen roman durchziehen. aber ein lesenswertes buch, weil es eine andere facette der autorin zeigt.

27.11.2023

paul savatier: der entführer

victor, ein einfacher gelegenheitsarbeiter, ist wegen einer kindesentführung angeklagt und sitzt deswegen im gefängnis. aber alles hat sich anders ereignet. weil er sich mündlich schlecht ausdrücken kann, schreibt er die wahrheit in heften für den richter und seine verteidigung auf. er hat die 10-jährige nathalie zufällig völlig durchnässt im starken regen getroffen. seit ihr vater nicht mehr da ist, wird sie von ihrer mutter und ihrer schwester geschlagen. ganz anders begegnet ihr victor: sie fasst vertrauen zu ihm, er lässt sie bei sich übernachten und sie versteckt sich da. es ist victor bewusst, wie heikel eine solche situation ist. deshalb begegnet er nathalie immer mit distanz und grösster sorgfalt. tagelang wird das abgängige mädchen erfolglos gesucht, bis sie nach einigen monaten eines unglücklichen zufalls wegen, entdeckt wird.
die hefte von victor sind unkommentiert das buch. mit einer grundehrlichen haltung und einer für ihn stimmigen sprache schreibt er über diese gemeinsame zeit, über seine fürsorge, seine zweifel und seine listen. dieser einfühlsame text ist spannend, sehr berührend und lässt einen an das gute im menschen glauben. der aufbau des romans ist einzigartig: erst ganz zum schluss wird klar, wie die geschichte ausgeht.

24.11.2023

andreas neeser: wie wir gehen

am 83. geburtstags umarmt mona ihren vater johannes zum ersten mal. ihm, der unter schwierigen verhältnissen aufgewachsen ist, gelang es als jugendlicher seinen weg aus armen verhältnissen zu finden. dies hat ihn geprägt, er bleibt für seine tochter ein stiller und wenig nahbarer vater. mona steht mitten im leben, ist geschieden von ihrem mann pierre und hat eine tochter, die ihre eigenen wege zu gehen beginnt. sie erkennt, wie fremd ihr der vater eigentlich ist und versucht dem alten, kranken mann näher zu kommen. als uebersetzerin für arabisch begegnet sie dem syrischen asylbewerber salim, zu dem sie kontakt behält und dessen schicksal sie belastet, dessen verhalten sie jedoch nicht immer versteht.
in einer schönen, ruhigen sprache werden hier die sehr unterschiedlichen leben verschiedener menschen und deren nicht einfache beziehungen erzählt. neben dem eindrücklichen rückblick auf den werdegang des vaters bleiben die anderen personen etwas blass. jeder und jede hat ein anderes leben, hat andere gedanken und vorstellungen. ohne psychologisierung versteht der autor die probleme und schwierigkeiten darzustellen. der roman bleibt trotz der vielen handelnden und der zeitsprünge übersichtlich und ist berührend zu lesen.

19.11.2023

simon deckert: siebenmeilenstiefel

die mittlerweile erwachsene andrea und ihr etwas jüngerer bruder michl wachsen in einem schwierigen umfeld auf. ihr vater ist alkoholkrank, die mutter hat die familie schon lange verlassen. eines tages flüchtet sie gemeinsam mit ihrem bruder aus dieser enge zu einer verwandten in der stadt. michl, für den die schule nicht einfach war und das leben auch schwierig ist, findet in bastian einen freund, mit dem er musik machen kann. andrea arbeitet zeitweise in einer bar. daneben erfindet sie eine eigene biografie, die sie mit fantasievollen lebewesen und ereignissen anreichert. sie verliebt sich in bastian, die zwei beginnen eine beziehung, in der bastian der realistischere ist. er bringt andrea dazu ihre maturitätsprüfung doch noch nachzuholen. irgendwie ist der roman dann plötzlich zu ende, alles bleibt offen.
so kompliziert die beschreibung des inhaltes erscheint, so ist dieser auch. kurz: zwei junge menschen, die eine neue lebensgrundlage suchen und träume haben. aber keine einfach ablaufende, sondern eine komplexe auf verschiedenen ebenen und in verschiedenen zeiten angelegte geschichte. das ganze kommt etwas unübersichtlich daher, erst gegen schluss lassen sich beziehungen und ver­wandt­schaftsgrade der handelnden überblicken. der etwas ungewohnte umgang mit dem genitiv irritiert zunächst, macht das buch aber damit irgendwie sympathischer. mich hat es trotz der aktualität des themas nicht wirklich erreicht.

31.10.2023

claude alain sulzer: doppelleben

edmond und jules de goncourt, wohlhabende brüder, die alles teilen und lebenslang zusammen wohnen, bewegen sich mitte des 19. jahrhunderts in pariser künstlerkreisen und sind selbst schriftstellerisch tätig. ihr haushalt wird durch rose geführt, eine treue, dienstfertige und diskrete angestellte. die beiden brüder – so lange steht sie schon im dienst der familie – kennt sie schon als kinder. als rose sich in den sohn der benachbarten ladenbesitzerin verliebt, tut sie alles um in seiner gunst zu stehen. der jedoch nutzt sie schamlos aus und zerstört zunehmend ihre existenz. mit sich selbst beschäftigt nehmen die beiden brüder dies aber nicht wahr, bis rose schwer erkrankt stirbt.
die geschichte entführt einen in die welt des damaligen paris und zeigt etwas vom sozialen gefälle dieser gesellschaft. so unterschiedlich und fremd die lebenswelten der beiden brüder und ihrer bediensteten sind, zeigen sich fein und treffend beschrieben, die aufflackernden menschlichen regungen. eine spannend geschriebene und trotz des tragischen themas schön zu lesende art sozialstudie, die über eine vergangene welt berichtet.

21.10.2023

marco balzano: ich bleibe hier

das leben in graun, einem kleinen bauerndorf im obersten teil des vinschgaus, ist karg und es sind schwierige zeiten. hier lebt die dorfschullehrerin trina. seit jahren bestehen pläne für einen staudamm, der die existenz des dorfes gefährden würde. als nach der machtübernahme mussolinis die lange still­stehenden arbeiten wieder aufgenommen, die deutschsprachigen schulen verboten und durch italienische ersetzt werden, nehmen viele einwohner die option ins deutsche reich zu ziehen an. trina verliert ihre stelle und unterrichtet die verbleibenden kinder in verbotenen katakombenschulen. ihr mann erich wird einberufen. als er verwundet heimkehrt, wird er zu einer der führenden personen im widerstand. trina bleibt an seiner seite und unterstützt ihn.
basierend auf historischen tatsachen wird hier ein stück geschichte über macht und ohnmacht lebendig. berührend und spannend werden persönliche sorgen und aengste, aber auch mut und kraft der menschen beschrieben, denen weltgeschichtliche ereignisse ihre besten jahre, den geringen besitz und die heimat nehmen. das buch berichtet von einer staatlichen machtdemonstration und macht auf eine subtile art bewusst, wie schnell sich alles verändern kann und nichts auf sicher ist.

19.10.2023

paolo giordano: in zeiten der ansteckung

ein kleines schönes buch mit einem schwierigen aber faszinierenden inhalt. darin setzt sich der physiker paolo giordano mit dem phänomen der beginnenden covid-pandemie auseinander. in kurzen aufsatzartigen kapiteln beleuchtet er verhalten, aengste, reaktionen und vieles mehr. er versucht einen rationalen zugang zum ereignis selbst und dessen auswirkungen und folgen zu erläutern. mit seiner klaren, kritischen stellungnahme über das handeln der menschheit und dessen folgen, beschreibt er undogmatisch und eindringlich zusammenhänge, die uns eigentlich bekannt sein müssten. das buch hat auch einige jahre später nichts von seiner aktualität verloren und lässt uns vielleicht erahnen, dass diese pandemie nur ein vorbote von dem war, was noch auf uns zukommen wird.

10.10.2023

dmitrij kapitelman: das lächeln meines unsichtbaren vaters

spontan beschliessen vater und sohn eine gemeinsame reise nach israel. der vater ein nicht gläubiger – nach seinem weggang aus der ukraine nach deutschland – heimatloser jude, ist verheiratet mit einer nichtjüdin. deshalb stellt sich für ihren sohn dima, die frage nach seiner jüdischen identität. so reisen sie nun gemeinsam und treffen alte freunde von früher, die nach dem zerfall der sowjetunion nach israel ausgewandert sind. bald stellen sich jedoch sehr unterschiedliche bedürfnisse heraus. während des vaters ziel der besuch des grabes eines alten freundes ist, will der sohn auch das westjordanland besuchen. so macht er sich allein auf den weg dahin, lernt junge leute kennen, darunter dina, eine junge palästinenserin, in die er sich auch verliebt. das ganze wird nicht nur zu einem versuch, seinen vater besser kennenzulernen, sondern auch zu einer schwierigen identitätssuche für dima über sein verhältnis zum judentum und zu israel.
diese spannende auseinandersetzung mit seinem leben als junger mensch jüdischer herkunft, der weder religiös ist, noch sich mit seiner religion wirklich auseinandergesetzt hat, lässt einen kaum los beim lesen. vor dem gut beobachteten hintergrund des komplizierten dortigen alltags beschreibt der autor dazu das dilemma einer liebevollen, aber nicht ganz einfachen vater-sohn-beziehung. viele versöhnliche momente lassen auch ein wenig hoffung auf eine bessere zeit aufkommen. streckenweise sehr emotional, spannend und schön zu lesen. es ist ein wohltuend differenziertes buch, ja eine aktuelle israel-reiseliteratur.

18.09.2023

daniel de roulet: zehn unbekümmerte anarchistinnen

als bakunin mitte des 19. jahrhunderts in saint-imier weilt, lassen sich verschiedene junge uhren­arbeiterinnen von seinen reden anstecken. zehn von ihnen fassen den plan von hier wegzugehen, um in der neuen welt einen ort zu finden, an dem sie diese ideale der anarchie verwirklichen können. zwei von ihnen gehen voraus, erleiden aber bald einen gewaltsamen tod. die anderen lassen sich dadurch aber nicht von ihren plänen abbringen. während der mühevollen ueberfahrt nach südamerika stirbt eine von ihnen, so sind sie nur noch sieben. in punta arenas, ganz im süden chiles beginnen sie sich dieses neue leben aufzubauen, werden erfolgreich mit einer bäckerei und einer uhrmacherwerkstatt. sie trotzen allen widrigkeiten, nehmen sich das recht zu ihrer freiheit in einer noch jungen gesellschaft, die von männlicher machtdominanz geprägt ist. aber immer wieder verlieren sie eine der mitstreiterinnen, bis zum schluss nur die erzählerin übrigbleibt.
auf der basis von historischen gegebenheiten und fiktiven ereignissen wird schweizerische auswanderungsgeschichte erzählt. wunderbar sind die einzelnen personen gezeichnet, ihre wünsche, träume und realität. das spannungsfeld, in dem diese frauen handeln, fasziniert ebenso wie ihre gegenseitige toleranz und unverbrüchliche solidarität. so kommt man ihnen beim lesen sehr nahe. der unterhaltsame charakter des textes tut seiner ernsthaftigkeit keinen abbruch.

16.09.2023

margrit cantieni: 1941, liebe in herzlosen zeiten

als marek und sophia sich zum ersten mal treffen, ist es die liebe auf den ersten blick. aber es ist nicht einfach, denn marek ist ein internierter polnischer soldat und beziehungen zu einheimischen frauen werden nicht gerne gesehen. trotzdem treffen sie sich immer wieder. sophia wird schwanger, was zu weiteren schwierigkeiten führt. als liebevoller vater nimmt marek jede möglichkeit wahr, mutter und tochter zu sehen. aber er hat auch heimweh nach seinem land und seiner familie. dazu kommt, dass für solche paare ein amtliches heiratsverbot gilt.
ein sehr schönes und emotionales buch, das die spannung vom anfang bis zum schluss hält. vor dem hintergrund eines stücks schwieriger, wenig bekannter und nicht gerade rühmlicher geschichte der schweiz entfaltet sich das persönliche schicksal zweier junger menschen. die beschreibung der lebensumstände, der damaligen verhältnisse und der emotionen faszinieren beim lesen immer wieder. ganz auf der seite des paares stehend, teilt man leid und freude, schwankt dauernd zwischen hoffnung und verzweiflung. menschlichkeit und unmenschlichkeit stehen einander immer wieder gegenüber. ein richtig eindringlicher roman – der einmal begonnen – einen richtigen sog entfaltet.

12.09.2023

irina kilimnik: sommer in odessa

olga lebt in einem frauenhaushalt. einziger mann ist ihr grossvater, ein patriarch, um den sich alles dreht. ihre mutter und ihre beiden tanten sind ihm stets zu diensten und halten seine launen aus. olga studiert nicht ganz freiwillig medizin. mit ihrem mitstudenten radj lässt sich der universitätsbetrieb aber aushalten. das schwankende, etwas unstabile verhältnis zu ihrer besten freundin mascha erlaubt es ihr nicht immer, sorgen mit ihr zu teilen. alles geht seinen gang, bis eines tages david, ein jugendfreund des grossvaters aus amerika zu besuch kommt. olga entdeckt etwas, das sie ahnen lässt, dass david ein geheimnis mit sich trägt. es dauert ein paar tage, bis er damit herausrückt und nichts ist mehr wie vorher in dieser familie.
ein wirklich erfrischender, unterhaltsamer roman der eine überraschende tiefe hat. witzig und gut beobachtet beschreibt die autorin die geschehnisse und lässt einen bereits ahnen, dass wenige jahre später der krieg in der ukraine ausbricht. treffend beschriebene charaktere geben der geschichte eine besondere note. das gelungene buch ist eine spannende lektüre, die man kaum unterbrechen kann.

02.09.2023

florian gottschick: damals im sommer

zwei brüder verbringen die sommerferien mit ihren eltern am meer. der sportliche aeltere ist mit seinen 17 jahren schon ziemlich selbstsicher. der fünfzehnjährige ich-erzähler ist voll von zweifeln und bewundert seinen bruder. trotz aller unterschiede haben die beiden aber ein inniges verhältnis. am strand lernen sie den rätselhaften filip kennen. der jüngere ist fasziniert – bisher nicht gekannte gefühle brechen über ihn herein. die beiden kommen sich näher, bis sie am letzten ferientag die nacht miteinander verbringen. nach der abreise bricht der kontakt ab und filip bleibt kaum erreichbar. dann verändert eine nachricht in seinen sozialen medien alles, lässt den jüngeren bruder auf einen schlag erwachsener werden.
der aus der retrospektive erzählte familienroman ist auch ein liebesdrama und eine schwule coming-out-geschichte. der sprachlich oft ein wenig eigenartige, streckenweise konstruiert wirkende text erscheint etwas überladen und handlungsgehetzt. sehr schön ist die darstellung des komplizierten verhältnisses der beiden brüder, während die eltern eher etwas plakativ daherkommen. alles in allem ist das buch jedoch spannend zu lesen. es kam mir – mich an meine eigene pubertät erinnernd – irgendwie sehr nahe.

 

29.08.2023

damon galgut: das versprechen

auf einer farm ausserhalb pretorias leben die swarts. als rachel, die mutter, ziemlich jung stirbt nimmt sie ihrem ehemann das versprechen ab, wonach ihre bedienstete, das kleine haus in dem sie auf der farm wohnt, als eigentum erhalten soll. amor, ihre jüngste tochter, wird zeugin dieses gesprächs. zunächst passiert jedoch nichts – noch ist es schwarzen nicht erlaubt grundbesitz zu haben. das apartheidsystem nimmt ein ende: die zerfallende farmerfamilie wird mit besitzansprüchen des ursprünglich ansässigen stammes konfrontiert. zuletzt kümmert sich amors schwägerin um die erbangelegenheiten. amor kommt nach langer abwesenheit zurück, mit der klaren mission, das damalige versprechen endlich einzulösen.
eine geschichte, die in der zeit des apartheidsregimes in südafrika beginnt und sich über jahre hinzieht. die politischen veränderungen beeinflussen das leben der privilegierten weissen. ein tiefgründiges familienepos über recht und unrecht, macht und ohnmacht, liebe und hass. subtil, unaufdringlich, aber entlarvend taucht in den gesprächen die wertehaltung der einzelnen personen auf. die manchmal etwas unkonventionellen satzkonstruktionen lassen einen noch einmal ein paar zeilen zurückzufahren, um zu verstehen, worum es geht. sonst aber, trotz des ernstes der sache, leicht zu lesen.

20.08.2023

josé luís peixoto: galveias

eines nachts im jahr 1984 schlägt in galveias, einem dorf im alentejo, ein meteorit ein. vom ohrenbetäubenden lärm erwachen die menschen, verlassen ihre häuser und verstehen zunächst nicht, was geschehen ist. starker schwefelgeruch liegt in der luft und durchdringt alles. man klagt über dieses schicksal, aber schon bald geht das leben wieder seinen gewohnten gang. in dieser gemeinschaft gibt es dinge, über die nicht geredet wird, und menschen, die ihre geheimnisse haben: zwei brüder, die wegen einer erbstreitigkeit verfeindet sind, finden sich wieder. der dem alkohol verfallene priester versteckt seine weinflaschen im ganzen haus. junge männer machen ihre nächtlichen rennen auf lärmigen kleinmotorrädern. der postbote fährt wie jedes jahr nach bissau, wo er eine familie hat, von der hier niemand etwas weiss. und es gibt auch den arzt, der gleichzeitig grossgrundbesitzer ist. eines nachts wird die im dorf ihre dienste anbietende prostituierte versehentlich erschossen und ... ein kind kommt zu welt, das als einziges nicht nach schwefel riecht.
dieses epische sittengemälde einer gesellschaft, das die dortigen lebensumstände skizziert, lässt einen ins damalige, ländliche portugal eintauchen. das soziale gefälle, die machtstrukturen und die ungeschriebenen gesetze werden noch kaum hinterfragt, doch scheinen riten und regeln an bedeutung zu verlieren. viele kapitel widmen sich jeweils einer person und bilden letztlich ein etwas unübersichtliches ganzes, was dem gesamtwerk aber keinen abbruch tut. die verwandtschaftsverhältnisse sind nicht immer einfach zu überblicken und etliche männer und frauen haben neben ihrem namen auch uebernamen. so wäre ein personenverzeichnis hilfreich. die stärke des buches ist die darstellung des dörflichen lebens und die genaue beschreibung der einzelnen menschen. wer portugal liebt, muss es unbedingt lesen.

17.08.2023

lukas bärfuss: vaters kiste

die kiste hat schon mehrere seiner umzüge mitgemacht. erst jetzt als sein vater gestorben ist, schaut er ein erstes mal hinein, findet fotos und papiere, erinnerungen an seine schwierige kindheit, an das komplizierte verhältnis zu seinem vater und eine jugend auf der strasse. aus diesen unterprivilegierten verhältnissen stammend, stellt er sich fragen, sucht und findet antworten: über das erbrecht, die bedeutung familiärer bindungen bis zu unserem umgang mit der umwelt und die daraus resultierende hinterlassenschaft für unsere nachfahren.
ein sehr philosophisches buch, in dem sich der autor mit einigen grundsätzlichen fragen unserer art und weise zu leben auseinandersetzt. komplexe gedanken kommen in kompakten sätzen auf einen zu. so wird das lesen zu einer herausforderung. kein text, den man einfach lesen kann. er erfordert viel konzentration und aufmerksamkeit. tiefe wahrheiten werden hier differenziert vermittelt.

15.08.2023

christof vorster: first lady

jesse überlebt den flugzeugabsturz eines gefangenentransports. mit fussfesseln und handschellen rettet er sich aus dem flugzeugwrack und sieht einer unsicheren zukunft entgegen. er wird von stas, einem skurrilen einsiedler, gesund gepflegt. eigentlich hätte alles gut werden können, aber die umstände erlauben es nicht, stas wirft ihn raus. so beginnt eine unsägliche odyssee mit wechselnden schauplätzen und nicht wenigen toten. oft muss jesse freunde zurücklassen, aber er hat das glück, auf menschen zu treffen, die ihm weiterhelfen, wenn es schwierig wird: er ist einer, der immer wieder auf die füsse fällt. ganz am ende scheint es gut zu werden. er beerbt einen reichen unterweltboss, aber auch dessen imperium wird von feinden beansprucht.
der wilde, ungestüme roman hat etwas atemloses. rasant wird man durch diese handlung mit dauernd wechselnden schauplätzen und akteuren geführt, was die spannung hält. mit dieser abenteuerlichen, teilweise unwahrscheinlichen geschichte werden jedoch aktuelle probleme der welt, wie ausbeutung, korruption, gewalt oder armut treffend und konzentriert beschrieben. sexuelle ausschweifungen, unerfüllte und erotische wünsche ziehen wie ein roter faden durch das buch. ganz stark sind die prägnanten beschreibungen von jesses emotionen. was das lesen aber ganz besonders macht, ist diese direkte, schnörkellose und trotzdem reiche sprache mit dem zuweilen aufleuchtenden leichten sarkasmus. insgesamt eine nicht ganz leichte kost, von der man hofft, sie sei nicht allzu sehr autobiografisch.

13.08.2023

torsten schulz: boxenhagener platz

oma otti hat schon fünf männer überlebt, dem sechsten geht es auch schon schlecht und gleichzeitig stellt ihr der 80-jährige karl nach. in ost-berlin, ende der 1960er-jahre, tut sie sich schwer mit dem politischen regime. sie, die schon zwei weltkriege erlebt hat, beschränkt sich auf die pflege der gräber ihrer männer und verstorbenen freundinnen. ihr enkel holger, der mehr oder weniger bei ihr lebt, muss sie jeweils begleiten, obwohl er lieber fussball spielte. als der fischhändler winkler erschlagen aufgefunden wird, geht die suche nach dem mörder los. holger ist mitten in den ermittlungen dabei, was nicht immer ganz unproblematisch ist.
roman, krimi, sozialstudie: all das ist dieses buch, das man beim lesen gleich ins herz schliesst. ein stück lebensrealität der ddr, einige jahre nach dem mauerbau, entfaltet sich hier auf eine liebevolle weise. die beziehungen der menschen untereinander, die immer oft auch von vorsicht und misstrauen geprägt sind, werden hier, ebenso wie das beinahe dörfliche leben um diesen platz, auf eine sehr reale weise beschrieben. wunderbare charaktere agieren in einer handlung, die so phantastisch sie ist, durchaus auch real gewesen sein könnte. eigentlich werde ich gerade neugierig auf diesen ort und möchte selbst dort sein.

10.08.2023

timur vermes: er ist wieder da

wir schreiben das jahr 2011, auf einem verlassenen grundstück erwacht adolf hitler mitten in berlin. als erstes erblickt er ein paar jungen, die sich über den skurrilen, verdreckten alten lustig machen. ein eigenartiger dialog beginnt, sie kennen ihn nicht, er wundert sich über deren verhalten. hitler findet hinaus auf die strasse, staunt über all die veränderungen und stellt an einem zeitungskiosk endlich fest, in welchem jahr wir uns befinden. er ist in seiner alten eigenen realität, während er von den menschen als komiker gelesen wird, der den ehemaligen reichsführer persifliert. bald wird er von fernsehleuten entdeckt und in eine comedy-show eingeladen. nach seinen ersten auftritten erhält er seine eigene sendung. die geschichte nimmt ihren lauf.
ein höllisches buch, eine satire, die immer wieder grenzen auslotet, diese aber nicht überschreitet. bestechend wird das funktionieren des heutigen politbetriebs, das agieren des heutigen politischen establishments, aber auch das profitdenken der wirtschaft analysiert und kritisiert. dies alles aus der sicht des protagonisten mit seinem nationalsozialistischen hintergrund, was beim lesen immer mal wieder gänsehaut und befremden aufkommen lässt. trotz dieser satirischen gratwanderung bleibt die botschaft des romans immer klar und setzt den fokus auf die gefahr, wie wenig es brauchen würde, um die verhältnisse wieder zurückkippen zu lassen. dies ist der höchste verdienst dieses buches.

04.08.2023

dominik barta: tür an tür

bald dreissig jährig zieht kurt in eine eigene wohnung. mit seiner homosexualität tut er sich nicht eigentlich schwer, aber eine dauerhafte beziehung hat er bisher noch nie gehabt. bald lernt er die anderen leute im haus kennen: das ganze hat eine familiäre atmosphäre in der vieles geschieht. seit seiner kindheit ist frederik sein bester freund, sie teilen freuden und sorgen. als frederiks beziehung zerbricht, zieht er zunächst vorübergehend zu kurt. dieser ist gerade verliebt in ferhat, einen seiner schüler, der als flüchtling aus dem irak stammt. als ferhat unerwartet ein versteck braucht, kommt er bei kurt unter, während frederik im haus eine eigene wohnung beziehen kann.
es ist etwas viel los in diesem buch, so ganz genau erschliesst sich mir die handlung nicht. die beneidenswerte stabile jugendfreundschaft der beiden und die sozialen beziehungen im haus stehen im vordergrund, aber das eindrückliche dieses romans ist die wunderbare beschreibung der gefühle, träume und unsicherheiten von kurt. dies entwickelt sich immer mehr zur zentralen botschaft.

02.08.2023

arto paasilinna: ein bär im betstuhl

zum fünfzigsten geburtstag schenkt die gemeinde ihrem pfarrer oskari huuskonen einen jungen bären - ein etwas ungewöhnliches geschenk! die frau des pfarrers ist über den neuen mitbewohner wenig erbaut und trennt sich bald von ihrem mann. als eigenwilliger pastor verliert er auch seine stelle. damit beginnt eine unwahrscheinliche odyssee durch den norden europas, über dessen ausgang man bis zum letzten kapitel im unklaren bleibt.
mit viel phantasie wird hier eine unwahrscheinliche geschichte erzählt, die manchmal ernst, manchmal witzig und humorvoll daherkommt. viele wechselnde ereignisse und neue schauplätze halten die geschichte am laufen. die bildhaften beschreibungen der oft etwas skurrilen menschen und der märchenhafte handlungsverlauf fernab jeglicher realität führen aber immer wieder auch zu gesellschaftskritischen betrachtungen. insgesamt ist der roman eine unterhaltsame, leichte ferienlektüre.

27.07.2023

simon froehling: dürrst

künstlerische erfolge, intensive liebesbeziehungen, klinikaufenthalte und leben in verschiedenen städten prägen dürrsts junges leben. als sohn aus wohlhabendem, bürgerlichem haus überwirft er sich schon früh mit seinen eltern, die ihm immer viel weniger nah waren, als barbarella, die haushälterin. bei ihr fühlt er sich schon als kind verstanden. er führt ein schwieriges leben zwischen psychischen hochs und tiefs, die seine bipolare erkrankung mit sich bringen. immer wieder kann man seine einsamkeit erahnen, obwohl er sich auf einige freunde verlassen kann.
der einblick in das leben eines manisch-depressiven menschen ist sehr berührend. mit einer realistischen beschreibung von gefühlen und zuständen aus einer aussenperspektive vermittelt er, welchen einfluss die krankheit auf seinen alltag und seine lebensperspektiven nimmt. surreal hedonistische momente wechseln mit abgrundtiefen verzweiflungen. spannend, wenngleich auch manchmal irritierend sind die immer wieder unvermittelt wechselnden zeitebenen der erzählung. rasant geschrieben und gut lesbar hinterlässt dieses autobiografische buch eine bleibende erinnerung.

20.07.2023

jonas lüscher: frühling der barbaren

der fabrikbesitzer preisig wird in tunesien an die hochzeit reicher junger engländer eingeladen. ein luxushotel in einer wüstenoase ist der schauplatz dieses opulenten festes. aber während dieser nacht wird der englische staat zahlungsunfähig – das pfund verliert rasant an wert und alle kreditkarten englischer banken werden gesperrt. ein böses erwachen am anderen morgen: die zuvor noch unbeschwerten jungen reichen stehen ohne geld und arbeit da. diese ausnahmesituation lässt die menschen sehr unterschiedlich reagieren und teilweise zu barbaren werden.
in einer virtuosen sprache erzählt der autor nicht nur eine in der heutigen zeit durchaus mögliche geschichte, er zeigt auch abgründe menschlichen verhaltens auf. gegen schluss übersteigt die handlung aber immer mehr die realität. ganz besonders sind die langen, verschachtelten sätze, in denen er grammatikalische uns stilistische möglichkeiten der deutschen sprache bis aufs äusserste ausreizt. und trotzdem ist der ganze text recht gut zu lesen. ein wirklich gekonntes kleines werk, das auf nur 120 seiten eine ganz eigene faszination auslöst.

11.07.2023

ilmar taska: probeda 1946

kurz nach ende des zweiten weltkrieges werden die vorher unabhängigen baltischen staaten teil der sowjetunion. der russische geheimdienst macht erbarmungslos jagd auf menschen, die sich für die unabhängigkeit einsetzen. in tallin lebt die familie eines widerstandskämpfers bisher unbehelligt von der neuen staatsmacht. der vater versteckt sich seit zwei jahren zuhause. sein kleiner sohn weiss nicht viel von diesen umständen. als er die einladung eines fremden mannes annimmt in dessen schönes auto zu steigen, gerät er in die fänge eines geheimdienstagenten, der ihn wie beiläufig ausfragt. unwissentlich verrät er so seinen vater, der bald abgeholt wird. als auch seine mutter verschwindet, lebt er bei deren halbschwester, die aber ausreisepläne hat und ihn letztlich alleine zurücklassen muss.
eine unschöne geschichte wird hier wunderbar exakt und schön erzählt. die schilderung des lebens in estland nach dem krieg, geprägt durch die einführung einer sozialistischen gesellschaftsordnung, lässt einen ahnen, wie schwierig die situation damals war. die vorsichtig verschlüsselte kommunikation der menschen, der unabhängigkeitswille eines volkes und das unmenschliche, totalitäre system unter stalin kommen in diesem buch treffend zur sprache. der autor beschreibt dramatisch und akribisch genau, wie bereits ein junge instrumentalisiert wird. kraftvoll zeigt er die ereignisse aus dem blickwinkel eines kindes auf. der schon von beginn an spannende roman nimmt immer mehr an fahrt auf gegen ende konnte ich das buch kaum noch weglegen.

05.07.2023

robert seethaler: das café ohne namen

nach einer nicht einfachen kindheit ohne eltern beginnt der junge simon mit gelegenheitsarbeiten auf dem karmelitermarkt in wien. er wohnt in einem zimmer bei einer kriegswitwe und ist zufrieden mit seinem leben. als er von einer leerstehenden gastwirtschaft erfährt, lässt er sich von der aufbruchstimmung in den 1960er-jahren mitreissen und pachtet das lokal. er beginnt ein café nach seinen vorstellungen zu führen. bald hat er eine grosse stammkundschaft, für viele wird das lokal zu einer art heimat, wo gegessen, getrunken, gestritten, geliebt und geträumt wird.
es ist ein weiteres schönes buch von robert seethaler, in dem er nicht nur die stimmung im nachkriegs-wien treffend ausleuchtet, sondern auch meisterhaft sorgen und freuden von menschen beschreibt, die nicht immer auf der sonnenseite des lebens stehen. die einzelschicksale berichten aus dem alltag der sogenannt kleinen leute, die ihr leben trotz vieler widrigkeiten zu meistern verstehen. Die bildhafte darstellung der einzelnen figuren trägt ihr übriges dazu bei. ein roman, dessen unkomplizierte direktheit sehr emotional bewegt und eine grosse lesefreude auslöst.

30.06.2023

elif shafak: schau mich an

sie ist extrem übergewichtig – er ist kleinwüchsig: einzeln unterwegs ziehen sie schon alle blicke auf sich. wenn sie gemeinsam auftreten, werden sie von allen angestarrt. deshalb gehen sie nicht gerne aus, am wohlsten fühlen sie sich zuhause in ihrer wohnung. während sie sich permanent mit ihrem dicksein auseinandersetzt und damit hadert, scheint ihn seine kleinwüchsigkeit kaum zu beschäftigen. so zieht sie sich immer mehr zurück, während er sich eher der welt zuwendet und ein lexikon der blicke schreibt, in dem er alle begriffe sammelt, die mit sehen und schauen zu tun haben.
treffend und demaskierend beschreibt die autorin den umgang mit menschen, die irgendwie nicht der norm entsprechen und allein durch ihre erscheinung aechtung erfahren. trotzdem hat mich das buch nicht richtig erreicht. komplex und kompliziert angelegt, mit zeitsprüngen und retrospektiven, die irgendwie schlecht einzuordnen sind, lässt es – etwas unübersichtlich daherkommend – mich ratlos mit der frage zurück, worum es wirklich geht.

21.06.2023

ariane koch: die aufdrängung

eine junge frau lebt alleine in einem grossen haus. sie nimmt einen gast auf, der dann bei ihr lebt. ihr bisher geordnetes leben verändert sich, der gast nimmt neben der zugewiesenen kammer immer mehr raum ein, verhält sich unerwartet und hat ansprüche. die gastgeberin erlebt einschränkungen, aber auch freudige momente. macht und unterwerfung beginnen ihre zufällige beziehung zu dominieren, bis zu dem tag, als der gast das haus verlässt und weiterzieht. auch sie begibt sich auf eine reise und wird ihrerseits zur gästin.
trotz einer kaum vorhandenen handlung geschieht in diesem text ganz viel. immer wieder fasziniert beim lesen die begegnung mit ungewohnt vertrauten gedankengängen. streckenweise sehr abstrakt bleibt das buch stilistisch ein leckerbissen. die nur vage beschreibung der figuren lässt vor allem deren verhalten und handeln ins zentrum rücken. die sprachlich und inhaltlich wunderbaren satzkonstruktionen geben dem ganzen werk eine beachtliche einzigartigkeit.

18.06.2023

lukas baerfuss: eine krume brot

in der schule hat adelina mühe mit rechnen, lesen und schreiben. ihre wirklichen begabungen werden kaum gefördert. so bleibt ihr letztlich als junge frau nur die arbeit in der fabrik. dazu wird sie ungewollt schwanger und nach einiger zeit vom kindsvater verlassen. als alleinerziehende mutter muss sie sehen, wie sie über die runden kommt. sie lernt emil kennen, einen erfolgreichen mann, der nicht nur ihre schulden bezahlt, sondern sich auch liebevoll ihrer tochter emma zuwendet. mit dem kauf eines alten bauernhofs in den piemontesischen bergen scheint emil eine gemeinsame zukunft zu planen. plötzlich verschwindet emma dort und auf der suche nach ihr, trifft adelina auf leute einer revolutionären untergrundbewegung, die ihr anbieten, ihre tochter zu suchen, wenn sie einen gefährlichen auftrag übernimmt.
schon jahre vor der geburt der hauptprotagonistin beginnt der roman und bildet einen schönen einstieg in die exemplarische geschichte über das leben einer frau in immer auswegloserer armut, mit den daraus resultierenden gefahren. verzweigt und immer wieder sich überraschend wendend bleibt die handlung realistisch und besticht nicht zuletzt durch die treffenden schilderungen der aengste und stimmungen. die direkte sprache lässt einen kaum los und bildet das problem der armut und deren folgen unmittelbar und unausweichlich ab. der in die 1970er-jahre gelegte roman ist mit seiner thematik nach wie vor aktuell und trotz des ernsten themas und der tragik schön zu lesen.

12.06.2023

sasha filipenko: der ehemalige sohn

nach einem unfall liegt der junge musiker franzisk im koma. längerfristig wird er von den aerzten aufgegeben, nur seine grossmutter glaubt daran, er werde wieder erwachen. täglich sitzt sie stunden an seinem bett, spricht mit ihm, liest ihm vor und pflegt ihn. nach zehn jahren erwacht er aus seinem koma und erholt sich unwahrscheinlich schnell. zurück im alltag trifft er auf ein land, in dem sich kaum etwas verändert hat. alles ist noch gleich wie damals: der gleiche präsident an der macht, die gleichen schwierigkeiten im land. für den jungen franzisk, der zehn jahre seines lebens nachholen will, ist dies nicht der ort. er entscheidet sich das land richtung deutschland zu verlassen. aber bei der erlangung des visums tauchen unerwartete schwierigkeiten auf.
ohne seinen tiefgang zu verlieren, ist dieser hochaktuelle roman humorvoll und leicht zu lesen. die manchmal etwas unwahrscheinlichen umstände, die etwas skurrile handlung, tun der ernsthaften auseinandersetzung mit dem thema macht und unterdrückung durch einen diktator keinen abbruch. die subtile beschreibung der mechanismen in einem zunehmend totalitären staat ist bestechend. auch wenn diese geschichte an vielen orten auf der welt handeln könnte, wird spätestens bei der ersten erwähnung von minsk die vermutung bestätigt, dass es sich um belarus handelt..

03.06.2023

riikka pulkkinen: wahr

elsa ist krank und weiss, sie hat nicht mehr lange zu leben. seit vielen jahren trägt sie noch ein familiengeheimnis mit sich. als anna, ihre mittlerweile erwachsene enkelin, sie besucht, findet sie im schrank ein kleid, das sie ihre grossmutter noch nie hat tragen sehen. das kleid gehört einer anderen frau und elsa beginnt von einem verhältnis zu erzählen an das sie nie mehr hat denken wollen, das ihre ehe beinahe zum scheitern gebracht hat. anna, geht den spuren dieser anderen frau nach, sucht dokumente und zeitzeuginnen. so erfährt sie vieles, was in der familie lange verschwiegen worden ist.
ein vielschichtiges buch, dessen primäre handlung die basis für eine philosophische auseinandersetzung über treue, vertrauen und vergebung darstellt. nach einem nicht ganz einfachen einstieg, tut sich eine fesselnde geschichte auf, die gegen ende in eine berührende betrachtung mündet. während sich der anfang etwas hinzieht und sich auch etwas sehr kreativ in details verliert, wird der letzte teil zu einem spannenden und intensiven leseereignis.

24.05.2023

david grossman: was nina wusste

vera ist schon 90, als ihre enkelin, die filmemacherin gili, vorschlägt ihre lebensgeschichte zu verfilmen. so beginnt die alte frau zu erzählen, gemeinsam mit gilis eltern, rafael und nina, reisen sie nach jugoslawien um die schauplätze zu besuchen, wo vera ihre jugend und jungen lebensjahre verbracht hat. miloš, ihr über alles geliebter ehemann, ist damals vom geheimdienst des tito-regimes verhaftet und umgebracht, sie selbst von ihrer tochter getrennt, jahrelang in einem lager festgehalten worden. warum das alles so gekommen ist, war bisher ein geheimnis, das erst jetzt durch ihre erzählungen der familie bekannt wird.
ueber das handeln von menschen unter druck und in krisensituationen berichtet dieser eindringlich berührende roman, in dessen zentrum die spannende vergangenheit von vera steht. alles konzentriert sich darauf; so lassen die nebenschauplätze einen beim lesen etwas ungeduldig werden. neben der als willensstarke und eigenwillige persönlichkeit dargestellten hauptprotagonistin erscheinen die anderen figuren eher etwas blass. hingegen bleibt die komplexe handlungsführung immer übersichtlich; sehr emotional sind die erinnerungen an ihren ehemann. dem buch liegt eine wahre begebenheit zu grunde, was einen umso mehr betroffen macht.

11.05.2023

doris lessing: das tagebuch der jane sommers

jane ist herausgeberin einer exklusiven zeitschrift und erfolgreiche karrierefrau. sie führt ein luxuriöses leben ohne finanzielle sorgen. als sie zufällig maudie, einer 90-jährigen, eigenwilligen frau begegnet, ändert sich ihr leben. sie, die bisher alte leute gar nicht beachtet hat, ist betroffen von der armut dieser frau und beginnt ihr ein wenig zu helfen. bei den besuchen in ihrem verwahrlosten zuhause entwickelt sich eine besondere beziehung zwischen den beiden. jane erfährt maudies lebensgeschichte, was ihr eigenes lebensmodell in frage zu stellen beginnt. doch dann kommt der tag, an dem maudie gegen ihren willen ins spital eingewiesen werden muss. die besuche in diesem umfeld von krankheit und tod stellt jane erneut vor existenzielle fragen.
es ist ein faszinierender sozialkritischer roman, der mit der beschreibung der beziehung dieser zwei unterschiedlichen frauen einige gesellschaftliche fragen aufwirft. die drastische und damit sehr reale schilderung der zustände in den wohnungen alter, armer menschen, steht dem wohlhabenden, geordneten leben von begüterten personen gegenüber. wie sich durch diese konfrontation die wertehaltung von jane verändert, ist ein weiteres zentrales moment: die beschreibung dieses prozesses ist einzigartig. während der roman mit spannender handlung beginnt, geht er später zu einem eher reflektorischen und emotionalen teil über, der sich mit diesem brisanten, immer aktuellen thema tiefgründig auseinander setzt.

21.04.2023

jon fosse: der andere name

asle ist ein maler, der verwitwet alleine in einem dorf in norwegen lebt. der nachbar åsleik und der galerist beyer sind seine einzigen näheren bezugspersonen. er ist damit beschäftigt, seine malerei immer weiter zu entwickeln, er malt zunehmend abstrakt und beschäftigt sich mir der wirkung des lichts. eines abends, unterwegs zu seinem galeristen, trifft er auf einen im schnee liegenden betrunkenen mann. er bringt ihn zum arzt, der ihn ins spital einweist. plötzlich fühlt sich asle verantwortlich und kümmert sich während dessen spitalaufenthalt um den hund des betrunkenen.
ein sehr philosophisches werk ohne wirklich grosse handlung. das aufeinandertreffen mit einem menschen, der zudem auch den gleichen namen und den gleichen beruf hat, aber ein so viel schlechteres leben führt, löst beim hauptprotagonisten gedanken über sein eigenes leben aus. er setzt sich mit vielem auseinander, das bisher wie selbstverständlich war und stellt es in frage. ohne abgeschlossene sätze leitet der text in einem nicht versiegenden fluss durch die geschichte. das übt eine eigenartig faszinierende stimmung aus, hält trotz oder vielleicht wegen der vielen sich wiederholenden beschreibungen eine unerklärliche spannung, bleibt aber bis zum schluss ein schwieriges buch, das eine eher traurige stimmung in sich trägt.

13.04.2023

kim de l'horizon: blutbuch

autobiografisch berichtet die erzählende person über kindheit, jugend und erwachsenwerden. die flucht aus dem kleinstädtischen vorortsmilieu in die grosse stadt wird zum beginn der eigenen befreienden selbstfindung. durch briefe und gespräche manifestiert sich die wichtige beziehung zur grossmutter. anfänglich bestehen grosse schwierigkeiten, die eigenen wahrheiten und empfindungen ihr gegenüber zu erzählen. mit der zunehmenden demenz der grossmutter wird dies leichter. immer mehr sich selbst sein, immer mehr sich versöhnen mit dem eigenen, früher verhassten körper ist ein schwieriger aber letztlich gelingender prozess, aus dem ein selbstbewusster und selbstverständlich lebender mensch wird.
was für ein buch – zurecht gewinnt es preise!! schnell tauchte ich in diesen berührenden und vereinnahmenden text ab, der eine schwer zu beschreibende faszination auslöste. der sehr persönliche zugang, dieses ehrliche, ungeschminkte schreiben über das nichtbinärsein, über träume, sexuelle gewalt und zärtlichkeit lässt einen diese realität wie sonst kaum etwas fühlen. die blutbuche im heimatlichen garten und die verschwindenden alten wörter der muttersprache – reminiszenzen an die jugendzeit – vermitteln heimat und geborgenheit, geben halt im wechselvollen neuen alltag. die dichte, genderbalancierte sprache mit oft so treffenden und verwegenen wortschöpfungen, die auch unbeschreibliches klar darstellen, tragen viel zum verständnis der fragen um die geschlechteridentität bei. und immer wieder liessen die beschreibungen aufflammender zweifel, unsicherheiten und selbstablehnung mir tränen in die augen steigen. eines der bücher, an dessen lektüre ich mich immer erinnern werde.

04.04.2023

usama al shahmani:
der vogel zweifelt nicht am ort, zu dem er fliegt

während seinen wanderungen in der natur denkt dafer über sein leben nach. er musste aus dem irak flüchten, weil eines seiner theaterstücke dem regime sadam husseins missfiel. nun lebt er in der schweiz, hat eine eigene wohnung und eine befristete aufenthaltsgenehmigung. in seiner heimat hat er ein studium abgeschlossen, hier arbeitet er als tellerwäscher in einem restaurant. in seinen gedanken lässt er die flucht und das leben in den asylunterkünften revue passieren, denkt zurück an seine familie und macht sich gedanken um seine zukunft. das wandern in der natur gibt ihm etwas von der ruhe zurück, die er verloren zu haben glaubt.
in einer ruhigen sprache, mit genauen beobachtungen und wertfrei vermittelt der autor die gedanken und betrachtungen von dafer. damit ermöglicht er einen berührenden einblick in das leben eines menschen, der unter lebensgefahr seine heimat verlassen und nach der gefährlichen flucht schliesslich den prozess des schweizerischen asylwesens durchlaufen musste. das buch, das sich mit seinen feinfühligen, differenzierten beschreibungen weit entfernt von autobiografischer betroffenheitsliteratur befindet, ist ein wichtiger beitrag zur zu oft einseitig geführten flüchtlingdebatte.

01.04.2023

tabea koenig: die verlegerin von paris

nachdem die literarisch interessierte lizzie 1921 ihren mann verlassen hat, begegnet ihr die mutter in london nur mit ablehnung und unverständnis. die gelegenheit, ihren früheren hauslehrer nach paris zu begleiten, nutzt sie um dort zu bleiben und ein selbständiges leben zu führen. bald freundet sie sich mit der buchhändlerin silvie und deren freundin an und hilft den beiden in ihrem geschäft. so findet sie sich in einer liberalen, fortschrittlich denkenden literaturszene wieder. da trifft sie auf amélie – die beiden verlieben sich ineinander. im gegensatz zu den strengen regeln zuhause, fühlt sie sich hier frei, wirklich das zu tun, was sie will. engagiert mit viel fleiss macht sie ihren wunsch wahr, selbst als verlegerin tätig zu sein. zudem kommt sie einem gut gehüteten geheimnis auf die spur, das alles bisherige verändert.
ein fantasievoller roman führt uns in die französische hauptstadt, wo in jenen jahren beinahe alles möglich zu sein schien: freies denken, gleichgeschlechtliche liebe, tiefgründige diskussionen und nächtliche gelage. auf einem historischen hintergrund entfaltet sich eine geschichte, die so gewesen sein könnte. blumige und reichhaltige schilderungen dominieren diesen text, der zuweilen etwas gewagte sprünge macht und abenteuerliche zusammenhänge herstellt. uebersichtlich trotz der vielen personen, die sehr treffend beschrieben werden, liest sich das buch leicht und fängt die stimmung jener zeit in paris gut ein.

23.03.2023

tom wolfe: ich bin charlotte simmons

hochbegabt schliesst charlotte die schule mit bestnoten ab. sie ist die erste aus ihrem abgelegen ort in den bergen, die ein stipendium für die renommierte dupont-universität erhält. sie freut sich, an einem solchen ort des wissens und der bildung zu studieren. bald nach ihrer ankunft wird sie aber mit einer unerwarteten realität konfrontiert, denn hier zählen geld, schöne kleider, partys, alkohol und sex. zunächst hält sie sich -- geprägt von ihrer religiösen erziehung -- fern von ausschweifenden gelagen, aber drei männer werben um sie. zunächst entscheidet sie sich für den falschen. sie stürzt in eine existenzielle krise und gefährdet damit auch ihr studium. erst nach einer schweren zeit findet sie zurück ins leben und zum wahrscheinlich richtigen mann. so wird sie wieder zur alten, starken charlotte simmons.
charlottes persönliche geschichte ist der rote faden, dem entlang viele gesellschaftliche und soziale gegebenheiten der us-amerikanischen gesellschaft zur sprache kommen. studierende mit unterschiedlichen sozialen hintergründen treffen aufeinander, was schon gleich zu beginn einiges an konflikten erahnen lässt. die kontraste zwischen dem anspruch der bildungsinstitution und dem alltag könnten nicht grösser sein. studiert und gelehrt wird nur nebenher. reich illustriert werden die menschen und deren verhalten beschrieben. der versuch, durch die oft derbe, ordinäre, manchmal ans pornografische grenzende sprache den studentischen slang zu vermitteln, scheitert ziemlich. wenig subtil wird das von neid, gewalt und exzessen geprägte leben vermittelt. leider vermag der roman nicht immer die spannung zu halten, einzelne kapitel verlangen sachkenntnisse (z.b. über basketball) um sie zu verstehen. immer wieder vorkommende wörtliche textwiederholungen irritieren. die sich über beinahe 800 seiten erstreckende geschichte dürfte durchaus etwas weniger lang sein.

12.03.2023

charles lewinsky: der halbbart

zu beginn des 14. jahrhunderts ist das leben in der innerschweizer talschaft geprägt von aberglaube und teufelsgeschichten. in dieser gesellschaft lebt der sensible sebi als jugendlicher, der ein inniges und enges verhältnis zu seinem ältesten bruder hat. das geschehen um ihn herum verleitet ihn zu vielen gedanken über das reden und handeln der menschen. sein untrügliches gespür für gerechtigkeit lässt ihn ahnen, wie manches nicht zusammenpasst. er freundet sich mit halbbart an, einem fremden, von dem niemand wirklich weiss, wo er herstammt. sebi lernt von ihm menschenkenntnis und moralische werte. da der grosse teil der bevölkerung arm und abhängig vom kloster ist gibt es unruhe in der gegend, das volk lehnt sich auf. immer wieder gibt es neid, diebstahl, brandschatzung und mord, bis alles in eine historische schlacht mündet.
der parabelhafte roman ist eine weise und berührende geschichte, die viele gesellschaftskritischen parallelen zur heutigen zeit hat. in einer wunderbaren, lebendigen sprache erfahren wir vom schwierigen leben zu jener zeit. eingestreute dialektausdrücke vermitteln der handlung farbe und intensität. das ganz besondere ist die beschreibung der gedanken von sebi, der manches beobachtet, zu verstehen versucht und sich einen eigenen reim auf ereignisse macht. beim lesen dieses buches wünscht man sich, es nähme nie ein ende.

01.03.2023

catalin dorian florescu: wunderzeit

sie stehen an der grenze und warten auf die ausreise aus rumänien. der vater von alin kehrt mit seiner familie dem land, in dem er keine perspektive sieht, den rücken. hier beim warten erinnert sich alin an ihre erste reise ins ausland. damals fuhr sein vater mit ihm bis nach amerika um für seine krankheit eine bessere therapie zu finden. nach der operation kehrten sie zurück, was niemand verstand, denn wer es einmal geschafft hatte wegzugehen, kehrte nicht mehr zurück.
witzig und leicht sarkastisch wird hier das komplizierte, schwierige leben im sozialistischen rumänien unter ceausescu beschrieben. aus der optik eines kindes, das nicht immer alles versteht, nicht alles einordnen kann, was erwachsene tun und sagen, macht sich alin mit einer bemerkenswerten beobachtungsgabe seinen eigenen reim auf die ereignisse. trotz aller leichtigkeit tritt der ernst des lebens unter diesem regime zu tage und zeigt uns, wie menschen untereinander solidarisch sein können.

20.02.2023

thomas röthlisberger: zuckerglück

er und sein bruder verbringen ihre jugend in ihrer familie. die schwester ist kurz nach der geburt gestorben, bleibt aber immer präsent. nicht immer ist es einfach, gross zu werden und auch die eltern haben probleme miteinander, was ihn als sohn belastet. langsam befreit er sich und geht seinen eigenen weg.
die oft kurzen, autonomen kapitel ohne wirkliche handlung beschreiben einzelne erlebnisse und begebenheiten. aus einer gewissen distanz erzählt, lassen sie eine dokumentarisch anmutende geschichte voll von tabus und unausgesprochenem entstehen. die knappe sprache hinterlässt ein ganz spezielles leseerlebnis.


14.02.2023

katharina zimmermann: kein zurück für sophie w.

berner oberland ende des 19. jahrhunderts. sophie, eine fröhliche, dem leben zugewandte junge frau stösst mit ihrer weltoffenen art und ihren fortschrittlichen gedanken in der familie ihres mannes immer wieder auf ablehnung. als sie eine damals moralisch geltende grenze überschreitet, wird sie von ihrem mann verstossen. um einen skandal zu vermeiden, schickt man sie nach amerika, wo sie von starkem heimweh geplagt nie wirklich glücklich wird. als ihr geschiedener mann die gemeinsame tochter zwingt über den atlantik zu ihr zu reisen, um deren uneheliche schwangerschaft zu verbergen, nimmt die geschichte eine unerwartete wendung.
die erzählerin geht dem geheimnisvollen leben ihrer grosstante nach, deren existenz verheimlicht wurde. fragen zu stellen und über sie zu sprechen wurde in der ganzen familie tabuisiert. von verschiedenen noch lebenden älteren verwandten lässt sie sich erzählen, was sie noch wissen. so setzt sich geschichte und handlung zu einem ganzen zusammen. sie vermittelt uns nicht nur anschaulich die damaligen lebensumstände, sondern auch die moralvorstellungen jener zeit. spannend und unterhaltsam geschrieben, leicht zu lesen, bringt uns dieses buch eine noch nicht allzu lange vergangene zeit nahe.

07.02.2023

lea ypi: frei

lea lebt die ersten zehn jahre im von der welt abgeschotteten sozialistischen albanien enver hoxhas. für sie sind die in dieser gesellschaft vermittelten werte das einzige, woran sie sich orientiert, sie kennt nichts anderes. nur bei ihrer grossmutter wirkt die herkunft aus einer reichen oberschichtfamilie noch irgendwie nach, was bei lea manchmal fragen aufkommen lässt, auf die sie kaum antworten erhält. mit dem fall des eisernen vorhangs verändert sich nicht nur das leben, sondern auch die sicht auf die werte und bedeutungen. verluste und gewinne beginnen sich augenscheinlich die waage zu halten, oder doch nicht?
auf autobiografischer basis erzählt lea ypi ihre lebensrealitäten aus der sicht des kindes, das sie damals war. gleichzeitig reflektiert sie diese erlebnisse als erwachsene in einem genialen text und lässt uns damit ein stück geschichte auf eine ganz andere weise erfahren. der blick in das unzugängliche und geheimnisumwitterte land ihrer kindheit ist sehr differenziert. emotional und sachlich zugleich berichtet sie über politisches bewusstsein, abhängigkeiten und was freiheit in verschiedenen momenten bedeutet, aber auch darüber, wie schnell das willkommensein als flüchtling in abweisung umschlägt. sehr bewegend lässt sie uns an dem teilnehmen, was viele menschen aus sozialistischen staaten nach deren ende erlebt haben.

26.01.2023

roman porter: die zweite nacht

von seinem krankenbett aus erzählt ernesto einem besucher während zweier nächte seine geschichte: nach der trennung der eltern, lebt er bei seinem gewalttätigen, alkoholabhängigen vater und macht nach dem schulabschluss eine lehre als automechaniker. als ihn die einberufung in die armee erreicht, verändert sich sein leben: eines tages wird er von solano, einem offizier, gebeten, dessen persönlicher chauffeur zu werden. in dieser funktion wird er gezwungen bei folterungen dabei zu sein und mitzuhelfen. verzweifelt versucht er diesem teufelskreis zu entkommen, was ihm letztlich nur gelingt, indem er sein eigenes leben aufs spiel setzt. jahrelang verfolgt ihn das erlebte in seinen träumen. er ist nur noch ein schatten seiner selbst.
der roman handelt in einem nicht näher definierten staat südamerikas, in dem das militär die macht übernommen hat und jagd auf oppositionelle verdächtige macht. die drastischen schilderungen von macht, uebergriffen, kämpfen und folterungen sind kaum auszuhalten. der autor schildert in einer sehr bildreichen, komplexen sprache diese zustände so unter die haut gehend, als hätte er sie selbst erlebt. bei all dem schrecklichen und grauenhaften gelingt es aber, das moralische dilemma ernestos zum zentralen motiv dieses buches zu machen. nichts für schwache nerven!

24.01.2023

philippe sands: rückkehr nach lemberg

der autor, selbst ein renommierter jurist reist, auf einladung der universität ein erstes mal nach lemberg in die heimat seiner vorfahren. in dieser stadt trifft er auf die spuren seines jüdischen grossvaters leon buchholz. er entdeckt aber auch die geschichte von drei weiteren männern: lauterpacht und lemkin, beides juristen, die sich dem thema menschenrecht verschrieben haben, sowie hans frank, generalgouverneur der von hitlerdeutschland besetzten polnischen gebiete. die lebensgeschichten der vier sind sehr unterschiedlich, doch haben sie auch einen bezug zueinander. während hans frank letztlich auf der anklagebank des nürnberger prozesses sitzt, tragen die beiden juristen massgeblich dazu bei, dass «genozid» und «verbrechen gegen die menschlichkeit» in die internationale rechtsprechung einlass finden.
nicht nur die bewegte geschichte der stadt lemberg, die einst zentrum jüdischen lebens war und im 20. jahrhundert immer wieder zwischen die fronten geriet, auch die biografien der vier männer und ihrer familien lassen ein stück geschichte der zeit vor, während und nach dem zweiten weltkrieg auf eine ganz besondere weise sichtbar werden. dieser spannend geschriebene bericht ist sehr persönlich und zugleich sachlich. er handelt von menschen, die in dieser schwierigen zeit sehr unterschiedliche perspektiven hatten und aus diesen heraus handelten. trotz der vielschichtigen und komplizierten materie gelingt dem autor ein übersichtlicher und gut verständlicher text.

13.01.2023

urs augstburger: als der regen kam

als mauro, der schon einige jahre in italien lebt, seine an demenz erkrankte mutter besucht, findet er kaum zugang zu ihr. sie scheint ihn nicht mehr zu erkennen und ihr gesicht zeigt auf nichts eine regung. bei einem spaziergang durch die bekannten gassen der altstadt ändert sich dies jedoch. seine mutter geht auf die für das jährlich stattfindende jugendfest aufgebaute tanzfläche und beginnt mit einem unsichtbaren partner voller hingabe zu tanzen. mauro fragt sich, ob es im leben seiner mutter früher noch einen anderen mann gab. in ihrer wohnung findet er einige hinweise auf ihr früheres leben: er geht der sache nach.
fast wie ein krimi entwickelt der autor eine sich immer weiter verzweigende handlung. dramaturgisch gut aufgebaut, vom komplexen und undurchsichtigen anfang bis zur weitreichenden klärung der geschehnisse vor vielen jahren, entfaltet sich eine geschichte von macht und verrat und von einer liebe, die nicht sein durfte. das etwas schwarz-weiss gezeichnete sittenbild, einer schweizerischen kleinstadt bildet den sozialkritischen hintergrund. trotz der manchmal etwas detailversessenen und sich wieder­holenden ortsbeschreibungen, bleibt der roman eine gute mischung von spannung und emotionen.

10.01.2023

claire lombardo: der grösste spass, den wir je hatten

als david und marilyn sich kennen lernen, ist dies der beginn einer glücklichen ehe: auch nach vierzig ehejahren scheinen sie noch verliebt wie am ersten tag. ihre vier töchter, die unterschiedlicher nicht sein könnten, streben nach dem vorbild ihrer eltern, aber haben es schwer mit ihren beziehungen und finden kaum ihr glück. wendy, die früh zur steinreichen witwe geworden ist, verfällt dem alkohol und vertreibt sich die zeit mit wechselnden, meist jüngeren liebhabern, violet gibt ihre vielversprechende karriere als juristin auf und widmet sich nach ihrer heirat ganz ihrer familie. lizas mann ist psychisch krank und grace die jüngste hütet der familie gegenüber ein grosses geheimnis. dann taucht da noch der fünfzehnjährige jonah auf, der uneheliche sohn von violet. niemand wusste von seiner existenz, was einiges in der grossfamilie durcheinander bringt. nach und nach kommen einige geheimnisse ans tageslicht.
das zentrale motiv dieser amerikanischen familiengeschichte sind liebe, toleranz, vertrauen und nachsicht. der roman plätschert über mehr als 700 seiten dahin, manchmal spannend, manchmal tiefgründig, aber immer auch wieder mit längen und stereotypen, die zu lesen eher anstrengend sind und geduld erfordern. die anreicherung mit erotischen und sexuellen szenen macht es auch nicht besser. irgendwann ist man auf der letzten seite angekommen. es bleiben fragen offen, auf deren antwort man gehofft hat und ein fulminanter schluss fehlt. irgendwie macht das ganze den eindruck, produkt eines „creative-writing“-workshops zu sein. es würde mich nicht wundern, wenn es als vorlage zu einer netflix-serie diente.