26.12.2018

paolo cognetti: acht berge

pietro kommt mit seinen eltern während des sommers aus mailand in ein dorf in den alpen und freundet sich dort mit bruno an. jeden sommer erkunden sie gemeinsam das tal, die landschaft und die berge. als sie älter werden, trennen sich ihre wege: während bruno eine alp bewirtschaftet und kaum aus seiner heimat weggeht, zieht es pietro in die ferne. nach seiner rückkehr nach jahren, müssen sich die beiden erst wieder finden und prüfen, ob ihre freundschaft trotz ihrer verschiedenen lebensentwürfe dieser langen trennung standgehalten hat.
die geschichte der jugendfreundschaft der beiden, die sich mit wenigen worten verstehen und einander als erwachsene trotz aller verschiedenheit immer verbunden bleiben, lässt einen beim lesen erinnerungen an langjährige eigene freundschaften aufkommen. aber nicht nur davon lebt dieser roman. die präzise und vielfältige beschreibung von landschaft und natur sind einzigartig und zeugen von der liebe zu den bergen und der natur. und der realistische ansatz der romans tut ein übriges, um verklärte vorstellungen und träume vom sogenannt einfachen leben zu korrigieren. was für ein schönes und weises buch voller gefühle!!

23.12.2018

usama al shahmani:
in der fremde sprechen die bäume arabisch


usama steckt selbst mitten im asylverfahren in der schweiz und versucht sich gerade in der fremde etwas zurechtzufinden. da erreicht ihn die botschaft, sein bruder ali sei in bagdad spurlos verschwunden. und während usama schwer damit beschäftigt ist, in der schweiz wirklich anzukommen, erreichen ihn immer neue schreckliche nachrichten aus seiner heimat. er entdeckt das wandern im wald, das ihm eine gewisse ruhe verschafft. so gelingt es ihm leichter sich hier einzuleben und die botschaften aus seiner alten heimat auszuhalten.
aus einer sehr persönlichen sicht erfahren wir von trauer und heimatlosigkeit. mit einer reichen sprache wird uns enorm unmittelbar eine sicht aus der warte eines menschen vermittelt, der alles zurücklassen musste. nicht nur verlust und verlassenheit, sondern auch zuversicht und humor prägen die geschichte. dieser autobiografische roman geht wie selten ein anderer zu herzen.

19.12.2018

gerhard jäger: der schnee, das feuer, die schuld und der tod

der junge historiker max schreiber reist in ein abgelegenes bergdorf um einer alten geschichte nachzuforschen. er trifft auf eine misstrauische und verschlossene dorfgemeinschaft. das nach längerer zeit mühsam gewonnene vertrauen der zurückhaltenden einheimischen bleibt brüchig. zudem verliebt er sich in eine frau im dorf, die aber auch von einem jungen dörfler begehrt wird. als ein bauer zu tode kommt, eine scheune abbrennt und todbringende lawinen das dorf von der umwelt abschneiden, schlägt die stimmung um und max, der eines mordes verdächtigt wird, verschwindet unauffindbar. nur seine aufzeichnungen bleiben zurück.
fünfzig jahre später geht ein alter mann, dieses manuskript lesend, jenen ereignissen nach, um mit seiner eigenen geschichte ins reine zu kommen.
der roman ist ein einzigartiges gemälde einer dörflichen gemeinschaft in den 1950er jahren. mit einer enormen kraft beschreibt der autor diese welt voll von arbeit, gegenseitiger abhängigkeit, von katholizismus und aberglaube, die der erbarmungslosen gewalt der natur immer wieder ausgesetzt ist. meisterhaft ist diese fesselnde geschichte in die zweite handlungsebene des alten mannes eingebettet. beim lesen lässt sich das buch kaum aus der hand legen.

14.12.2018

lojze kovačič: die zugereisten

band I 1938 - 1941
kaum zehn jahre alt muss der erzähler abschied von seiner geburtsstadt basel nehmen. seine familie wird nach slowenien, der heimat des vaters, ausgewiesen. das bisherige wohlbehütete leben des jungen ist zu ende. armut, heimatlosigkeit, fremde sprache und pubertät bringen jeden tag neue herausforderungen. zunächst schlecht gelitten bei einem onkel untergekommen, zieht die familie danach mehrmals um und wohnt schliesslich – als deutsche und italienische truppen in slowenien einmarschieren – in ljubljana.
band II 1941 – 1945
die kriegsjahre sind geprägt von hunger und armut. die familie hält zusammen, aber der vater leidet immer mehr unter seiner krankheit. neben der schule wird es immer mehr lojzes aufgabe, irgendwie geld oder essen für die familie zu beschaffen. er nimmt jede erdenkliche arbeit an und von einer gütigen nonne erhält er regelmässig übriggebliebenes essen aus einem kloster. vergeblich bleibt der versuch der familie nach deutschland, der heimat der mutter, auszuwandern. als der vater stirbt, beginnt auch die mutter immer schwächer zu werden. die hoffnung auf das ende des krieges wird genährt vom abzug der italienischen truppen und dem vorrücken der russen und der alliierten nach europa.
band III 1945 – 1948
bald nach ende des krieges übernehmen die kommunisten die macht. deren brigaden, milizen, komitees beginnen das tägliche leben zu bestimmen. eines nachts werden lojzes familienangehörige als deutsche nach oesterreich deportiert, er selbst bleibt zurück, kämpft und hungert sich durch die ersten nachkriegsjahre. kritisch der politischen entwicklung gegenüber und mit seiner persönlichen vergangenheit wird er gesellschaftlich immer wieder ausgegrenzt und verliert seinen platz am gymnasium kurz vor seinem abschluss. sein talent texte zu schreiben, liesse ihn als junger mann durchaus ein regelmässiges einkommen erzielen, aber er bleibt seiner unabhängigen und kritischen betrachtung der politischen entwicklungen treu, was ihm immer wieder zum nachteil gereicht. arbeits- und obdachlos ist er auf die hilfe einiger freunde angewiesen, bis er in die armee eingezogen wird.

wortgewaltig und detailgenau beschreibt der autor in seinen autobiografischen aufzeichnungen das plötzliche ende einer einfachen und unbeschwerten kindheit. die situation, in der das ueberleben während jahren alles andere in den hintergrund drängt, in der hunger zum stehlen zwingt und ausserordentlich prekäre wohn- und gesundheitssituationen die norm sind, schildert er ohne scheu und zurückhaltung und schafft ein eindrückliches zeitdokument. differenziert, sachlich – ja beinahe emotionsfrei – aufgezeichnet, lässt sich der text nicht immer ganz leicht lesen. auch beginnt man zu ahnen, wie schon damals die grundlage zum späteren krieg beim auseinanderbrechen jugoslawiens gelegt worden ist. diese autobiografie ist ein ganz besonderes geschichtsbuch.

27.11.2018

alois bischof: das verhängnis

der mann hat den gleichen vater wie seine mutter. gezeichnet von dieser schande des inzestes hat er ein schwieriges leben, das letztlich in alkohol- und gewaltexzessen endet. seine frau hält dies alles aus, trägt ihr leiden als schicksal, das ihr – der strenggläubigen katholikin – von gott auferlegt ist. ihr gemeinsamer sohn, der erzähler, verlässt das elternhaus früh, bewegt sich in der 68er-jugendbewegung, taumelt durch verschiedene sexualbeziehungen und findet letztlich seinen lebensweg als fotograf. aber seine familiengeschichte lässt ihn nicht los.
vor dem hintergrund faszinierend schöner beschreibungen von wetter, dämmerung oder landschaft geht es um abhängigkeit und abstürze, um macht, sexualität und gewalt. der kontrast zwischen grosser sensibilität und beinahe gefühllosem handeln zeigt die zerrissenheit und das leiden eines menschen. letztlich stellt sich die frage, ob suizid die lösung wäre, allem zu entkommen. spannend ist, wie der autor mit stilistischen mitteln die düstere geschichte mit einer für den lesenden wohltuenden distanziertheit zu erzählen vermag.

24.11.2018

angelika waldis: aufräumen

luisa ist mittlerweile siebzig und es ist zeit aufzuräumen. drei männer, die ihr das leben vergällen, müssen weg. zunächst alfred, seit vier jahrzehnten ihr ehemann, dem seine familie egal ist und der nur auftaucht, wenn er geld braucht. weiter will sie auch ihren ekligen schwiegersohn aus dem weg räumen, der ihrer tochter mirjam das leben zur hölle macht. der dritte ist doktor hausammann, dessen berufliche unfähigkeit ihrer anderen tochter zum verhängnis wurde. sie macht sich auf den weg zu alfred, den sie in genua vergiften will. aber so einfach ist das alles nicht.
abgründe des täglichen familienlebens tun sich auf und man versteht kaum, dass diese frau solches über jahre ausgehalten hat. die bitterböse geschichte ist nicht ganz frei von clichés, aber so liebevoll erzählt, dass sie zu einem ganz besonderen lesevergnügen wird. schnell beginnt man zu hoffen, dass luisa ihre vorhaben gelingen und stellt sich emotional ganz auf ihre seite.

20.11.2018

vincenzo todisco: der bandoneonspieler

pablo, sohn italienischer einwanderer, entdeckt eines tages im keller des luxushotels, in dem die eltern arbeiten, andere jugendliche, die ebenso fremd sind in diesem land. die jungen leute – der bandoneonspieler und seine geschwister – finden sich regelmässig zum tangotanzen. pablo, erblich etwas vorbelastet, verfällt dieser musik und diesem tanz: sein grossvater, ein rückkehrer aus südamerika war einst ein gefeierter bandoneonspieler. später scheitert pablos ehe mit nadja, nicht zuletzt, weil sie kein verständnis für seine leidenschaft hat.
die schöne, fantasievolle handlung ist etwas unüblich strukturiert, was beim lesen zunächst ein wenig eingewöhnung erfordert. der autor nähert sich der geschichte in kapiteln, die er personen, orten, dingen oder begriffen widmet und bewegt sich damit zeitweise ausserhalb der chronologie. zuletzt ergibt sich aber ein kompletter und in sich stimmiger roman mit vielen handlungssträngen. gut wenn man etwas spanischkenntnisse hat, um den unübersetzten aussagen und textfragmenten folgen zu können.

11.11.2018

patrick modiano: place de l'étoile

die collageartig zusammengefügten biografieteile des jungen raphaël schlemilovitch öffnen den blick auf viele verschiedene jüdische lebenssituationen. schonungslos und fulminant bedient der autor jüdische und antijüdische clichés um aengste, realitäten und intrigen zu beschreiben und zeigt auf, wie schnell sich die machtverhältnisse und damit die vermeintliche sicherheit eines menschen verändern können.
fernab von larmoyanz und selbstbeschränkung ist dieser roman spannend und provokativ geschrieben, aber nicht ganz einfach zu lesen.


03.11.2018

reinhard kaiser-mühlecker: der lange gang über die stationen

theodor lebt als einziger sohn mit seinen eltern auf einem kleinen, wirtschaftlich schwachen bauernhof – abgelegen auf dem land in einer konservativ geprägten gesellschaft. er heiratet eine frau aus der stadt, die sich gut einlebt und auch zu arbeiten weiss. zunächst scheint alles einfach und klar. aber langsam realisiert theodor immer mehr veränderungen, die er schlecht einordnen kann.
der roman ist ein bericht voll von sensiblen gefühlen und gedanken in einem rauen umfeld. auch wenn die personen auf eine besondere art ungenau dargestellt werden, erscheinen sie doch klar. beim lesen bleibt aber eine distanz zu ihnen. in einer einzigartig stillen sprache wird hier nicht nur ein stück des lebens eines rechtschaffenen mannes erzählt, der sich wünscht, ein bescheidenes glück zu finden und nicht alleine zu sein, sondern auch subtil über probleme junger bauernsöhne und hoferben berichtet.

31.10.2018

khaled hosseini: traumsammler

als ihre mutter stirbt sorgt der 10-jährige abdullah für seine sieben jahre jüngere schwester pari. bald aber werden sie voneinander getrennt. die umstände bringen pari bald nach paris, wo sie aufwächst. ihre heimat kennt sie nur vom hörensagen. viele jahre später erreicht sie die nachricht vom tod ihres onkels, der ihr das haus in kabul vererbt. sie macht sich auf nach afghanistan und trifft dort auf hilfsbereite menschen und ein in bürgerkriegswirren versinkendes land. abdullah heiratet spät und zieht in die vereinigten staaten. während er sich immer an seine schwester erinnert, erfährt sie erst spät von ihrer wirklichen herkunft und familie. das treffen mit ihrem bruder verläuft nicht einfach.
ein roman voller schicksale und gefühle, der sich trotz des traurigen geschehens leicht liest. die starke emotionalität der einzelnen figuren lässt die dosierten einblicke in die afghanische bürgerkriegsrealität der jüngsten zeit in den hintergrund treten. verschiedene beinahe von einander unabhängige geschichten fügen sich gegen ende des buches zu einer bewegenden familiensaga, die die ganze welt umspannt.

26.10.2018

franz rieger: der kalfakter

vater söhler und seine fünf söhne bewirtschaften ihren hof, auf dem es, seit die mutter gestorben ist, keine frau mehr gibt. wegen gerüchten und geschichten, nach denen frauen auf diesem hof stets verunglückten oder erkrankten, weigert sich therese, die braut des ältesten sohnes, zu ihm und seiner familie zu ziehen. ihm bleibt nichts anderes übrig, als wegzugehen und in der fabrik arbeit zu suchen. was bleibt ist das starke heimweh nach dem ort seiner jugend. dies alles sieht der regenschirmmacher, der wegen seiner arbeit weit herumkommt und vieles beobachtet und erfährt. so sieht er sich auch in der pflicht, bei missverständnissen und streit zwischen den menschen zu vermitteln. mit vater söhler ist er befreundet und schafft es letztlich, dass therese auf den hof kommt und den haushalt übernimmt.
die handlung selbst ist eigentlich recht nebensächlich, viel mehr geht es um die beobachtungen, das ungesagte, die stimmungen und gedanken in einer ländlich-archaischen gesellschaft verschlossener und wortkarger menschen. dieser in der zweiten hälfte des 20. jahrhunderts entstandene text erinnert mit seiner schönen und komplexen sprache an autoren, wie keller oder stifter, die mehr als hundert jahre früher geschrieben haben.

21.10.2018

astrid holleeder: judas

wie gestaltet sich das leben, wenn der eigene bruder ein krimineller ist, der massgeblich an einer entführung mit lösegelderpressung und für auftragsmorde verantwortlich ist? beginnend mit ihrer eher grauenhaften familiengeschichte führt uns die autorin an dieses erschreckende thema heran.
aufgewachsen mit drei geschwistern erleben sie alle ihre kindheit in angst und schrecken. der vater, schwerst alkoholkrank mit einer persönlichkeitsstörung, terrorisiert die mutter und die kinder. verbale gewalt und schläge sind alltag. der älteste bruder wim zieht mit fünfzehn jahren weg und wird zum schwerkriminellen. er ist einer der entführer des bierbrauereibesitzers heineken.
das buch zeichnet nicht nur das psychogramm eines kriminellen, sondern zeigt vor allem auch auf, wie schwierig es für eine betroffene familie ist, sich aus dieser abhängigkeit zu befreien. nicht nur seine dauernden drohungen und sein einfluss bis hinein in polizei und justiz, sondern auch eigene schuld- und verantwortungsgefühle lassen die schwester lange zögern ihren bruder an die strafverfolgungsbehörden zu verraten.
vor allem der anfang des buches ist mitreissend und eindrücklich. es ist kaum zu ertragen, was man da liest. das nicht chronologische vorgehen der autorin lässt einen zwar gewisse zusammenhänge schneller erfassen, macht es aber auch nicht immer einfach, den ueberblick über die ganze geschichte zu behalten.
insgesamt ein sich lohnendes buch, das einen einen einblick gibt in eine welt, die sonst fremd und verschlossen bleibt.

14.10.2018

sarah quigley: der dirigent

während der blockade im zweiten weltkrieg herrscht in leningrad grosse not und es fehlt an allem. der grosse teil der kulturschaffenden und musiker wird evakuiert, dmitri schostakowitsch bleibt in der stadt um mitzuhelfen sie zu verteidigen. tagsüber hilft er gräben ausheben, nachts komponiert er bis zur erschöpfung seine 7. symphonie. deren aufführung soll der bevölkerung und der roten armee hoffnung und durchhaltewillen vermitteln. karl eliasberg, einer seiner bewunderer und dirigent des leningrader rundfunkorchesters wird das konzert dirigieren. die musiker sind ausgezehrt und kaum in der lage ihre instrumente zu halten, das dezimierte orchester probt nur unter grössten anstrengungen. aber das konzert gelingt und wird ein erfolg.
die geschichte dieser zwei unterschiedlichen männer, die sich ganz der musik verschrieben haben, wird vor dem historischen kriegshintergrund erzählt. die schilderung der not, der entbehrungen, des hungers und der kälte, lässt beim lesen dramatische bilder aufkommen.
die autorin geht den lebenssituationen während dieser kriegszeit nach und zeigt auf, zu was menschen in einer solchen ausnahmesituation sowohl an gutem als auch an schlechtem fähig sind. der roman ist eine gelungene mischung aus wirklichkeit und fiktion.

05.10.2018

ismail kadare: ein folgenschwerer abend

als während des zweiten weltkrieges die deutsche wehrmacht in albanien einmarschiert, lädt einer der zwei aerzte im ort seinen ehemaligen studienfreund und jetzigen kommandanten zu einem nachtessen ein. was dort wirklich vor sich geht bleibt gegenstand vieler vermutungen. später, während der kommunistischen herrschaft wird dieses treffen gegenstand geheimdienstlicher untersuchungen. aber selbst unter folter gibt der ehemalige gastgeber nichts preis.
eine art ganz spezieller heldengeschichte berichtet uns aus einer unruhigen zeit auf dem balkan, in der die träume eines grossalbaniens beinahe wirklichkeit geworden wären. meisterhaft karikiert der autor das leben während der kommunistischen herrschaft ohne konkret zu werden. die figuren werden kaum beschrieben und erhalten überraschend trotzdem gestalt. ein spannendes und liebevoll geschriebenes buch, das in eine fremde welt eintauchen lässt.

28.09.2018

thomas melle: die welt im rücken

der autor schreibt in diesem buch über seine bipolare störung. vom ersten ausbruch der krankheit bis zu einer – wahrscheinlich erfolgreichen – therapie vergehen jahre, in denen er zeitweise kaum arbeiten kann, freunde verliert und zum sozialhilfeempfänger wird. mehrere aufenthalte in psychiatrischen kliniken gehören ebenso zur geschichte, wie höhenflüge, in denen alles möglich scheint und er denkt, die ganze menschheit müsse ihn kennen. das jeweilige ende der manischen phasen, die teilweise über ein jahr dauern, lässt ihn in eine tiefe depression fallen. keinen einfluss auf das geschehen und das eigene handeln zu haben, ist eine prägende erfahrung.
erstaunlich, wie leicht sich dieses buch lesen lässt. ueber mehr als 400 seiten beschreibt thomas melle brillant, wortgewaltig und eindrücklich die geschichte seiner manisch-depressiven erkrankung. fern von lamentierender betroffenheitsliteratur geht er seine geschichte, sein erleben, analytisch an, beobachtet exakt nicht nur sich selbst, sondern auch die reaktionen seines umfeldes, und lässt dies alles in seine texte einfliessen. er gibt uns einen aussergewöhnlichen einblick in seine erkrankung.

20.09.2018

fabio volo: seit du da bist



nicola – lange junggeselle – verliebt sich in sofia. nach einiger zeit ziehen sie zusammen und nichts scheint ihnen etwas anhaben zu können. doch dann wird sofia schwanger und mit der geburt wird alles anders. die beziehung der zwei verändert sich. sofia scheint ihm immer fremder zu werden und er trauert seiner freiheit nach. lange wagt er nicht darüber zu reden und als er es endlich tut, wird es für beide eine befreiung: nicola findet sich in seiner rolle als familienvater und die beiden finden wieder zueinander.
ein buch voll von psychologischen betrachtungen, die fast als ratgeber für männer in einer ähnlichen situation zu empfehlen wäre. schade, dass die geschichte zuweilen in trivialität abgleitet und der text wiederholt pornografische komponenten aufweist. dieses wechselbad beim lesen ist vielleicht gewollt, aber anstengend. geschrieben aus ziemlich einseitiger männersicht ist der roman auch etwas zu testosterongesteuert.

14.09.2018

robert seethaler: das feld

das feld, so wird der friedhof genannt. selbsterzählte lebensgeschichten der hier begrabenen, zwiegespräche zwischen toten und ihren besuchern und weitere erzählungen ergeben ein bild vom leben der gemeinschaft dieses ortes. jedes kapitel ist einem anderen toten gewidmet.
das buch ist eine wunderbare idee, das bild des lebens vieler menschen zu zeichnen: erfolgreiche, arme, versager, glückliche, traurige, alte und jungverstorbene kommen hier zu wort, jeder und jede auf seine weise. hier wird berichtet von missverständnissen, hoffnungen, liebe, einsamkeit, und dies alles auf eine direkte und einfache weise. ein ruhiges und faszinierendes buch, das ohne spannung auskommt.

07.09.2018

ibrahim al-koni: das herrscherkleid

die geschichte handelt von assanâj, der herrscher einer oase in der wüste geworden ist. sein herrscherkleid – das symbolisch für die macht steht – verwächst mit seiner haut und als es zurückgefordert wird, kann er es nicht mehr ablegen. nur sein tod wird ihn davon befreien können. in den vielen kapiteln treffen wir auf die macht und ihre folgeerscheinungen wie korruption, begünstigung, vetternwirtschaft und mehr. so abstrahiert sie daher kommen, erkennt man sie beim lesen gleich und sieht sich an heute amtierende diktatoren und despoten erinnert.
mit dieser feinen und sensiblen parabel beschreibt der autor nichts anders, als politische systeme und deren herrscher, die, auch wenn sie zu beginn ihrer regierungszeit nur gutes beabsichtigen, ihre macht so lieben, dass sie letztlich alles nur noch auf deren erhalt ausrichten.

31.08.2018

assia djebar: das verlorene wort

nach zwanzig jahren leben und arbeiten in frankreich kehrt berkane zurück in seine heimat algerien. die orte sind ihm fremd geworden, arabisch nicht mehr seine erste sprache. die realität in diesem land und seine erinnerungen stimmen nicht mehr überein und haben etwas bedrohliches. langsam findet er über seine beziehung zu seiner nachbarin nadja, wieder zurück zu der sprache seiner kindheit. auf der suche nach orten seiner jugend verschwindet er und wird nicht wieder aufgefunden.
geprägt von den angst- und gewalterlebnissen seiner kindheit, trifft er bei der rückkehr auf ein land in unruhe. französisch, die sprache der kolonialherrschaft – für viele die sprache, die sie am besten beherrschen – ist zunehmend verpönt, was viele verunsichert und irgendwie heimatlos macht. deutlicher lässt sich die veränderung in diesem land kaum aufzeigen. trotz der politischen unruhen und schwierigkeiten erfahren wir von der schönheit des landes. das buch ist eine liebeserklärung an algerien.

21.08.2018

michel houellebecq: ausweitung der kampfzone

der eintönige alltag eines jungen informatikers wird unterbrochen durch eine geschäftsreise, begleitet von einem kollegen mit dem er diese aufgabe erfüllen soll. dieser tisserand versucht permanent bei frauen anzukommen und das erfolglos. davon aber wird die freizeit dominiert, die sie fern von zuhause teilweise gemeinsam verbringen. zwischen belustigung und mitleid betrachtet unser protagonist die bemühungen seines kollegen. das skurrile verhältnis der beiden endet mit dem tod tisserands durch einen verkehrsunfall während seiner vorzeitigen heimreise. der junge informatiker kehrt später zurück nach paris, wo er zurückgezogen in eine depressive stimmung sinkt.
dies alles ist nur die kulisse, vor der die satirischen beobachtungen und beschreibungen von menschen, deren erscheinung und handeln vermittelt werden. so hält der autor der aktuellen gesellschaft treffend, aber beinahe bösartig, den spiegel vor. der zeitweise abgründige humor und auch der vollendet schöne sprachliche ausdruck, machen dieses buch zu einem ganz speziellen lesevergnügen. gut zu verstehen, dass es bald nach seinem erscheinen einen so grossen erfolg hatte.

07.08.2018

etel adnan: sitt marie-rose

sitt marie-rose ist leiterin einer schule für behinderte kinder im libanon und setzt sich stark für diese ein. sie hat als tochter einer griechin und eines türken früh schon für die befreiung der frauen und für soziale gerechtigkeit gekämpft. während des bürgerkrieges gerät sie zwischen alle fronten. sie wird entführt; einer der entführer ist ein früherer mitschüler und freund, der nun in einem feindlichen lager steht. sie bezahlt ihr engagement mit dem leben.
die geschichte macht sehr betroffen. sehr subtil, aber klar und unmissverständlich wird man hier an das schicksal einer frau herangeführt, die ein emanzipiertes und freies leben lebt – oder immer mehr zu leben versucht. beim lesen beginnt man die komplizierten ethnischen und religiösen verhältnisse im libanon im ansatz zu verstehen und muss begreifen, dass hier worte nichts mehr ausrichten können, weil waffen das sagen haben.

27.07.2018

alex capus: patriachen

aus dem 19. jahrhundert stammen die meisten industriellen, von denen alex capus berichtet. elf männer unterschiedlichster herkunft, die in jener zeit zu gründern von dereinst grossen marken wie nestlé, bally, maggi oder brown boveri wurden. trotz ihrer verschiedenheit hatten sie vieles gemeinsam: erfindergeist, mut und geschäftssinn. in jener zeit des aufbruchs und der industriellen revolution waren aufstieg und niedergang oft sehr nahe beieinander.
die zehn spannenden berichte, die ein stück industriegeschichte der schweiz aus einer anderen optik beleuchten kommen leicht daher und sind wunderbar zu lesen. hier lernen wir diese menschen irgendwie persönlich kennen und erfahren über glück, not, zweifel, durchbrüche und misserfolge. die nach jedem kapitel angefügte chronologie erleichtert nicht nur die zeitliche einordnung sondern berichtet auch, was aus den damals gegründeten firmen heute geworden ist. es ist schlicht ein gekonnt geschriebenes buch über schweizerische industriegeschichte, eines von ganz besonderer art.

11.07.2018

daniel zahno: alle lieben alexia

acht unterschiedliche männer haben alle eines gemeinsam: sie sind in die gleiche frau verliebt. alexia ist maskenbildnerin und musikerin, ganz klar wird das nicht. auch sonst bleibt sie eigentlich weitgehend unsichtbar. jedem mann ist ein kapitel gewidmet, in dem seine geschichte mit dieser frau beschrieben wird.
schon allein die unscharfe beschreibung des profils von alexia zeigt, wie viel bei schwärmerei und verliebtheit projektion ist. sprachlich vielseitig und wunderschön lesen wir über zweifel und hoffnung der männer, treffend beschrieben sind deren gefühle. am schluss erfährt das buch eine überraschende auflösung. ein leicht zu lesendes, aber doch tiefgründiges buch ohne eigentliche handlung, das einfach freude macht.

05.07.2018

john henry mackay: der puppenjunge

unabhängig voneinander verlassen zwei männer ihre heimat in der provinz, um in das berlin der «goldenen zwanziger jahre» zu ziehen. günther, erst 15 jahre alt, gerät schnell in die stricherszene. hermann, der der enge seines dorfes entkommen will, träumt von der grossen liebe. zufällig treffen die beiden aufeinander, ein kompliziertes verhältnis beginnt: beide gehen von grundsätzlich anderen vorstellungen aus.
eine streckenweise sehr sentimentale und manchmal auch überzeichnete geschichte, geschrieben in einer sprache aus jener zeit. das spannende ist nicht eigentlich diese unerfüllte liebe, sondern der tiefe und authentisch geschilderte einblick in das leben an diesen treffpunkten. dies in einem jahrzehnt als der paragraf 175 in deutschland homosexualität noch lange vollkommen unter strafe stellte. insgesamt ein lesenswertes zeitbild.

02.07.2018

orhan pamuk: die rothaarige frau

cem findet in seinem lehrmeister, dem brunnenbauer murat, auch eine art vater. gemeinsam graben sie einen brunnen, abends nach getaner arbeit gehen sie ins dorf. dort begegnet er einer rothaarigen frau und verliebt sich in sie. an einem tag trifft den meister ein unfall, an dem sein lehrling schuld hat. cem flüchtet und versucht alles hinter sich zu lassen, wird aber seine schuldgefühle nie ganz los. viele jahre später kehrt er an den ort zurück und macht eine überraschende und schwerwiegende entdeckung.
alte griechische und persische sagen sind die vorlage für diese in der jetzigen zeit sich wiederholende geschichte. die platzierung der handlung ins leben der heutigen türkei, aber auch die einzelnen schicksale der menschen machen den roman zu einer spannenden, bildhaften lektüre über verbotenes und verborgenes, über schuld und unschuld, über freiheit und zwänge.

26.06.2018

anne reinecke: leinsee

karl ist noch jung und bereits ein bekannter künstler. seine eltern, ein angesagtes und berühmtes künstlerehepaar in dessen leben nicht wirklich platz für ein kind bleibt, geben ihren sohn schon früh in ein internat. als der vater stirbt, kehrt karl nach hause zurück und beginnt sich um seine schwer erkrankte mutter zu kümmern. vieles in seinem leben beginnt anders zu werden und mit der trennung von seiner langjährigen freundin läuft er gefahr, seine orientierung zu verlieren – wäre da nicht ein kind, zu dem er eine zuwendung entwickelt und das seinem leben einen neuen inhalt zu geben scheint.
in der ersten hälfte lebt der roman vor allem von der kritischen beobachtung und auseinandersetzung mit dem heutigen kunstbetrieb, was köstlich zu lesen ist. später treten die beziehung zu diesem kind und die träume karls in den vordergrund. deren beschreibung wirkt hölzern und lässt keine empathie aufkommen. gegen ende scheint die geschichte richtiggehend konstruiert und langweilig. das relativ abrupte ende bleibt für mich unverständlich.

21.06.2018

charles lewinsky: doppelpass

als er nach seiner langen fluchtodyssee über das mittelmeer endlich illegal in der schweiz ankommt, besitzt mike nur noch die kleider, die er auf dem leib trägt, und einen zettel mit der adresse seines cousins tom. dieser ist ein berühmter fussballspieler, eigentlich nur an seinem sport interessiert und manchmal auch etwas naiv. er wohnt mit seiner ehrgeizigen freundin in einer villa, wo mike eines nachts im garten auftaucht. tom steht zwischen seinem erfolgreichen leben und der familiären verantwortung für seinen verwandten. hier beginnt eine komplizierte geschichte, in der auch der präsident des fussballvereins und die homestory-journalistin einer illustrierten unschöne, aber wichtige rollen spielen.
ein gelungener roman, der mit einer beinahe bösartigen genauigkeit die unterschiedlichen aufeinander treffenden szenen scharf beobachtet. die kulturellen unterschiede und das finanzielle gefälle trennen die menschen in ihrer wahrnehmungs- und erlebniswelt stark voneinander, auch wenn sie sich zeitweise sehr nahe kommen. mitunter sarkastisch werden nicht nur ein politiker und eine journalistin karikiert, auch die migrationsbehörden und die sich für flüchtlinge freiwillig einsetzenden helfer und deren arbeit werden kritisch beleuchtet. dieser trotz aller pointiertheit nie überzeichnete roman ist extrem unterhaltsam, manchmal aber auch einfach berührend und traurig.

18.06.2018

arno geiger: unter der drachenwand

im fünften kriegsjahr wird veit kolbe verletzt und nach hause entlassen. schon lange desillusioniert erträgt er seinen siegesgläubigen vater kaum noch und nutzt die gelegenheit von wien wegzukommen. in mondsee, dem wohnort seines onkels, verbringt er den letzten kriegssommer. hier trifft er die lehrerin margarethe mit den aus wien verschickten kindern und lernt margot aus darmstadt kennen und lieben. was die jungen leute verbindet, ist die hoffnung, das grauen nehme bald ein ende und es beginne eine bessere zukunft. aber noch ist der krieg nicht vorbei und veit wird erneut an die zusammenbrechende ostfront eingezogen.
dies ist vor allem ein buch über den alltag im untergehenden dritten reich. neben der persönlichen geschichte der hauptprotagonisten wird hier eindringlich über den realen alltag der menschen berichtet, über den allgegenwärtigen mangel an gütern, das auftauchen der flüchtlingsströme, den schwarzhandel, die gnadenlose justiz bei kleinsten vergehen, die wertlosigkeit einzelner menschenleben und über vieles mehr. beim lesen steht man mitten im leben dieser kleinen leute, das einem bildhaft vor augen geführt wird und eine einzigartig emotionale betroffenheit auslöst.

06.06.2018

yasar destan: deniz

die beziehung zwischen den beiden 17-jährigen jungen raphael und deniz beginnt unter schwierigen umständen. deniz ist sohn türkischer eltern in deutschland. trotz des inneren widerstandes und der ablehnung seiner eigenen gefühle, zieht es deniz immer wieder zu raphael und es dauert lange, bis sie, ziemlich betrunken und bekifft, die erste nacht gemeinsam verbringen. als deniz am morgen neben raphael erwacht kann er sich an nichts mehr erinnern und verdrängt alles. ganz langsam erst beginnt er, seine gefühle zu akzeptieren. zuhause darf das alles kein thema sein. mit ausreden und lügen versucht er den schein zu wahren. das ziel der eltern ist es, deniz in den sommerferien in der türkei zu verheiraten, er fürchtet diese reise und ahnt, was auf ihn zukommt. erst als sich die schlinge endgültig um seinen kopf zu schliessen beginnt, flüchtet er von zu hause und entscheidet sich für sein selbstbestimmtes leben und gegen die familie.
schon lange nicht mehr hat mich ein buch derart in den bann gezogen, dass ich es kaum weglegen konnte und immer weiterlesen musste. die realen schicksale der beiden und die umstände ihrer leben werden mit viel sachkenntnis und einer dauernd aufrechterhaltenen spannung beschrieben. die ignoranz der eltern, die eskalation häuslicher gewalt, die verzweiflung von deniz, aber auch sein immer wieder intuitives handeln, das ihm neue schwierigkeiten einbringt, zeichnen ein bild eines schwierigen startes ins erwachsenenleben. das langsame erkennen und akzeptieren seiner gefühle, seines andersseins könnte subtiler und einfühlsamer nicht dargestellt werden. seine eltern entfalten eine extreme energie zur wahrung des scheins gegen aussen. deniz ist lange darin gefangen, dass die ehrung seiner eltern nur über die erfüllung ihrer pläne und vorstellungen bewerkstelligt werden kann. der etwas traurige, aber offene ausgang lässt dem lesenden hoffnung.

04.06.2018

patrick tschan: polarrot

die kindheit jakob breiters ist nicht schön. der vater trinkt und schlägt, die mutter verlässt ihren mann. der dorfpfarrer bringt den jungen in der klosterschule unter. als erwachsener macht er eine abenteuerliche karriere als betrüger, heiratsschwindler und schmuggler. er hat immer die nase für dinge, die sich zu seinem vorteil wenden. in den 1930er jahren wird er erfolgreicher vertreter für eine basler farbenfabrik und schafft es in deutschland grosse lieferverträge für die textilfarbe polarrot abzuschliessen, die farbe, die zur produktion der neuen reichsflagge mit dem hakenkreuz gebraucht wird. als er jedoch beim schmuggeln erwischt wird, landet er für zwei jahre in einem konzentrationslager. wieder zurück sucht und findet er schnell eine neue arbeit.
breiter ist ein mensch, der immer wieder auf die füsse fällt. sein leben ist eine abfolge von immer neuen ereignissen und herausforderungen, die er annimmt. als mensch mit moral, fällt es ihm zuweilen nicht leicht, unethisch zu handeln, doch wenns ums geld geht ist sein pragmatismus immer wieder stärker.
in dieser verrückten lebensgeschichte aus einer verrückten zeit ist die handlung manchmal etwas unwahrscheinlich konstruiert, aber breiters leben hat auch wirklich etwas unwahrscheinliches. ein roman, der die emotionen weckt und einen zwingt mit dem helden mitzuleben und mitzuleiden, und der einen unerwarteten schönen und versöhnlichen schluss findet.

31.05.2018

alain claude sulzer: die jugend ist ein fremdes land

das buch ist weder autobiografie noch roman. in kurzen kapiteln entsteht ein kaleidoskop von humorvollen, witzigen, manchmal aber auch traurigen geschichten aus der kindheit und jugend des autors. aus der perspektive eines gelassenen erwachsenen erzählt, behält trotzdem alles das gewicht und die ernsthaftigkeit, die es damals hatte.
diese jugendgeschichten sind für mich vor allem spannend zu lesen gewesen, weil ich beinahe gleich alt bin und gleiches und ähnliches einige kilometer weiter südlich erlebt habe. da setzt wehmut ein, kommen aha-erlebnisse auf und es wird bewusst, welch starke veränderung die gesellschaft und deren wertehaltung innerhalb eines halben jahrhunderts erfahren hat.

23.05.2018

jan stressenreuter: mit seinen augen

felix und manfred leben mit ihrem hund in einem reihenhaus – ihre beziehung hat nach zehn jahren etwas an spannung verloren. nach dem tod der mutter findet felix auf dem dachboden eine truhe. darin sind fotos, briefe und tagebücher seines früh verstorbenen vaters und er entdeckt, dass auch sein vater eine liebesbeziehung zu einem mann hatte. er beginnt die suche nach diesem freund und findet ihn. die erinnerung an seinen vater wird entzaubert. während dieser zeit findet die beziehung zu manfred einen neuen hoffnungsvollen anfang.
die geschichte gibt einen blick frei in die 1950er-jahre, als homosexuelle handlungen zwischen erwachsenen in deutschland noch strafbar waren. vor dem hintergrund dieser von bürgerlich-konservativen werten dominierten nachkriegszeit öffnet sich eine tragische familiengeschichte, in der der junge vater letztlich zerbricht. das bedürfnis von felix mehr über seinen vater zu erfahren wird packend und unsentimental beschrieben. einmal begonnen lässt sich dieser spannende und tiefgründige roman kaum noch aus der hand legen, ganz zu schweigen, von den emotionen, die er auslöst.

21.05.2018

jens steiner: carambole

in zwölf kapiteln kommen verschiedene menschen und ereignisse vor, die scheinbar nichts miteinander zu tun haben. da gibt es wilde jugendliche, kauzige alte, zerstrittene brüder, alle leben sie am gleichen ort. alles geht seinen gang, nichts scheint sich zu ändern und auch ein grauenhafter fund bringt nur eine kurze vorübergehende unruhe ins dorf, bald kehrt die alte routine und gleichgültigkeit wieder ein.
schon der einstieg ins buch ist nicht einfach. die collageartige abfolge von kapiteln, deren zusammenhang sich mir nicht wirklich erschliesst und das fehlen einer durchgehenden handlung stellt einen beim lesen vor eine herausforderung. nur ein kapitel ist von solch sprachlicher brillanz, dass es sich von den andern spürbar abhebt.

14.05.2018

klaus cäsar zehrer: das genie

william james sidis kann bereits im alter von zwei jahren lesen und wird von der amerikanischen presse anfangs des 20. jahrhunderts als wunderkind gefeiert. sein vater boris, ein ukrainischer einwanderer, ist psychologe und experimentiert an seinem sohn mit einer erziehungsmethode, von der er glaubt, alle kinder entwickelten sich danach zu genies. zwar kann william komplexe mathematische probleme lösen und hat ein phänomenales gedächtnis, aber er scheitert im leben. als jugendlicher beginnt er sich gegen seine eltern aufzulehnen und verweigert nicht nur den militärdienst, sondern auch den gebrauch seiner fähigkeiten. seine sozialistischen erkenntnisse und sein kampf für eine gerechtere welt scheitern genau so, wie seine grosse liebe.
dieser historisch belegte roman der lebensgeschichte eines ausserordentlichen, aber auch zu tiefst unglücklichen menschen liest sich nicht immer ganz einfach. die streckenweise grosse detail­versessenheit des autors führt oft zu längen und lässt einen die spannung vermissen. trotz der vielen beschreibungen ergibt sich beim lesen kein klares bild von william. der hass auf seine eltern und die beziehung zu seiner einzigen schwester bleiben diffus. die emotionale seite dieses lebens bleibt hinter dem sachlichen bericht zurück. es bleibt letztlich der eindruck, eher eine journalistische berichterstattung, denn einen roman gelesen zu haben.

08.05.2018

john von düffel: houwelandt

jorge lebt mit seiner frau schon seit jahren in spanien und ist der meinung, sein sohn thomas habe im leben völlig versagt. thomas ist etliche male gescheitert und hat letztlich als hausmann, seinen eigenen sohn christian grossgezogen. christian hält sich möglichst fern von seiner familie und führt sein eigenes leben. und nun wird jorge achtzig jahre alt und seine frau plant ein grosses fest, in dem sich die familie wieder vereinigen soll.
diese familiengeschichte, in der die abgründe von verwandtschaftsbeziehungen treffend beschrieben werden, wächst zu einem abbild des wohlstandes unserer zeit an. die ansprüche einer generation auf die nächste und deren nichterfüllung – aus unterschiedlicher sicht beleuchtet – geben ein eindringliches bild von abhängigkeit und befreiung aus den zwängen der familie. trotz des ernstes und der heftigkeit der thematik leicht und spannend zu lesen.

26.04.2018

lizzie doron: warum bist du nicht vor dem krieg gekommen?

helena ist eine ueberlebende des holocaust, hat ihre ganze familie und verwandtschaft verloren und wandert nach israel aus. völlig allein und auf sich gestellt führt sie ihr eigenes selbstbestimmtes, manchmal etwas spezielles leben. dies hat zur folge dass sie von nachbarn und freunden immer wieder verstanden wird oder auf ablehnung stösst. sie hat klare vorstellungen von recht und ordnung, hängt aber auch mystischem nach und ihre beziehung zur religion ist gelinde gesagt eine sehr spezielle.
in über zwanzig autonomen kapiteln setzt hier ihre tochter ein denkmal und blickt dabei liebevoll auch auf ihre eigene kindheit zurück, in der sie von ihrer mutter geprägt wurde. schön, manchmal tragisch, aber immer wieder auch lustig zu lesen.

21.04.2018

yvette z'graggen: zeit der liebe, zeit des zorns

die bevorstehende ablösung der heranwachsenden tochter lässt die mutter in einer art tagebuch auf ihr leben zurückblicken. vieles scheint ihr geglückt und sie hat schöne erinnerungen. einiges stellt sie aber auch in frage, vielleicht würde sie heute anders handeln. sie beschreibt beziehungen, rollenmuster, aengste und freuden und stellt sie immer wieder in einen zusammenhang mit geschichtlichen ereignissen. dazu positioniert sie sich auch politisch und gesellschaftspolitisch.
diese wahrscheinlich autobiografische auseinandersetzung mit dem aelterwerden birgt erkenntnisse, die jeder und jede in dieser lebenssituation machen dürfte. es ist nicht nur ein generationen- und frauenbuch, es ist auch eine philosophische aufarbeitung der eigenen vergangenheit.
weil so konkret geschrieben findet man beim lesen schnell eine identifikation mit der autorin.

17.04.2018

katharina geiser: diese gezeiten

lucy und suzanne, zwei stiefschwestern sind aus frankreich nach jersey ausgewandert um sich dort der malerei und dem schreiben zu widmen. als die insel im jahr 1940 von der deutschen wehrmacht besetzt wird, beginnen sie den widerstand mit heimlichen flugblattaktionen. lange geht das gut, doch irgendwann werden sie denunziert und zum tode verurteilt.
diese politische und eigentlich auch berührende geschichte von menschen, die sich dem regime widersetzen und im gefängnis nur überleben, weil ihre aufsichtspersonen sich immer wieder menschlich zeigen, teilt nicht einfach in gut und böse ein. der roman wird in einer etwas distanzierten sprache erzählt, was einen beim lesen immer etwas in einer aussenstehenden betrachterrolle verbleiben lässt.

10.04.2018

philip roth: jedermann

am abend vor der operation, die er nicht überleben wird, denkt «jedermann» über sein leben nach, über die schwierigkeiten des alterns, die einsamkeit, den verlust seiner körperkraft und die fehler, die er in seinem leben gemacht hat. das buch beginnt jedoch mit seiner beerdigung. söhne und töchter, verwandte, freunde und ehemalige arbeitskollegen stehen am grab und denken über ihn nach, über ihre beziehungen zu ihm und über gemeinsame zeiten, die sie mit dem verstorbenen hatten.
eine detaillierte, gnadenlose und reale auseinandersetzung mit dem eigenen zerfall lässt einen trotz der schönen sprache beim lesen zeitweise erschauern. dieser kurze roman, der den kern der furcht umfassend trifft, die wir alle irgendwie vor krankheit und tod haben.

04.04.2018

catalin dorian florescu: jacob beschliesst zu lieben

der roman vermittelt einen einblick in zwei jahrhunderte wechselvoller geschichte des banats, einer gegend am rand europas, dessen bevölkerung sich immer wieder unter wechselnden mächten gegen neue einflüsse behaupten muss.
die geschichte beginnt fulminant mit dem erscheinen eines jungen mannes, dessen ziel es ist, die reiche tochter des gutsbesitzers zu heiraten. machthungrig und rücksichtslos wird er zum wichtigsten mann im dorf. sein sohn jacob ist jedoch ein schwächlicher junge, der vater verachtet ihn und liefert ihn letztlich den neuen machthabern, den kommunisten, aus. jacob entgeht jedoch der deportation durch flucht und fern von der heimat wird aus ihm ein ebenso starker mann, dem seine freundliche und menschen liebende art erhalten bleibt. bei seiner rückkehr nach hause ist sein vater ein alter gebrochener mann – die verhältnisse haben sich umgekehrt.
spannend, unterhaltsam und berührend liest es sich leicht durch diese schwierigen lebensumstände. präzise bilder und bewegende handlung sind die stärken dieses buches, das nebst der schwere auch eine leichtigkeit und hoffnung in sich trägt.

22.03.2018

lukas hartmann: die seuche

vor dem hintergrund der grossen pestepidemie im 14. jahrhundert wird die geschichte von hanna erzählt. sie verlässt nach dem tod ihrer grossmutter ihr haus und geht in den wald, um den menschen und damit der ansteckungsgefahr auszuweichen. unterwegs trifft sie auf einen zug von büssern, die mit gebeten und selbstgeisselungen versuchen, der krankheit zu entgehen. hanna merkt aber bald, dass dies nicht ihr weg ist. von ihrer grossmutter weiss sie viel über heilkräuter und salben. bald wird sie bei einem patrizier in der stadt angestellt, um dessen pestkranke frau zu pflegen.
dazwischen stehen immer kurze texte über das sterben einer drogenabhängigen, eines bluters und einer afrikanischen familie an aids. dieser blick auf die parallelen zur heutigen zeit zeigt auf, wie wenig die stigmatisierung von und der umgang mit infektiösen, tödlich kranken sich geändert hat.
ein dichter roman, der in eine dunkle zeit eintaucht und bildhaft und stark diese gesellschaft der verlorenen beschreibt. die mitreissenden schicksale der einzelnen menschen bewegen einen beim lesen stark.

15.03.2018

alain claude sulzer: aus den fugen

und plötzlich bricht der pianist marek olsberg mitten in einem stück sein spiel ab, steht auf, klappt den deckel zu und verlässt die bühne. das publikum ist verunsichert und der schöne abend endet für die einzelnen konzertbesucherinnen und -besucher ganz anders als geplant. von einigen von ihnen erfahren wir näheres: beziehungen gehen in brüche, freundschaften stehen auf dem spiel und allerlei gerät aus den fugen. während all dem fühlt sich der pianist so frei wie nie zuvor und sitzt inkognito in einem lokal hinter einen bier, wo ihm ein junger mann begegnet.
mit spitzer feder beschreibt der autor menschen und deren scheinwelten. damit demontiert er nicht nur unerbittlich die fassaden der einzelnen, sondern zeichnet auch pointiert ein spiegelbild dieser gesellschaft. er führt uns vor augen, wie brüchig oder bereits gescheitert die lebensentwürfe von menschen sein können. einzig der schluss läuft gefahr etwas unwirklich und beinahe kitschig zu werden. ein unterhaltsames und amüsantes buch, das man kaum zur seite legen kann und dessen letztes kapitel den lesegenuss zu schnell beendet.

12.03.2018

shusaku endo: meer und gift

die geschichte beginnt damit, dass der autor nach seinem umzug seinen neuen arzt aufsucht, der den nötigen eingriff ausserordentlich geschickt und schmerzfrei macht. dr. suguro ist aber ein eigenartiger mensch, zu dem der patient keinen zugang findet. suguros lebensgeschichte führt zurück in den zweiten weltkrieg, wo er mit anderen in einem krankenhaus an menschenversuchen unter dem deckmantel der wissenschaftlichkeit beteiligt war.
geschickt führt der autor diesen arzt und weitere beteiligte über deren lebensläufe an diesem ort des grauens zusammen. wie zufällig geraten sie in dieses schreckliche projekt der armee. während einige von diesem tun im nationalen interesse überzeugt sind, andere um ihrer karriere willen mitmachen oder sich einfach in der pflichterfüllung im system sehen, kommt suguro in grosse ethische konflikte, hat aber nicht die kraft, sich dagegen aufzulehnen.
dieser roman zeigt auf eindrückliche weise nicht nur das ethische dilemma eines einzelnen, sondern auch die schwäche, die ihn zum mitschuldigen macht.
es lässt sich erahnen, wie immer wieder in totalitären systemen, unterdrückung und menschenverachtung sich einen weg bahnen können.

08.03.2018

fjodor dostojewskij: der spieler

der junge hauslehrer aleksej iwanowitsch ist mit seiner herrschaft, einem früheren russischen general, in einer deutschen stadt. sein herr erwartet nichts sehnlicher als den tod seiner reichen erbtante. diese jedoch taucht eines tages auf und verspielt im hiesigen spielkasino ihr ganzes vermögen. auch iwanowitsch beginnt zunächst harmlos zu spielen. jedoch verfällt er immer mehr der spielsucht und verliert alles. selbst seine heimliche liebe zur stieftocher des generals kann ihn nicht mehr retten.
was zunächst etwas kompliziert beginnt, wird schnell zu einem faszinierenden roman. so wie die protagonisten kaum vom spieltisch kommen, so lässt einen das buch beim lesen kaum los. nicht von ungefähr sind diese sucht, dieses verlangen und diese abhängigkeit so genau und nachvollziehbar beschrieben. dostojewskij war selbst spieler und die geschichte trägt viele autobiografische züge.

04.03.2018

anne cuneo: der eiskönig aus dem bleniotal

weil zuhause im bleniotal kein auskommen möglich ist, zieht carlo gatti bereits als 13-jähriger ohne schulbildung – des lesens und schreibens unkundig – nach paris und arbeitet dort zunächst bei verwandten als marroniverkäufer. etliche jahre später zieht er weiter nach london, wo er als weitsichtiger mann sich bei bekannten und freunden geld ausleiht und beginnt, schokolade und süssigkeiten herzustellen und kaffeehäuser nach französischem vorbild zu eröffnen. aber erst sein mutiger und visionärer einstieg in das geschäft mit natureis macht ihn endgültig reich. als begüterter mann kehrt er später zurück in seine heimat, mit der er immer verbunden bleibt, wo er politisch tätig wird und sich für den bau einer strasse über den lukmanierpass stark macht.
zeit seines lebens setzt carlo gatti sich immer für die armen ein, sowohl in seiner heimat als auch in london. vor allem hungernden, auf der strasse lebenden kinder nimmt er sich immer wieder an. so liest er eines nachts auch nicola auf, bringt ihn nach hause und entdeckt seine einzigartige begabung für zahlen und sein ausgeprägtes fotografisches gedächtnis. nicola wird zu seinem ziehsohn, dem er eine gute ausbildung ermöglicht.
gattis lebensgeschichte wird aus der sicht von nicola erzählt. der autorin gelang mit diesem buch ein wunderbares zeitgemälde aus dem 19. jahrhundert, der zeit der fortschreitenden industrialisierung, der wichtigen technischen innovationen, aber auch der zeit grossen sozialen gefälles in der gesellschaft. vor diesem hintergrund erfahren wir vom leben und wirken dieses auswanderers aus einer epoche, als in der schweiz viele von armut betroffene menschen keinen anderen weg als die emigration sahen.

26.02.2018

cédric prévost: liebesschwindel

eine junge schauspielerin findet bei den castings keine arbeit. immer wieder bleibt sie ohne rollenangebot. dann trifft sie auf eine anzeige, in der schauspieler gesucht werden, die für einsame menschen herbeigesehnte personen darstellen sollen. bald ist sie gut im geschäft, spielt liebhaberinnen von ehemännern, zurückkehrende verlorene töchter und beste freundinnen. dies alles läuft gut, bis sie sich in den mann verliebt, für den sie seine schwangere verlobte spielt.
die vermischung von realität und fiktion stellt sich nicht nur beim lesen ein, sie wird auch zum problem der figuren in diesem roman. diese zwei ebenen werden hier unterhaltsam und leicht erzählt, aber es gelingt nicht, ihnen ganz auf den grund zu gehen. illusion und realität sind so nahe beieinander und erscheinen als eine art literarisches tromp-l'œil. das macht das buch irgendwie einzigartig.

25.02.2018

kazuo ishiguro: alles, was wir geben mussten

das internat in hailsham macht auf den ersten blick einen völlig normalen eindruck. freundliche klassenzimmer, gute sportanlagen und eine schöne umgebung bieten den von der aussenwelt völlig abgeschirmten jugendlichen eigentlich alles. die lehrer sind freundlich und aufmerksam, es irritiert etwas, dass sie aufseher genannt werden. die schülerinnen und schüler haben eine ganz besondere bestimmung in ihrem leben, von der sie zunächst nur ahnen, bald aber gewissheit erlangen.
der eher eintönige, mit jugendproblemen durchsetzte alltag wäre nicht eigentlich stoff für einen spannenden roman. doch immer mehr entwickelt sich die geschichte in eine utopische, etwas unheimliche richtung. ueber weite strecken erahnt man unfassbares und unerklärliches, das sich ganz langsam konkretisiert und zum schluss zu einem sciencefiction-artigen ende kommt. das brillante daran ist die entwicklung der handlung, die sich immer mehr zu einem kongruenten ganzen fügt.

14.02.2018

monika held: der schrecken verliert sich vor ort

als lena heiner kennenlernt, weiss sie gleich, dass dies der mann ist, mit dem sie ihr weiteres leben verbringen will. aber heiner zögert, ist nicht sicher, ob er sich auf eine beziehung einlassen kann. er ist ein auschwitz-ueberlebender, seine geschichte und seine erlebnisse lassen ihn nicht mehr los. trotz aller schwierigkeiten, wagen es die beiden und schaffen es, eine tragfähige beziehung zu gestalten. immer wieder holt heiner seine lebensgeschichte ein, schon nur einzelne zufällige worte erinnern ihn an ereignisse während seiner gefangenschaft. viel und oft muss er darüber reden. später machen sie sich auf nach polen um die gedenkstätte in auschwitz zu besuchen und um unterwegs ehemalige mithäftlinge heiners zu treffen. deren besondere beziehung zueinander lässt lena beinahe eifersüchtig werden. sie realisiert, dass diese andere erfahrung eine ihr fremde welt ist, die ihr trotz all ihres wissens und ihres verständnisses fremd bleibt. heiner muss sich fragen, ob seine erlebnisse sich überhaupt vermitteln lassen.
trotz einer gewissen distanz gelang es der autorin ein sehr eindringliches buch zu schreiben. beim lesen der ungeschönten schilderung dieser unvorstellbaren grausamkeiten gab es momente, in denen ich beim weiterlesen stockte und das buch weglegen musste. immer wieder stellte sich die frage, wie menschen so handeln und wie menschen das aushalten konnten. heiner wollte unbedingt überleben, um später zeugnis ablegen zu können, wenn die täter zur rechenschaft gezogen werden. sein eigenes ueberleben hat jedoch bei ihm auch schuldgefühle ausgelöst, weil er irgendwie auf kosten der toten überlebt hat. dies alles macht diese geschichte zu einem ganz besonderen denkanstoss.

10.02.2018

wolfgang herrndorf: bilder deiner grossen liebe

isa flieht aus einer anstalt und ist zu fuss auf dem weg nach einem unbestimmten ziel. unterwegs trifft sie immer wieder auf menschen ganz unterschiedlicher art, wie auf einen lastwagenfahrer, der sie mitnimmt und ihr letztlich zu nahe kommt, einen binnenschiffer, auf dessen schiff sie gerne weitergereist wäre, dann aber fliehen muss oder auf die zwei jungen, die sie auf einer müllhalde trifft. der schüchterne blonde gefällt ihr ...
in diesem letzten und unvollendeten roman herrndorfs folgen wir einer etwas ungewöhnlichen jungen frau, deren beobachtungen, stimmungen und begegnungen auf ihrem «roadmovie»-artigen weg wunderbar beschrieben sind und dadurch so spürbar werden.

01.02.2018

lizzie doron: who the fuck is kafka

nadim, ein palästinensischer journalist aus ost-jerusalem und lizzie, eine autorin aus tel aviv, lernen sich an einer friedenskonferenz in rom kennen und beginnen ein gemeinsames buch- und filmprojekt zu planen. zurück in der heimat stellen sich sofort viele probleme, die ihre nicht ganz einfache freundschaft auf schwere proben stellt. schon allein die tatsache, dass ein araber und eine jüdin sich treffen, wird in der oeffentlichkeit vor allem als tabubruch und sicherheitsproblem wahrgenommen. trotz all den schwierig­keiten und missverständnissen geben sie lange nicht auf.
eindringlich und überzeugend werden wir konfrontiert mit dem schwierigen leben zwischen grenzmauern, terrorverdacht, strassensperren, mit zwei völlig getrennten gesellschaften, die neben- und miteinander leben müssen. unerbittlich exakt und mit unverstelltem blick beschreibt die autorin das leben der beiden von vorurteilen geprägten völker, deren wirtschaftlicher status nicht unterschiedlicher sein könnte. der dazwischen immer wieder aufblitzende glaube der beiden protagonisten an ein gemeinsames, friedliches leben erscheint utopischer denn je. als israelin und frau versteht es lizzie doron ausserordentlich gut, ihre eigenen bedenken und vorurteile immer wieder zu reflektieren.
ein bei aller emotionalität trotzdem sachlicher roman. der etwas ungewöhnliche titel, der sich auf eine kurze sequenz im buch bezieht, lässt einen vielleicht etwas ganz anderes erwarten. mich hätte er beinahe von der wahl des buches abgehalten.

29.01.2018

joseph conrad: herz der finsternis

marlow ist unterwegs auf einer abenteuerlichen reise nach afrika. er kommt immer tiefer ins unbekannte landesinnere einer kolonie, trifft immer wieder auf missionsstationen und siedlungen und muss sehen, wie mit gewalt und unehrlichen geschäften den einheimischen nicht nur ihre rohstoffe, sondern auch ihr land genommen wird.
dieser über hundert jahre alte roman beschreibt die damaligen aktivitäten von siedlern und kolonialisten und trägt durch die benennung des unrechtes dazu bei zu verstehen, wo viele noch heute herrschende probleme afrikas ihren ursprung haben.

24.01.2018

jakob arjouni: hausaufgaben

joachim linde ist deutschlehrer an einem gymnasium. seine letzte schulstunde vor dem langen wochenende nimmt eine schwierige wendung, die zu einem skandal ausarten könnte. zuhause steht es auch nicht zum besten. die frau depressiv und immer wieder in der klinik, die tochter wohnt mit einem suspekten freund in mailand. sein sohn pablo verunglückt und liegt im koma im spital. und nach dem wochenende steht in der schule die sitzung an, an der über die auswirkungen seiner letzten deutschstunde gesprochen wird.
von kapitel zu kapitel wird es schlimmer. ganz langsam entwickelt sich dieses drama unweigerlich und ist zeitweise beinahe nicht auszuhalten. all die träume, die der vater in seine familie gesteckt hat, sind nicht erfüllt, der ganze liberale unterricht ist zum scheitern verurteilt. trotz der heftigkeit und tragik spannend und leicht zu lesen.

22.01.2018

fatma aydemir: ellbogen

hazal, tochter türkischer einwanderer, ist in deutschland geboren. sie will ihre jugend geniessen, sich verlieben und frei sein. nach einer schicksalshaften nacht wird sie von der polizei gesucht. sie flüchtet nach istanbul, das sie nur vom hörensagen kennt und versucht dort fuss zu fassen. ihre tante versucht erfolglos sie zurückzuholen.
das einzigartige stimmungsbild der familie von hazal allein lohnt schon das lesen des buches. dazu kommen einige ihrer freundinnen – alle ebenso mit migrationshintergrund – die mit ihren träumen und wünschen zwischen den beiden kulturen ihren weg finden müssen. in istanbul herrscht eine ganz andere realität, die die vermeintliche freiheit eher zu einem ueberlebenskampf umkehrt. beim lesen freut und leidet man mit hazal und hofft dauernd, dass sich alles doch noch zum guten wendet.

16.01.2018

yvette z'graggen: matthias berg

marie reist von genf nach berlin um ihren grossvater kennenzulernen, über den sie von ihrer mutter viel gehört hat. er kam damals als gebrochener mann aus der kriegsgefangenschaft zurück. sie trifft ihn, doch bevor es zu einem gespräch kommt, stirbt er. lena, seine lebensgefährtin berichtet über die dunkle zeit dieses mannes.
mit kargen sätzen wird hier die geschichte eines deutschen kriegsheimkehrers erzählt, dessen leben durch die erlebnisse zerstört ist und das leben seiner nächsten angehörigen ebenso verstört. mit diesem buch setzt die autorin nicht nur einen eindringlichen appell gegen kriege, sondern schafft auch einen wichtigen beitrag zum verständnis der deutschen nachkriegsgesellschaft.

13.01.2018

steinunn sigurdardóttir: herzort

die alleinerziehende mutter harpa beschliesst mit ihrer drogenabhängigen tochter edda aus reykjavik wegzugehen, um sie der schlechten gesellschaft dort zu entziehen. harpas beste freundin heide fährt sie mit ihrem pickup an die ostfjorde. die reise der südküste islands entlang birgt viele ueberraschungen und verläuft nicht immer problemlos. die schwankende stimmungslage von edda und der versuch ihrer drogenfreunde sie zurückzuholen, bringt einige schwierigkeiten. und harpa ist noch auf einer ganz anderen, eigenen mission: sie will in ihrer heimat endlich erfahren, wer ihr leiblicher vater ist.
intensiv und von emotionaler tiefe ist die beschreibung des dilemmas der jungen mutter, die der fast unlösbaren aufgabe gegenüber steht, die tochter trotz ihrer frechen und ruppigen art zu lieben und gegen ihren willen das «beste für sie» zu wollen. daneben steht die jahrelange und tragende freundschaft von harpa und heide, die verschiedener nicht sein könnten. dies alles spielt sich in einer spektakulären landschaft ab. zuletzt löst sich auch die frage nach dem leiblichen vater ohne ins kitschige abzugleiten. wenn einem der einstieg in die geschichte gelungen ist, liest sich das buch gut und weckt sehnsüchte nach diesem einzigartig fremden island.

07.01.2018

elif shafak: der architekt des sultans

im 16. jahrhundert kommt jahan aus seiner heimat indien mit einem weissen elefanten in istanbul an. das tier ist ein geschenk des dortigen herrschers für den sultan des osmanischen reiches. als betreuer des elefanten lebt jahan am hof und sein aufstieg bis in die höchsten kreise beginnt. er verliebt sich unglücklich in die tochter des sultans, wird schüler des hofarchitekten sinan und befreundet sich mit einem zigeunerpatriachen, der ihn mehrmals aus schwierigkeiten rettet. als sinan stirbt verhindern intrigen, dass jahan dessen nachfolge antreten kann. im hohen alter kehrt er nicht ganz freiwillig zurück nach indien.
schon nach den ersten zwanzig seiten steckt man mitten in dieser farbigen geschichte, die einen an märchen aus 1001 nacht erinnert. allein die beschreibung des friedlichen lebens der menschen so unterschiedlicher herkunft im damaligen istanbul lohnt das lesen. die lebensgeschichte von jahan ist ergreifend und voll von emotionen. auch wenn ihm nicht alles gelingt und er immer wieder niederlagen erleben muss, bleibt er ein mensch, der nur das gute will. eine meisterhafte erzählung, in der alles stimmt.