30.12.2013

john williams: stoner

stoner wächst als einziger sohn auf einer farm im mittleren westen der usa auf, seine eltern sind hart arbeitende, wortkarge menschen und seine zukunft scheint vorgezeichnet. sein vater schickt ihn nach der schule zur universität für ein agronomie-studium. doch schon nach einem semester wechselt er seine studienrichtung: literatur ist seine leidenschaft. er wird professor für literatur an ebendieser universität, heiratet und hat eine tochter, um die er sich in den ersten jahren liebevoll kümmert, da es seine frau nicht tut. die ehe ist zerstörerisch und einzig die jahre mit seiner geliebten lassen ihn versteckt eine befriedigende liebe erleben. am arbeitsplatz muss er einen vorgesetzten aushalten, der ihn hasst, ihn aber nicht entlassen kann und ihm möglichst viele schwierigkeiten macht. zur zeit seiner pensionierung wird stoner krank und stirbt. in seinem eigentlich unspektakulären leben muss er mit vielen widrigkeiten und schicksalsschlägen fertig werden. er tut dies mit einer stoischen ruhe, einer kraft, die er aus seiner liebe zur literatur bezieht und die ihn scheinbar alles unbeschadet überstehen lässt.

so karg und klar stoner durchs leben geht, so karg und klar ist die sprache dieses romans. sofort ist man beim lesen mittendrin. kapitel um kapitel staunt man immer wieder über den verlauf der geschichte, meint selbst eingreifen zu müssen, damit es sich für stoner zum besseren wendet. aber auch ohne unser „eingreifen“ bewältigt er all diese widrigkeiten, wird nicht verbittert, nimmt alles so hin, wie es kommt und bleibt sich selbst treu bis zum ende. selbst sein abgang ist frei von hader. diese wundersame geschichte zeigt ein bild eines menschen, der diese kraft hat, die man nicht immer versteht, aber die man sich selbst wünscht.

25.12.2013

nadine gordimer: keine zeit wie diese

steve, der weisse professor, und jabu, die schwarze anwältin, stehen für das neue südafrika. kennengelernt hatten sie sich als revolutionäre im kampf gegen die apartheid und ihre liebe begann, als dies für sie noch verboten war. inzwischen führen sie ein bürgerliches leben in einer vorstadt mit eigenem haus und zwei kindern. mit den in ihrer umgebung lebenden früheren kampfgenossinnen und -genossen, die mittlerweile alle auch zum gut verdienenden mittelstand gehören, finden sie sich in einer oase von ruhe und relativem frieden. doch realisieren sie die veränderungen, die die neue präsidentschaft unter jacob zuma mit sich bringt und sehen längerfristig keine perspektive mehr für sich in diesem land.
einzigartig versteht es nadine gordimer am puls der zeit zu bleiben. mit diesem roman vermittelt sie einen blick in das heutige südafrika, zwanzig jahre nach der abschaffung der apartheid, auf die eine andere art der ausgrenzung grosser teile des volkes folgte. reichtum und armut haben folgen auf das zusammenleben und die zuwanderung von flüchtlingen aus simbabwe gefährdet den ohnehin schon brüchigen sozialen frieden. differenziert lässt sie ihre protagonisten über die unterschiedliche sichtweise auf die aktuellen probleme diskutieren. ohne urteile zu fällen gelingt es ihr, das komplexe sozialgefüge dieses volkes, das noch immer unter den folgen des apartheidregimes leidet, zu beschreiben und verstehen zu lernen.
verschiedene handlungsebenen und schauplätze sind sehr dicht verknüpft und komplex beschrieben, so dass das lesen grosse aufmerksamkeit erfordert. es ist ein gewaltiger roman, kein buch der leichten unterhaltung.

15.12.2013

franz hohler: die steinflut

damit sie aus dem haus sind werden die siebenjährige katharina und ihr jüngster bruder kaspar kurz vor der niederkunft der mutter, in die höhe über dem tal geschickt, wo ihre grossmutter wohnt. katharina beschäftigt schon in ihrem alter die frage, woher die kinder kommen, wagt aber die erwachsenen nicht zu fragen. ein paar tage später sollen die kinder wieder nach hause ins tal und so geht die grossmutter mit dem kleinen kaspar und der entlaufenen katze hinunter. katharina weigert sich mitzugehen, bleibt noch oben und überlebt so den elmer bergsturz, während ihre ganze familie verschüttet wird und ums leben kommt.
die novelle, aus der ungewohnten optik eines kindes erzählt, fusst auf der historischen gegebenheit und wird zum zeugnis einer von den menschen gemachten naturkatastrophe. durch den schieferabbau wurde damals die stabilität des berges untergraben. aus der sicht einer siebenjährigen lesen wir, wie es zu jener zeit zu und her ging, in der armut und kindersterblichkeit herrschten, welche werte für die menschen wichtig waren und wie sie damit umgingen.

12.12.2013

joël dicker: die wahrheit über den fall harry quebert

als harry quebert, ein berühmter schriftsteller und literaturprofessor unter verdacht gerät, die 15-jährige nola nicht nur ermordet, sondern auch ein liebesverhältnis mit ihr gehabt zu haben, ruft er seinen ehemaligen studenten marcus goldman an, den er als seinen einzigen freund betrachtet. marcus reist aus new york zum ort des geschehens in new hampshire und beginnt mit eigenen ermittlungen. immer mehr fragen tauchen auf, kaum jemand, der nicht in verdacht kommt oder sonst irgendwie mit der sache zu tun hat. in der sonst beschaulichen kleinstadt an der küste wird es unruhig, gegenseitige verdächtigungen vergiften das klima. immer wieder neue erkenntnisse geben der geschichte unerwartete wendungen. gleichzeitig steht marcus unter druck, ein neues buch schreiben zu müssen, die ganze härte des verlagsgeschäftes trifft ihn. diese abenteuerliche fahndungsgeschichte wird letztlich zu seinem neuen buch.
nach der vergabe des „grand prix du roman“ der académie française erwartet man alles, nur keinen amerikanischen krimi. genau das ist es eigentlich. aber nicht nur das. auf einer anderen ebene beschreibt er kritisch die ganze buchindustrie mit ihren verlagsgeschäften. brillant und tiefgründig geschrieben, trotz einiger längen in der mitte, spannend bis zum schluss führt uns der autor durch das komplexe geschehen. ein unterhaltendes lesevergnügen, das sich schlecht unterbrechen lässt.

24.11.2013

arno geiger: es geht uns gut

das ist die geschichte von grosseltern, eltern und kindern, also dreier generationen einer recht gut situierten familie mit nicht ganz einfachen verhältnissen untereinander. richard, der grossvater, geht auf distanz zu den nazis, was 1938 nicht einfach ist, als oesterrreich an das deutsche reich angeschlossen wird. später, in der nachkriegsrepublik wird er minister. alma, die grossmutter, bewohnt am schluss, als richard alt und dement ins pflegeheim kommt, allein die grosse villa in wien. ihr sohn otto stirbt früh, die tochter ingrid heiratet gegen den willen der eltern peter, der aus einer mit den nationalsozialisten kollaborierenden familie stammt und mit seinem studium nicht vorwärts macht. deren tochter wiederum zieht früh nach new york, nur philipp, der sohn bleibt in wien und erbt die villa der grosseltern. aus seiner perspektive wird die familiengeschichte erzählt, die sich fast über das ganze 20. jahrhundert hinzieht.
in diesem sehr schönen buch erzählt der autor treffend, manchmal ernst und traurig, manchmal lustig und witzig, oft aber auch einfach neutral beschreibend, diese komplexe geschichte vor dem hintergrund oesterreichs im 20. jahrhundert. der zusammenbruch des kaiserreiches und die reduktion auf das kleine neue land haben ebenso einfluss, wie die unterschiedlichen politischen ausrichtungen, das soziale gefälle und der katholizismus.

13.11.2013

otto zumoberhaus: am schattenberg

eine familiengeschichte über etliche generationen in der zeit zwischen dem frühen 19. und dem späten 20. jahrhundert, also einer zeitspanne von fast 200 jahren. in einem walliser bergdorf schliesst der junge christian die ehe mit luwisa. als er in der hochzeitsnacht merkt, dass er nicht der erste mann ist, stellt ihn dies auf eine harte probe. aber man spricht ja nicht über solche dinge. das erste kind kommt keine neun monate nach der hochzeit zur welt, da machen gerüchte und vermutungen schnell die runde. als später die drei kinder und luwisa kurz hintereinander sterben, steht für die dorfbevölkerung fest, dass dies gottes gerechte strafe ist. christian heiratet ein zweites mal und hat weitere zehn kinder. die zeit bringt neues: industrialisierung, eisenbahnbau und elektrizität verändern das leben auch im abgeschiedenen dorf. die armut wird weniger, die abhängigkeiten anders, die jungen gehen auswärts arbeiten, bringen aber nicht nur geld, sondern auch neues gedankengut nach hause. uneheliche kinder, trennungen und homosexualität, alles muss christian in seiner familie erleben. und vor dem hintergrund der strengen katholischen religiosität verstehen die menschen frühen tod und unglücksfälle als strafe gottes. letztlich wird nur der uneheliche sohn einer seiner töchter den namen der familie weitertragen.
ein spannendes familienepos, das leicht zu lesen ist und bis zum schluss dank dem beigefügten genealogischen plan übersichtlich bleibt. aber auch ein stück geschichte eines gebirgstales, das aus seiner abgeschiedenheit herauskommt und dessen bevölkerung sich mit der neuen zeit, mit den veränderten werten und den zuziehenden fremden auseinandersetzen muss. eine geschichte, die diese ganze palette von problemen aufnimmt und verarbeitet. ein echter lesegenuss.

08.11.2013

lily brett: chuzpe

als der 87-jährige vater von ruth von australien nach new york zieht um nahe bei seiner tochter zu sein, ändert einiges. bei ruth, die erfolgreich eine kleine eigene firma führt, beginnt er sich in ihrem büro nützlich zu machen, was immer wieder zu belastenden situationen zwischen den beiden führt. doch plötzlich werden seine besuche weniger, er hat anderes zu tun. auf einer früheren reise hat er zwei polnische frauen kennengelernt, die nun nach new york kommen. mit der einen beginnt er eine liebesbeziehung. die beiden frauen und er beschliessen gemeinsam ein restaurant zu eröffnen. unvorstellbar für ruth, ihren vater an der seite einer jüngeren frau zu wissen und restaurants gibt es unendlich viele in new york. ruth ist überzeugt, dass das unternehmen ein fiasko wird. aber es kommt anders.
die lebensfreude und tatkraft des vaters stehen den zweifeln und dem hadern der tochter gegenüber.
während man beim lesen den vater und seine freundinnen gleich ins herz schliesst und ganz auf ihrer seite steht, kommt für die zweifelnde und nörgelnde ruth keine sympathie auf. das eigentlich ernsthafte thema der tochter-vater-beziehung ist eher unglücklich in eine komödienhafte handlung eingebettet und gelingt nicht überzeugend. zu viele nebenhandlungen ziehen die geschichte in die länge ohne eine wirkliche spannung aufrecht zu erhalten. zu viel oberflächlichkeit steht der ernsthaftigkeit gegenüber. der roman kommt unterhaltsam daher, ist aber trotzdem irgendwie langweilig.

29.10.2013

andrea conrad: gefährliche liebe unter dem hakenkreuz

heinrich lebt in den 1930er jahren in berlin, ist schwul und nazifeindlich, sein vater reich und nazifreundlich. als der vater von der homosexualität erfährt, nötigt er seinen sohn in die sa einzutreten und sorgt dafür, dass er weit weg von zuhause im rheinland eingesetzt wird, wo er als fahrer für sa-grössen zur verfügung stehen muss. mit seinem auto verursacht er einen unfall, bei dem richard, sohn jüdischer eltern, verletzt wird. er sorgt sich um den verletzten und verliebt sich in ihn. seine liebe wird erwidert. nun beginnt eine versteckte liebesgeschichte, der es nicht an dramatik fehlt. schliesslich wird es für die juden auch hier zu gefährlich und heinrich verhilft seinem geliebten und dessen familie zur flucht. im letzten moment scheitert diese beinahe, doch es gelingt richard und seiner schwester nach england zu kommen. hier bricht bald der kontakt zu heinrich ab, er erfährt nur von dessen versetzung an die ostfront und geht davon aus, dass es kein wiedersehen gibt. aber es kommt anders.
schwierige lebensläufe in einer schweren zeit, die zu einem spannenden weitgehend leicht zu lesenden text verarbeitet sind. bis zu einen gewissen grad ist der roman trotz der zeitweise plakativen handlungsführung gelungen. die ereignisse kommen hin und wieder etwas gesucht daher und es finden sich einige ungenauigkeiten bei orts- und personenbeschreibungen. der stil erinnert über gewisse strecken an groschenromane. trotzdem, oder vielleicht gerade deswegen, ein lesenswerter versuch zu einer noch selten thematisierten auswirkung des dritten reiches.

27.10.2013

henning mankell: vor dem frost

linda, die tochter kurt wallanders, des bekannten kommissars, tritt in die fussstapfen ihres vaters und hat die polizeischule absolviert. sie kehrt zurück, um in ihrer heimatstadt ihre erste stelle anzutreten, arbeitet also zukünftig am gleichen ort wie ihr vater. die hier beschriebene geschichte findet noch vor ihrem ersten arbeitstag statt.
lindas langjährige freundin anna glaubt ihren seit jahrzehnten verschwundenen vater gesehen zu haben und verschwindet später selbst unauffindbar. linda macht sich sorgen und beginnt schon mal zu ermitteln, ohne offiziell dazu berechtigt zu sein. tiere werden angezündet, kirchen brennen und ein paar morde geschehen. alles deutet auf rituelle oder religiöse taten hin. als dann zebra, ihre andere langjährige freundin verschwindet und anna wieder auftaucht und so tut, als wäre nichts gewesen, wird der verlauf der geschichte dramatisch.
zentral in diesem roman ist nicht nur die handlung der kriminalgeschichte sondern auch das verhältnis zwischen linda wallander und ihrem vater, bei dem sie noch wohnt, was nicht immer ganz einfach ist. zudem verliebt sich linda in einen jungen polizeibeamten aus dem team ihres vaters.
insgesamt spannend, manchmal etwas zu viel handlung und parallel laufende geschichten. linda kommt manchmal etwas plump daher und ihre fehler als anfängerin sind etwas drastisch dargestellt.

17.10.2013

uwe tellkamp: der turm

die letzten jahre der ddr in einem real existierenden villenviertel dresdens. seine bewohner und bewohnerinnen leben den alltag im sozialistischen staat, der immer weniger die schwierigkeiten des systems zu verdecken und kompensieren vermag. die probleme der versorgung mit gütern des täglichen bedarfs, die beziehungen, die nötig sind um nichterhältliches zu kriegen und die materiellen sorgen, sind ein teil der geschichte. die vorsicht in beziehungen zu unvertrauten menschen, der ideologische druck am arbeitsplatz und in der oeffentlichkeit, die den alltag dominieren, sind der andere teil. die meisten der hauptfiguren führen für die damaligen verhältnisse ein recht privilegiertes leben.
der letzte sommer der ddr wird durch viel neues und undenkbares eine spezielle zeit für alle, der widerstand beginnt sich zu formieren und das volk geht auf die strasse. für christian, den einen sohn, der seinen wehrdienst ableisten muss, kommt es aber ganz hart. in der armee ist er der staatlichen kontrolle viel stärker ausgesetzt und in den letzten tagen steht er als mitglied der ordnungsmacht gegen seinen willen dem demonstrierenden volk gegenüber.
ausführlich und episch breit sind die verschiedenen geschichten der menschen und ihren abhängigkeiten beschrieben. unendlich viele details des alltags in der ddr erstehen hier noch einmal auf. faszinierend sind immer wieder die momente, in denen menschen, die einander nicht trauen, plötzlich aufgrund äusserer umstände aufeinander angewiesen sind. die jeweiligen annäherungen und das abtasten, wie weit man sich seinem gegenüber öffnen kann werden meisterhaft beschrieben. ein werk, das teilweise als geschichte, teilweise collageartig daherkommt und eine gesellschaft beschreibt, die es nicht mehr gibt, aber deren erfahrungen noch heute in deutschland nachwirken.
der turm ist ein buch, das sich nur mit grosser konzentration lesen lässt, keine leichte literatur. ohne etwas ddr-erfahrung ist es wahrscheinlich nicht ganz leicht zu verstehen, gut, dass es in der beilage zumindest eine aufstellung der wichtigsten personen und deren wohnorte gibt.

05.10.2013

mercè rodoreda: auf der plaça del diamant

das leben colometas, die als verkäuferin arbeitet, heiratet, zwei kinder hat und deren mann im spanischen bürgerkrieg stirbt, ist schwer. alleine auf sich gestellt lebt sie in bitterer armut. die ausweglosigkeit lässt in ihr den entschluss reifen, ihre kinder und danach sich selbst umzubringen. im letzten moment kommt es aber anders. eine vernunftheirat nimmt ihr die materiellen sorgen und zum schluss beginnt sie ihren zweiten mann zu lieben.
einfach und direkt beschreibt die autorin dieses leben mit grosser eindringlichkeit. all die existenziellen fragen muss colometa alleine bewältigen, nur eine ältere frau ist ihr eine freundin. colometa geht aber ihren weg. mit geduld und gelassenheit stellt sie sich den unabänderlichen bedingungen ihres lebens und macht bescheiden und pragmatisch das beste daraus.
ein ganz schönes und realitätsnahes buch, das einfach nur erzählt und weder wertet noch kommentiert.

02.10.2013

jessica durlacher: das gewissen

edna lernt samuel kennen und verliebt sich. samuel ist ein schwieriger, verschlossener, eigenartiger, komplizierter und stiller junger mann. zunächst wird nichts aus einer beziehung und edna versucht ihn zu vergessen, was ihr nicht wirklich gelingt, eher verdrängt sie die gedanken an ihn. dann treffen sie sich zufällig wieder und die kurze gemeinsame arbeit bringt sie einander nun doch näher, sie werden ein paar und ziehen zusammen in eine wohnung. die beziehung ist und bleibt schwierig. später nutzt edna einen arbeitsauftrag in südfrankreich um sich abzusetzen. sie kehrt aber noch einmal zurück um samuel die endgültige trennung mitzuteilen. doch samuel ist nicht mehr da.
die geschichte selbst nimmt einen kleinen platz ein. im zentrum stehen die gedanken, ueberlegungen, empfindungen und die selbstreflexion der ich-erzählerin edna, die einen über dreihundert seiten bannen und fesseln. nie hätte ich gedacht, dass dies so spannend und faszinierend geschrieben sein kann. das buch ist nicht – wie man denken könnte – frauenliteratur. auch für männer ist es mit sicherheit ein leseerlebnis.

30.08.2013

franz hohler: der neue berg

was als feiner erdriss im wald die aufmerksamkeit eines joggers auf sich zieht, ist das erste zeichen einer sich ankündigenden katastrophe. weitere und tiefere erdrisse, erderschütterungen, ein umgestürzter baum und aus den rissen aufsteigender rauch beunruhigen viele menschen, die hier in der gegend wohnen. die behörden reagieren schleppend, der gemeindepräsident ist erfüllt von angst um den ruf seiner gemeinde und hält informationen zurück, während seine politischen gegner das gegenteil einfordern. die mittel und fähigkeiten der menschen, auf ein sich kaum vorstellbares ereignis richtig einzustellen, bleiben äusserst beschränkt.
parallel dazu zeigen die geschichten beziehungen und familienleben der einzelnen akteure, trennungen und scheidungen in bestandenen ehen, verliebtheiten und neue lieben, kurz die unbeständigkeit des lebens.
und die katastrophe bricht über die menschen in einem kaum vorstellbaren ausmass herein.
immer wieder wird die menschheit von naturkatastrophen heimgesucht und immer wieder erfahren wir, wie schwierig in solchen momenten das richtige reagieren und ergreifen von massnahmen ist. treffend und sehr anschaulich ist davon zu lesen. ein buch voll von menschlichen regungen, voll von machtspielen und konkurrenzverhalten, voll von gefühlen mit denen jeder und jede fertig zu werden versucht, mit mehr oder weniger grossem erfolg.

28.08.2013

giorgio bassani: die brille mit dem goldrand

von auswärts zugezogen eröffnet dr. fadigati seine arztpraxis in ferrara. schnell wird er zu einem geachteten bürger und beliebten arzt. er weiss sich zu benehmen, ist zu allen freundlich und rücksichtsvoll. nur dass er noch immer ledig ist und keine anstalten macht eine frau zu suchen, lässt erste gerüchte über seine sexuelle orientierung aufkommen. als er eines sommers in rimini, wo viele ferrareser familien ferien am meer machen, mit einem jungen sportlichen studenten auftaucht, mit dem er auch das hotelzimmer teilt, beginnt der skandal. erzählt wird die geschichte von einem jüdischen mitstudenten, der im aufkommenden faschismus selbst zum aussenseiter wird.
eine erzählung über die fragilität menschlicher beziehungen und über die unbeständigkeit gesellschaftlicher werte, subtil geschrieben und trotz der tragik der geschichte, leicht und schön zu lesen.

20.08.2013

monica cantieni: grünschnabel

als adoptiertes kind wächst die erzählerin bei eltern auf, deren weitere familie die adoption nicht oder nur schlecht akzeptiert. dies muss sie hin und wieder spüren. ihr grossvater, zu dem sie eine sehr innige beziehung hat, kennt aber keine vorbehalte ihr gegenüber. sie erlebt sein aelterwerden und seine beginnende demenz. als kind geht sie damit viel selbstverständlicher um als die erwachsenen. im haus ihrer eltern leben weitere zum teil sehr spezielle menschen, unter anderem auch toni, der aus italien kommt und bei dem sie ein und aus geht. in seinem schrank entdeckt sie eines tages tonis tochter, die illegal im land lebt.
in einer eigentümlich direkten sprache, in oft kurzen und trockenen sätzen, erzählt uns „grünschnabel“, das adoptivkind, seine geschichte. es ist nicht immer leicht, beim lesen die zusammenhänge ganz zu erfassen, weil viele ereignisse nur angedeutet und im unbestimmten belassen werden. viel witz und teilweise groteske beschreibungen alltäglicher situationskomik lässt das buch aber zu einem vergnüglichen leseerlebnis werden, nicht ohne dem ernst der geschichte gerecht zu werden.

31.07.2013

jochen schmidt: schneckenmühle

der schauplatz der geschichte, die schneckenmühle, ist ein ort in der ddr. kurz vor deren ende im sommer 1989 fährt jens in eines der vielen fdj-jugendlager, in dem er als 14-jähriger seine erste liebe entdeckt. so einfach ist es aber nicht: er weiss so wenig über den umgang mit mädchen und ist auch sonst in vielem unsicher. in diesen ferientagen lernt er von den anderen jungs einiges und kommt auch etwas unverhofft und ungewöhnlich zu seiner ersten freundin. der hintergrund des sich bereits in auflösung begriffenen staates führt zu viel situationskomik.
nicht gerade ein buchtitel, der einen anspringt. die geschichte hat einige längen und setzt beim lesen eine gewisse kenntnis der verhältnisse in der ddr voraus. jedoch schafft es der autor sich in das denken und handeln der jugendlichen zu versetzen und bringt den lesenden deren spezielle welt sehr nahe. ein glossar einiger begriffe der ddr-welt wäre für viele sicher hilfreich.

29.07.2013

frank geerk: die rosen des diktators

der diplomat wird zu einer konferenz in ein von einem diktator regiertes land geschickt. jeder überwacht jeden, jeder misstraut jedem. dort lernt er andrea kennen und verliebt sich. auch sie scheint seine gefühle zu erwidern. er kennt sich selbst nicht mehr, ist bereit seine familie und seine karriere aufs spiel zu setzen. der kontakt der beiden ist aber nicht einfach: zu viel ueberwachung, zu viele spitzel, polizisten und funktionäre hindern die beiden, sich frei zu treffen. aber auch sein misstrauen ihr gegenüber wächst und als er nach hause reist, trennt er sich von ihr. zuhause wird ihm schnell klar, er kann sie nicht vergessen und beschliesst hier alles aufzugeben, um noch einmal zu ihr zu reisen. er findet sie zunächst nicht, erfährt hingegen, dass andrea die tochter des diktators ist und die begegnungen nicht zufällig waren.
eine schöne und einfühlsame liebesgeschichte im umfeld einer totalitären diktatur. die mechanismen des staatsapparates und die daraus resultierende lethargie des volkes, die mangelwirtschaft und ungerechtigkeiten, die gegenseitigen abhängigkeiten und die ueberwachungs- und kontrollmechanismen sind realistisch beschrieben. es wird beim lesen bewusst, wie beinahe unmöglich es für den einzelnen ist, sich dagegen aufzulehnen und seinen eigenen weg zu gehen.

21.07.2013

uwe timm: morenga

zu beginn des 20. jahrhunderts kämpfen die eingeborenenstämme der herero und der hottentotten in deutsch-südwestafrika, dem heutigen namibia, gegen die vertreter der deutschen kolonialmacht. joseph morenga ist einer der wichtigen anführer der einheimischen, wird auch „napoleon der schwarzen“ genannt. während die kolonialherren mit militärischen formationen das land zu besetzen versuchen, führen die einheimischen stämme ihren verteidigungskrieg mit ihren vorteilen. sie kennen das land und sind die hitze und trockenheit gewöhnt. es geht nicht gerade zimperlich zu und den deutschen militärs ist das leben der schwarzen ureinwohner nicht mehr wert als das der tiere. unter dem deutschen kolonialpersonal ist auch gottschalk, ein armeeveterinär. immer mehr zweifelt er an der richtigkeit des handelns gegenüber den eingeborenen und empfindet die landnahme als eine grosse ungerechtigkeit. die geschichte, die im ersten jahrzehnt des letzten jahrhunderts stattgefunden hat, wird aus seiner sicht erzählt.
auf der basis von dokumenten und archivalien hat der autor einen collageartigen bericht geschrieben, der historische tatsachen mit fiktiven geschichten verwebt. ein spannendes buch über ein stück deutscher kolonialgeschichte, von der wir nur allzu wenig wissen. ein schöner roman, in dem die einzelnen figuren beider seiten lebendig und klar gezeichnet werden, ohne dass die einen oder anderen besser dargestellt wären
.

07.07.2013

leon de winter: serenade

nach langen jahren alleinstehenden witwendaseins verliebt sich anneke in fred, einen älteren und rüstigen herrn, der ihrem leben eine neue wendung gibt. doch plötzlich verschwindet anneke auf unerklärliche weise, zuvor hat man bei ihr ein karzinom diagnostiziert und nur eine kurze lebenserwartung vorausgesagt. auf wunsch der familie lässt man sie über die diagnose im ungewissen, ihr verschwinden ist zunächst unerklärlich. ihr sohn bennie und fred beginnen die suche nach ihr. sie finden sie an einem ungewöhnlichen ort und die geschichte klärt sich ebenso ungewöhnlich auf.
witzig und traurig, nachdenklich und fröhlich ist dieser roman. langsam wird man an den grund des verschwindens und die hintergründe dazu herangeführt. in kurzer folge wechseln stimmungen und ereignisse, die sich letztlich zu einem bericht über ein früheres trauma und dessen heutige folgen formen.

04.07.2013

arthur honegger: freitag oder die angst vor dem zahltag

in den jahren vor dem zweiten weltkrieg herrscht nicht nur in deutschland krise und arbeitslosigkeit. auch in der schweiz ist die wirtschaftliche situation kritisch. das aufkommen des nationalsozialismus in deutschland hat auch in der schweiz seine auswirkungen. hier formiert sich der frontismus, deren vertreter mit dem nationalsozialismus sympathisieren und stimmung machen. am geschehen in einem dorf im zürcher oberland, das stark von der textilindustrie abhängig ist, zeichnet der autor die ereignisse jener zeit nach. da stehen sich gewerkschafter, bauern und fabrikbesitzer gegenüber. die nationale front beginnt zunächst im hintergrund, später immer offensichtlicher, in die geschehnisse einzugreifen. gegenseitige abhängigkeiten, gewalt und intrigen bringen die weitgehend verarmten arbeiter gegen die fabrikbesitzer und die bauern auf. je länger es dauert, je dreister die „fröntler“ werden, umso mehr beginnen aber auch andere kräfte zu wirken. der anfang zur ueberwindung dieser schwierigen krise klingt an und der zweite weltkrieg bricht aus.
ein grossartiges buch, das genau beschreibt und nie wertet. es zeigt auf, wie totalitäre systeme zu wirken beginnen, gibt uns einen blick auf ein stück schweizer geschichte, von der selten gesprochen wird, und die eine genauere betrachtung verdient.

03.07.2013

alessandro baricco: novecento

auf einem ozeandampfer von auswanderereltern geboren und zurückgelassen, wird er als säugling von matrosen gefunden und nach seinem geburtsjahr novecento genannt. eine unfassbare lebensgeschichte entrollt sich. novecento entdeckt den flügel, beginnt mit dem klavierspielen und bringt es zu einer einzigartigen virtuosität und wird berühmt. zeit seines lebens verlässt er das schiff nie. während des ersten weltkrieges als lazarettschiff, kommt der dampfer ziemlich beschädigt zurück und soll gesprengt und versenkt werden. damit verliert novecento seine heimat.
ein märchenhaftes, subtil geschriebenes buch. trotz aller darin enthaltenen wehmut schön zu lesen und zu geniessen.

28.06.2013

thomas meyer: wolkenbruchs wunderliche reise in die arme einer schickse

jung und aus einer orthodoxen jüdischen familie stammend studiert mordechai wolkenbruch an der uni und arbeitet teilweise im väterlichen geschäft. seine mutter versucht ihn, der nun doch schon 25 jahre alt ist, zu verheiraten, er aber ist fasziniert von laura, einer nichtjüdischen mitstudentin. letztlich landet er nicht nur in den armen sondern auch im bett der schickse. zuhause wird er vor die tür gestellt, die mutter ist unversöhnlich, der vater hat ein gewisses verständnis für seinen sohn. motti, wie mordechai genannt wird, folgt seinem herzen, tut sich zu beginn schwer im nichtjüdischen leben und beginnt seinen weg zu finden.
diese geschichte ist – wie selten eine – unterhaltsam, rasant, aber auch feinfühlig und bewegend geschrieben. für mich tat sich beim lesen eine welt auf, die mir bisher fremd war, von der ich bestenfalls vom hörensagen wusste. treffend und mit viel witz werden die figuren und das leben einer jüdisch-orthodoxen familie dargestellt. selbstironisch und zielsicher werden alltägliche und besondere ereignisse beschrieben. selten habe ich beim lesen eines buches so viel und stark gelacht, dass mir das weiterlesen jeweils für einen moment unmöglich war, sei es weil ich vor lauter lachen die augen voll tränen hatte oder es mich so schüttelte, dass mir das buch aus den händen fiel. ein einzigartiges werk, erfrischend, tiefgründig, aktuell und emotional.

26.06.2013

anouar benmalek: fremde sterne

die elsässerin lislei und der algerier kader sind ende des 18. jahrhunderts gefangene in der französischen strafkolonie in neukaledonien. er wird von ihr auf seiner flucht entdeckt, für sie eine chance, dem unmenschlichen regime dieser lager ebenfalls zu entkommen. auf einem australischen schmugglerschiff, das sie nach tasmanien bringt, entdecken sie den gefangenen aborigine-jungen tiradir. nur unter unmenschlichen bedingungen, selbst morden müssend, schaffen sie es nach australien zu kommen. ihre fürsorge für tiradir steht über allem und verbindet sie letztlich in liebe zueinander. sie kämpfen sich durch diese den aborigines feindlich eingestellte gesellschaft, in der nur das recht des stärkeren zählt, zu ihrem freien, selbstbestimmten leben. dabei müssen sie viel unverständnis, ablehnung und gewalt erleben, weil niemand versteht, dass sie einen aborigine als pflegekind haben.
der einblick in diese frühe australische kolonialgesellschaft zeigt, mit welchem hass, mit welcher konsequenz und härte die aborigines auf die stufe von tieren gestellt, gejagt, gemordet und ausgerottet worden sind. die menschlichkeit und fürsorge von kader und lislei bringen diese in situationen, in denen ihre ethische grundhaltung auf eine schwere probe gestellt wird. ein kraftvolles und dramatisches buch, das in einer unmissverständlichen und schonungslosen offenheit die schrecklichen ereignisse der kolonialisierung durch europäische mächte beschreibt. die fürsorgliche nähe und liebe der hauptpersonen schaffen einen gegensatz dazu und lassen auch hoffnung zu.

24.06.2013

paul auster: nacht des orakels

sid ist schriftsteller und erholt sich nach einem viermonatigen krankenhausaufenthalt langsam zuhause von einem unfall. schreiben gelingt ihm vorerst noch nicht, er verbringt den tag mit kleinen spaziergängen im stadtviertel und findet in der papierwarenhandlung eines chinesen ein notizbuch, das ihn ganz besonders fasziniert. zuhause angekommen ist seine schreibhemmung verschwunden und er beginnt eine geschichte zu schreiben, deren handlung aber in eine ausweglose situation führt.
parallel dazu erfahren wir etwas über das zusammenleben mit seiner frau grace, deren leben für ihn einige geheimnisse birgt. seine fragen behält er aber immer für sich, um die beziehung zu seiner frau, die er über alles liebt, nicht zu gefährden. er beginnt eine andere geschichte zu schreiben, die der wahrheit um seine frau, wie er später erfährt, extrem nahe kommt.
ein roman voller phantasie, abenteuerlichen ereignissen und sehr unterschiedlichen, exakt beschriebenen personen. die häufigen szenenwechsel und immer wieder neu auftretenden personen faszinieren ebenso, wie die immer wieder überraschende handlungsführung. bis zum etwas abrupten ende hält die spannung an. ich hätte gerne noch etwas weitergelesen.

22.06.2013

markus werner: am hang

eigentlich ist die erste begegnung rein zufällig. der junge anwalt clarin setzt sich zum älteren lehrer loos im vollbesetzten restaurant, weil sonst kein tisch frei ist. nur sehr zögerlich kommt ein gespräch in gang, das aber bald die ebene der belanglosigkeit verlässt. zwar zunächst widerstrebend aber zunehmend mehr erzählt loos von seiner geliebten frau, die gestorben ist. daran zerbricht er beinahe, während sein gegenüber gerne und lustvoll lebt. ihre gespräche bringen die zwei so verschiedenen männer einander näher. zu einem dritten treffen erscheint loos nicht mehr und lässt sich auch nicht auffinden. und erst spät beginnt man zu ahnen und noch später wird es gewissheit, wie nahe die beiden lebensgeschichten der beiden sind.
es ist eine freude diesen tiefgründigen und philosophischen gesprächen zu folgen. immer weniger bleibt im ungewissen, immer klarer und unmissverständlicher kommen die fakten an den tag. trotz der nicht einfachen thematik leicht und spannend zu lesen.

18.06.2013

steinunn sigurdardóttir: gletschertheater

der laientheaterverein eines isländischen dorfes plant tschechovs kirschgarten zu spielen. was als einfaches dorftheater beginnt, wird ein immer grösseres unternehmen. der reiche dorfbewohner. der „gletsching“, ist die treibende kraft. so lässt er eigens für diese aufführung ein theater bauen und engagiert einen regisseur von auswärts. die bisherige isländische uebersetzung genügt nicht mehr, auch diese muss neu gemacht werden. die idee alle rollen mit männern zu besetzen gibt dem dorffrieden eine ganz eigene dynamik. nichts ist, wie es bei früheren theateraufführungen war. das projekt ist ambitiöser als alles zuvor, weckt wünsche und erwartungen. die geschichte endet mit der premiere, welche noch einmal einige ueberraschungen bereit hält und fragen offen lässt.
bis man sich an all die isländischen personennamen und ortsbezeichnungen gewöhnt hat, ist es etwas schwierig, den ueberblick zu erhalten, aber schon nach wenigen seiten ist man voll drin und möchte das buch gar nicht mehr weglegen. diese mischung aus isländischer dorftradition und modernem leben kommt sehr realistisch daher. spannend und lustig, manchmal auch etwas überdreht.

14.06.2013

italo svevo: senilità

der junge, in gutbürgerlichen verhältnissen lebende emilio verliebt sich in angiolina, eine frau eher zweifelhaften rufes. sie hat eine aufgelöste verlobung hinter sich, über deren hintergründe es viele vermutungen gibt, aber nicht wirklich klarheit herrscht. er bemüht sich um sie, erklärt ihr aber auch, keine wirklich verbindliche beziehung zu ihr zu wollen. doch nach kurzer zeit muss er sich eingestehen, ihr verfallen zu sein. er kann sie nicht mehr loslassen, seine gedanken kreisen um sie und er wartet ungeduldig und zuweilen auch eifersüchtig auf jedes nächste treffen. sie scheint mit ihm zu spielen, hat immer wieder etwas mit anderen männern und lässt sich auch nicht festlegen. seine verschiedenen trennungsversuche scheitern.
amalia, emilios schwester, die ihm seit dem tod der eltern bescheiden und zurückhaltend den haushalt besorgt, verliebt sich in einen seiner besten freunde, den bildhauer balli, der aber ihre liebe nicht erwidert. amalia erkrankt und stirbt schliesslich, was auch unserem protagonisten die augen öffnet und er es endlich schafft, sich von angiolina endgültig zu trennen.
eine lange geschichte, deren handlung sich nur zwischen ganz wenigen personen abspielt und sich fast ausschliesslich mit der verliebtheit, der abhängigkeit, der sehnsucht und den daraus resultierenden seelenqualen befasst. all die gemütszustände sind sensationell treffend beschrieben, ohne kitschig zu werden. dass das buch vor mehr als hundert jahren geschrieben worden ist, erkennt man zwar an der sprache, das ewige thema der menschen selbst ist aktuell wie je.

10.06.2013

ueli oswald: ausgang, das letzte jahr mit meinem vater

und was ist, wenn der vater ankündigt, dass er mit einer sterbehilfeorganisation aus dem leben scheiden will? der sohn protokolliert das letzte lebensjahr und das bewusst geplante sterben seines vaters. in dieser aussergewöhnlichen zeit führen sie gespräche, lassen die familiensituation revue passieren und es wird nähe, vertrauen und freundschaft möglich, die vorher nicht da waren.
der selbstbewusste und zeitweise auch etwas starrköpfige vater öffnet sich seinem sohn gegenüber auf eine andere, vertrautere weise. immer aber sucht er die unzulänglichkeiten und beschwerden des alters zu verbergen. den abschied von dieser welt plant er minuziös, akribisch und weitgehend unbeirrbar.
nicht nur ein offenes und beeindruckendes buch, das mit einer klaren sprache sehr persönliche erfahrungen des autors vermittelt, sondern auch ein wichtiger beitrag zur diskussion um organisierte sterbehilfe.

01.06.2013

alex capus: munzinger pascha

werner munzinger, ein abenteurer, reiste im 19. jahrhundert nach aegypten und aethiopien, trieb dort handel, heiratete und kam letztlich auch ums leben. der junge reporter max mohn, der im moment für eine zeitung arbeitet und sich aufgaben gegenüber sieht, die ihm nicht gelingen wollen und die ihn auch nicht wirklich interessieren, ist von der geschichte munzingers fasziniert. hals über kopf reist er nach kairo und geht der geschichte dieses abenteurers nach.
max' lebensgeschichte, die nach der trennung von der frau, mit der zusammen er ein kind hat, nicht so gut läuft, ist der zweite handlungsstrang in diesem roman. max sitzt mit freunden in lokalen herum, spielt, trinkt und raucht. dabei verliebt er sich in polja, eine motorradfahrerin mit einer etwas exotischen geschichte. als max aus kairo zurückkommt, erfährt er, dass sie ihm dahin nachgereist ist.
eine interessante mischung aus einem stück zeitgeschichte, die die biografie eines mannes zeichnet, der die kleinstadt verlassen hatte, um dem leben zu entkommen, das max und seine freunde hier führen. leicht und spannend zu lesen, trotzdem tiefgründig und berührend.

29.05.2013

georg perec: anton voyls fortgang

ein roman, in dem über 350 seiten der buchstabe „e“ nicht einmal vorkommt. eine schier unmögliche sache und doch ist es gelungen und dies nicht nur in der französischen originalfassung sondern auch in der deutschen uebersetzung.
die geschichte des grausamen verschwindens einer ganzen sippe gibt viele rätsel auf. morde, systematische vernichtung von kindern, die die erbfolge stören könnten und andere schreckliche ereignisse bilden die handlung.
nicht einfach zu lesen, weil die sprache sich immer der regel den buchstaben „e“ zu vermeiden folgt. so wird es zu einem sehr ungewohnten leseerlebnis, vielleicht vergleichbar mit dem betrachten abstrakter malerei oder – noch eher – mit dem hören atonaler musik: alle sind nicht im ersten moment erschliessbar sondern brauchen zeit, damit vertraut zu werden. erst nach etwa fünfzig seiten begann sich bei mir ein leserhythmus einzustellen, der mir erlaubte, mich voll auf die handlung zu konzentrieren.

18.05.2013

urs hostettler: der rebell vom eggiwil

nicht immer ging es so friedlich und demokratisch zu, wie wir unser bild von der mehr als 700-jährigen schweiz gerne gezeichnet wissen. im jahr 1635 lehnten sich die bauern im emmental und im entlebuch über die konfessionsgrenzen hinweg gegen ihre herren in bern und luzern auf. der bauernaufstand war eine der grössten volkserhebungen in der schweizer geschichte.
das buch stellt die einzelnen protagonisten in den vordergrund, beschreibt ihre lebensumstände und zeigt damit ein anschauliches gesellschaftsbild jener zeit. der erfolg der harten arbeit der bauern wird nicht nur von naturgewalten geschmälert sondern auch durch die willkür der vögte, die mit ihren bussen und strafen rechtschaffene bürger in die armut treiben. dies bildet den nährboden berechtigter unzufriedenheit und führt zu diesem bauernaufstand. die regierenden städtischen patrizier schaffen es aber immer wieder – nicht zuletzt mit der unterstützung der anderen eidgenössischen stände die solidarität der talschaften zu stören und scheuen sich auch nicht, mit fremden söldnern gegen die eigenen untertanen vorzugehen.
letzlich scheitert der aufstand nach einigen monaten. drakonische strafen werden gegen die anführer verhängt. da wird gehenkt, gerädert, gevierteilt und geköpft. zur abschreckung werden die köpfe auf pfählen an öffentlichen plätzen aufgestellt und die gehenkten tagelang hängen gelassen. wer der todesstrafe entgeht, wird nach venedig auf die galeeren verkauft. eine dunkle zeit, die noch keine vierhundert jahre her ist.
beim lesen beginnt man parallelen zu sehen zwischen der damaligen und der heutigen zeit. die unterschiedliche verteilung von reichtum und macht stellt sich zwar heute etwas anders dar, ist aber immer wieder der anlass von konflikten, revolutionen und aufständen.

27.04.2013

lukas hartmann: finsteres glück

den autounfall seiner familie überlebt nur der achtjährige yves, der zunächst in einem kinderspital betreut wird. eliane, die auf solche fälle spezialisierte psychologin beginnt mit dem jungen zu arbeiten. ihre zuneigung zu diesem kind macht es ihr sehr schwer die professionelle distanz zu halten. yves familiengeschichte ist unklar, aussagen der tante, der grossmutter und der nachbarin widersprechen sich und sind nicht frei von eigenen interessen. da der junge zu keiner seiner verwandten will,  nimmt eliane ihn vorübergehend bei sich zuhause auf, was nicht nur auf ihn, sondern auch auf die beziehungen zu ihren beiden töchtern einen positiven einfluss hat. später platziert die vormundschaftbehörde yves dann bei seiner tante. diese lösung gegen den willen des jungen führt nicht zum erfolg, und bald ist er wieder – mittlerweile auch auf wunsch seiner tante – bei eliane. erst jetzt lässt yves es zu, sein trauma zu verarbeiten und es wird klar, wie der unfallhergang war.
eine sehr berührende, schön und subtil geschriebene geschichte, die menschen in schwierigen situationen zeigt und wie existenzielle schwierigkeiten beziehungen verändern können. distanz und nähe verändern sich, das leben der beteiligten verändert sich und kann nicht mehr wie vorher sein.

23.04.2013

kristof magnusson: das war ich nicht

henry findet keinen anfang mit seinem neuen und bereits von ihm angekündigten roman, er taucht ab und ist für seinen herausgeber nicht mehr auffindbar. als er zufällig in einer zeitung ein bild von jasper sieht, weiss er sofort: dieser junge mann wird die inspiration zu seinem neuen roman sein. er macht sich auf die suche nach ihm, wartet vor der bank und im café, wo all die händler ein- und ausgehen. meike lebt von den uebersetzungen der bücher, die henry schreibt. kein neuer roman bedeutet auch, keinen vorschuss vom verlag. kurz vorher hat sie sich von ihrem freund getrennt, ist aufs land gezogen und ziemlich pleite. als sie erfährt, dass henry verschwunden ist, dass es keine hoffung auf einen neuen auftrag gibt, beschliesst sie, nach chicago zu fliegen und henry dort zu suchen. henry findet jasper, jasper lernt meike kennen und sie wiederum findet henry. die gegenseitig entstehenden abhängigkeiten sind ziemlich abenteuerlich und am schluss landen sie alle drei im baufälligen haus bei meike.
ein rasantes buch, das die handlung wechselnd aus der optik der drei protagonisten erzählt. manchmal etwas unwirklich und übertrieben daherkommend ist es aber immer leicht zu lesen. das unrealistische ist durchaus erträglich und bringt einen auch immer wieder zum lachen. die beschreibungen der finanztransaktionen sind ebenso unverständlich wie faszinierend. ein gelungener, witziger und erfrischender roman.

17.04.2013

josé saramago: der doppelgänger

der geschichtslehrer tertuliano sieht in einem film in einer nebenrolle einen statisten, der völlig gleich aussieht wie er. dies verunsichert ihn, weckt aber auch seine neugier. er findet heraus, wer der schauspieler ist und wo er wohnt. sie treffen sich und stellen fest, dass auch ihre stimme und sogar muttermale völlig identisch sind.
tertuliano hat eine freundin, der schauspieler eine ehefrau. es entwickelt sich eine handlung, in der der schauspieler die freundin von tertuliano und dieser des schauspielers ehefrau trifft. beide paare verbringen eine nacht miteinander mit ungeahnten konsequenzen und einem nicht vorhersehbaren ende.
ein phantasievoller roman, der trotz ausführlichkeit und verschachtelten sätzen kurzweilig und fesselnd ist. die beschreibungen von vielen nebensächlichkeiten stören nicht, sondern runden das ganze zu einem werk ab, das nicht nur eine wunderbare geschichte vermittelt, sondern auch viele kritische betrachtungen zu gesellschaftlichen phänomen bietet.

07.04.2013

edgar lawrence doctorow: homer & langley

die zwei brüder homer und langley leben in ihrem haus an der 5th avenue in new york, gegenüber dem central park. von ihren eltern haben sie nicht nur das haus geerbt sondern auch ein ansehnliches vermögen. der ich-erzähler homer wird bereits jung blind, verfügt aber über ein sensorium, das ihm erlaubt sich im haus und in der ihm bekannten umgebung ohne grosse probleme zu bewegen. langley, der eine nicht zu bremsende sammlerleidenschaft hat, füllt das haus mit allem möglichen, bis kaum noch ein durchkommen ist. sie lernen immer wieder andere, sehr unterschiedliche leute kennen, die sich in ihrem haus aufhalten, und mit den besuchern kommen auch die ereignisse des beinahe ganzen 20. jahrhunderts in ihr haus, in dem sie sonst recht abgeschieden leben. im verlauf der zeit verlieren sie aus unterschiedlichen gründen ihre treuen dienstboten. immer mehr verfällt der haushalt und immer mehr schliessen sie sich ab von der welt. der blinde homer verliert langsam auch das gehör. irgendwann ist er allein, kann nicht mehr für sich selbst sorgen und hungert. er weiss nicht, wo sein bruder geblieben ist.
eine interessante und spannende geschichte, die auf einer wahren begebenheit basiert. hier entsteht ein bild von new york in den 30er-jahren und während des zweiten weltkrieges. die handlung selbst scheint nur die grundlage für die beschreibung vieler figuren und geschichten aus dieser zeit.
leicht und trotz der tragik amüsant zu lesen.

01.04.2013

christoph hein: in seiner kindheit ein garten

nach dem tod eines mutmasslichen terroristen und eines polizeibeamten bei einem schusswechsel werden die untersuchungen der staatsanwaltschaft nur schleppend geführt und vieles widerspricht sich in den resultaten. es macht den eindruck, dass die behörden etwas zu verschleiern versuchen. den eltern des jungen mannes lässt dies keine ruhe, geht es doch um die frage, ob ihr sohn mörder oder opfer ist. nur aus einem grund strebt der vater einen prozess an: er will gerechtigkeit für den sohn. zunehmend verändern sich seine werte und ideale und er stellt diesen staat, auf den er als ehemaliger beamter selbst einmal einen treueeid geschworen hat, in frage.
der roman fusst auf den ereignissen im jahr 1993, als auf dem bahnhof in bad kleinen die raf-mitglieder wolfgang grams und birgit hogefeld von der sondereinheit bsg-9 gefasst worden sind. wolfgang grams kam dabei unter bisher ungeklärten umständen ums leben.
eindrücklich schildert der autor die gefühle und die gedanken der eltern, die aufkeimenden zweifel am rechtsstaat, die ueberwachung durch geheim- und sicherheitsdienste und die befangenheit der gerichte. daneben stehen die konflikte, die innerhalb der familie aufkommen, aber auch das verhalten der nachbarn, freunde und bekannten. mut machen nur die wenigen menschen, die den eltern beistehen und ihnen unterstützung und hilfe sind. das buch beschönigt nichts und nimmt kein glückliches ende, so wie es in der wirklichkeit auch gewesen sein dürfte.

23.03.2013

carlos ruiz zafón: der gefangene des himmels

die buchhandlung semprere, geführt vom vater und seinem sohn daniel, beschäftigt auch fermín, der sich verheiraten will. dies wird schwierig, weil er keine amtlichen papiere mehr besitzt, also eigentlich gar nicht existiert. um ihm zu helfen, müssen seine freunde seine lebensgeschichte genauer kennenlernen und der autor führt uns weit zurück in die abgründe des spanischen bürgerkrieges. eine fast unfassbare geschichte breitet sich vor uns aus.
ein spannender roman, der trotz vielen verwicklungen, parallel verlaufenden handlungen und vielen akteuren übersichtlich bleibt. die witzigen dialoge, die manchmal an die grenze des glaubwürdigen gehenden aktionen, aber auch die anschaulich beschriebenen, oft etwas seltsamen figuren machen das lesen zur reinen freude.

11.03.2013

birgit vanderbeke: die frau mit dem hund

die handlung ist in der zeit der dereinstigen ururenkel der heutigen jungen generation angelegt, also quasi eine art science-fiction-roman. die welt ist geteilt in eine sichere stadt, in der alles geregelt ist, wo die menschen nach strengen hygiene- und verhaltensvorschriften leben und dafür eine gewisse sicherheit geniessen, und in ein umland, in dem alles frei und nichts geregelt ist, wo das recht des stärkeren und des schlaueren gilt.
in einem mietshaus der stadt trifft jule, eine bewohnerin, auf der treppe eine etwas verwahrloste frau mit einem hund. fürs erste nimmt sie sie aus mitgefühl in ihre wohnung und bringt sich durch diese verbotene handlung in schwierigkeiten. zudem ist die frau schwanger. aber ein nachbar scheint eine lösung für all diese probleme zu finden.
ein buch, in dem die handelnden sich dem system der kontrolle und ueberwachung widersetzen und sich von ihren humanitären werten leiten lassen. menschliche zuneigung und liebe lassen sie sich über geltende regeln hinwegsetzen.
mit nur wenigen „zutaten“ versteht es die autorin eine fiktive welt zu beschreiben und uns näher zu bringen, so dass sie uns gar nicht so unwahrscheinlich erscheint.

10.03.2013

per olov enquist: ein anderes leben

der autor wählt für seine autobiografie eine ungewöhnliche perspektive und erzählt seine lebensgeschichte, als wäre es die eines anderen. im norden schwedens in einen kleinen dorf auf dem land gross geworden wird er später als autor bekannt und lebt fern von zuhause in grossen städten europas und in new york. zunächst führt er ein erfolgreiches und sorgloses leben, dann folgt eine tiefe krise, die in der totalen alkoholabhängigkeit endet und ihn beinahe ums leben bringt. er schafft es, zwar nicht beim ersten versuch, sich der sucht zu entziehen und ein neues konsequent abstinentes leben zu beginnen.
seine jugend in einem streng religiösen, protestantischen umfeld prägt lange seinen weiteren lebensweg. die trennung von zuhause, das studium, die aufenthalte im berlin der 68er- und folgejahre, die erfolge am broadway waren stationen des aufstiegs und der anerkennung. der fall in die abhängigkeit des alkohols beschreibt per olov enquist nahe, genau und sehr reflektiert und legt damit ein mutiges zeugnis ab. die schliesslich erfolgreiche ueberwindung der sucht lässt zum schluss des buches hoffnung und freude aufkommen.
daneben erfahren wir, wie seine bücher entstanden sind und welche sorgen und nöte er damit hatte. eine wunderbare gelegenheit einen autoren kennenzulernen und zu verstehen.

04.03.2013

alina bronsky: scherbenpark

der solitär ist ein heruntergekommenes hochhaus irgendwo am rand einer stadt in deutschland, in dem ausschliesslich eingewanderte russinnen und russen wohnen. ein den meisten von uns unbekanntes milieu, eine weitgehend chancenlose parallelgesellschaft. die 17-jährige sascha lebt mit ihren zwei jüngeren halbgeschwistern hier und besucht als hochbegabte ein gymnasium, wo sie die einzige schülerin mit migrationshintergrund ist. zudem hat ihre familie eine gewisse bekanntheit erlangt, weil der stiefvater die mutter und deren freund ermordet hat. auf der suche nach der journalistin, die darüber geschrieben hatte, trifft sascha auf volker, den redaktionsverantwortlichen und dessen sohn, was nicht ohne komplikationen verläuft.
in einer berührend direkten sprache erfahren wir vom leben dieser jungen frau, die ganz grundsätzlich keine angst hat und dank ihrer beobachtungsgabe, voraussicht und intelligenz in diesem schwierigen umfeld ihren weg macht und der integration in die gesellschaft ihrer neuen heimat immer näher kommt. die sich selbst auferlegte pflicht der verantwortung für ihre geschwister steht über allem und lässt sie immer wieder in den solitär zurückkehren.
langsam erfahren wir in rückblenden, wie sich der doppelmord damals vor den augen der kinder abgespielt hat. spannend, manchmal beinahe unwirklich oder zumindest unvorstellbar, lesen wir über saschas leben zwischen erfolgen und rückschlägen. trotz vielen extremen situationen bleibt die handlung realistisch und nachvollziehbar. die subtilen beschreibungen von gefühlen und empfindungen lassen einen dieser realität nicht ausweichen. die rasante geschichte geht nahe und lässt einen das buch kaum weglegen, bevor es zu ende gelesen ist.

22.02.2013

astrid rosenfeld: elsa ungeheuer

elsa wird von ihrer mutter zu verwandten aufs dorf gebracht, damit sie selbst mit ihrem neuen liebhaber auf eine weltreise gehen kann. elsa ist mit ihren elf jahren eine ziemlich freche und vorlaute person und zieht schnell die beiden brüder lorenz und karl aus der nachbarschaft in ihren bann. während sie mit lorenz, dem aelteren eine schwierige freundschaft pflegt, ist karl von unerfüllter liebe für sie erfüllt. die kinder werden gross, elsa mittlerweile in texas verheiratet, lorenz künstler, der an eine reiche mäzenin gerät und scheinbar im kunstbetrieb erfolg hat. karl will ein studium beginnen und kann elsa nicht vergessen. die geschichte nimmt viele unerwartete wendungen, am schluss sind alle wieder auf sich selbst gestellt und gehen ihre wege.
ein rasantes, manchmal beinahe etwas atemberaubendes buch, das eine geschichte erzählt, die man für möglich halten könnte. nichts ist unmöglich, wagt man zu denken und ist irgendwie gespannt, wohin die handlung führt.
in der ersten hälfte des buches stört, dass die kinder wie erwachsene handeln und sprechen. die autorin versucht mit vielen schnell wechselnden handlungen, mit immer neuen ereignissen, die kaum eine kongruente handlung geben, die spannung zu halten, was aber nicht eigentlich gelingt.

07.02.2013

gaito gasdanow: das phantom des alexander wolf

als sechzehnjähriger erschiesst der ich-erzähler während des bürgerkrieges einen gegner. er flüchtet mit dem pferd des opfers, weil seines in diesem kampf tödlich getroffen wurde. diese erinnerung lässt ihn während seines ganzen lebens nicht mehr los. als er ein buch liest, in dem diese begebenheit exakt wiedergegeben ist, weiss er, nur sein damaliger gegner kann dies geschrieben haben; er hat also überlebt. seine suche nach ihm verläuft vorerst erfolglos. erst später lernt er ihn über einen zufälligen bekannten kennen. noch weiss er nicht, dass sein damaliges opfer der ehemalige mann seiner geliebten ist. die geschichte nimmt ein dramatisches ende.
eine sich langsam und ruhig aufbauende handlung, die sich immer mehr zu einem krimi entwickelt. in einer schönen und bildhaften, nicht mehr ganz modernen sprache schreibt gasdanow eine geschichte, die sich mit grundlegendem des lebens auseinandersetzt.

03.02.2013

sofi oksanen: stalins kühe

anna, die tochter einer estnischen mutter und eines finnischen vaters lebt mehr oder weniger allein mit ihrer mutter irgendwo in einer kleinstadt in finnland. ihr vater arbeitet in moskau und kommt nur selten nach hause. mit ihrer mutter reist sie immer wieder zu ihren verwandten nach estland, wo sie ihre grossmutter trifft und mit kindheitserinnerungen, der geschichte ihrer familie und derer estlands konfrontiert wird. von diesen reisen darf ihr umfeld aber nichts wissen: ihre mutter verleugnet ihre herkunft, weil estinnen in finnland einen schlechten ruf haben. in diesem spannungsfeld entwickelt anna eine schwere essstörung, die sie vor allen verbirgt.
meisterhaft verflochten kommen die verschiedenen geschichten und ereignisse daher. mit beinahe unerträglicher genauigkeit beschreibt sofi oksanen die umstände und erscheinungen der krankheit. massloses essen einkaufen, fressorgien, würgen und erbrechen folgen einander immer wieder. all den gedanken und ueberlegungen ums essen, die die an essstörungen leidenden umtreiben, kann man als leser nicht ausweichen. um sich im alltag unauffällig zu verhalten und selbst vor nächsten freunden und angehörigen die krankheit zu verbergen, muss sich anna immer wieder neue strategien einfallen lassen. aber nicht nur die leiden, sondern auch die sehnsüchte und träume annas begegnen uns. und nichts wünscht man sich sehnlicher, als dass anna am schluss gesund und glücklich wird.
ein spannendes, einzigartiges und brillant geschriebenes buch zu einem thema, zu dem es bisher kaum literatur geben dürfte.

28.01.2013

matthias zschokke: der mann mit den zwei augen

der mann mit den zwei augen ist der titelheld des buches und er erlebt viel, aber nicht wirklich etwas spektakuläres. wir erfahren nicht viel zu seiner person. nein, wir folgen beim lesen einem stück seines lebens, das sich von einer begebenheit zur nächsten bewegt, er nimmt beziehungen auf, trifft leute, macht sich gedanken, trifft nachbarn im treppenhaus. ab und zu sucht er das freudenhaus auf und erlebt dort eher skurriles. das zusammenleben mit (s)einer frau gestaltet sich eher wohngemeinschaftsartig und trotzdem ist es eine liebe. und alles bleibt in dieser geschichte irgendwie im ungefähren.
die schöne und reiche sprache, in der viele alltägliche beobachtungen notiert werden, macht das lesen dieses buches, das keine wirklich spannende handlung hat, leicht und vergnüglich. immer wieder entdeckt man dinge, die man selbst genau so beobachtet hat, situationen, die einem bekannt vorkommen. ein meisterhaft geschriebenes buch, das einen hin und wieder etwas herausfordert.

14.01.2013

mahi binebine: die engel von sidi moumen

in einem bidonville von casablanca wachsen die jugendlichen in grosser armut und ungewisser zukunft auf. in abfalldeponien suchen sie nach verwertbarem, das sie zu etwas geld machen können um zu überleben. dort spielen sie auch fussball, einer ihrer wenigen lichtblicke. in diese perspektivelosigkeit kommt abu subair, der den jungen arbeit vermittelt, sich um sie kümmert und sie und ihre familien unterstützt. er gewinnt ihr vertrauen, sie besuchen ihn in seiner behausung und hören ihm zu, wenn er erzählt und ihnen das paradies verspricht. das paradies sei nahe und zu verlieren gibt es in dieser siedlung, in der armut, gewalt und unerfüllte träume vorherrschen, nicht viel. so ist es für abu subair ein leichtes, die jungen für den folgenschweren weg mit dem „paradiesgürtel“ zu gewinnen.
rückblickend aus dem jenseits erzählt einer der jungen spannend, traurig aber auch mit humor seine geschichte. er und seine freunde, die in sidi moumen gross geworden sind, waren von abu subair und dessen glaubensgenossen auf einen weg geführt worden, an dessen ende sie mit sprengstoffgürteln zu einem touristen-hotel unterwegs waren. mit dem beenden ihrer leben hatten sie viele der dort anwesenden mit in den tod gerissen.
ohne zu urteilen oder zu werten ist es dem autor gelungen uns die lebenswege von jungen menschen zu zeigen, die – weil sie nichts zu verlieren haben – ihr leben verschenken.

09.01.2013

silvio huonder: die dunkelheit in den bergen

anfangs des 19. jahrhunderts werden in einer abgelegenen mühle in den bergen graubündens der müller und seine beiden mägde grausam ermordet aufgefunden. schnell wird ein tiroler, der sich immer wieder in der gegend herumtreibt, verdächtigt und verfolgt. bei seiner festnahme gibt er die tat auch zu. doch da gibt es noch die bäuerin, die ihren mann anzeigt, da er zur tatzeit auch bei der mühle gewesen sein soll. der polizeidirektor nimmt mit zwei aus fremden kriegsdiensten zurückgekehrten männern die verfolgung auf und findet die weiteren verdächtigen im verfallenden stammschloss seiner eigenen vorfahren. die aussagen der angeklagten widersprechen sich und der fall wird nie ganz aufgeklärt.
mit bildhaften beschreibungen entführt uns der autor in eine zeit, in der graubünden, erst wenige jahre teil der schweizerischen eidgenossenschaft, noch eine wilde gegend war, in der es nicht immer einfach war, recht und ordnung durchzusetzen. eine kriminalgeschichte ganz besonderer art, eingebettet in ein historisches zeitgemälde, von dem eine grosse spannung und faszination ausgeht. neben der handlung erfährt man einiges über das leben in jener zeit. das etwas schnell und unvermittelt daher kommende ende lässt einige fragen offen. gerne hätte ich noch etwas über die bäuerin erfahren, die ihren mann angezeigt hat und damit wahrscheinlich auch ein stück der eigenen existenz und die ihrer kinder aufs spiel gesetzt hat.

04.01.2013

marlen haushofer: die wand

eine frau fährt mit ihrer cousine und deren mann für ein paar tage in ihr jagdhaus. das paar geht abends noch einmal ins dorf und kehrt nicht mehr zurück. am nächsten morgen macht sie sich auf die suche nach ihnen und trifft unterwegs auf eine unsichtbare wand, die sie nicht überwinden kann. hinter der wand ist kein leben mehr zu sehen, sie bleibt mit dem hund alleine auf der welt zurück. eine kuh, später auch eine katze, laufen ihr zu. es bleibt ihr nichts anderes als sich mit ihren tieren auf ein einsames leben einzurichten.
aus der retrospektive nach zwei jahren dieses lebens erfolgt ihr bericht darüber. eine art robinson-geschichte, die realistisch beschreibt, wie ein leben ohne die annehmlichkeiten der zivilisation immer schwieriger wird und viel einfallsreichtum erfordert. aber vor allem ein philosophisches werk über leben, ueberleben und den sinn des lebens. in ihrer einsamkeit wird die frau auf existenzielle fragen zurückgeworfen.
obwohl nicht wirklich etwas geschieht, ist dieser bericht etwas selten spannendes. in einer unkomplizierten und klaren sprache berichtet die autorin von dieser ausnahmesituation, die einen unerwarteten ausgang nimmt und vieles offen lässt.
elke heidenreich zählt es zu einem der zehn wichtigsten büchern ihres lebens, es geht mir ähnlich.