23.12.2019

sofi oksanen: die sache mit norma

zu beginn steht die beerdigung von normas mutter anita. norma glaubt nicht an einen selbstmord und beginnt nach beweisen für deren ermordung zu suchen. dabei findet sie ein foto ihrer urgrossmutter, über die in der familie nicht gesprochen wird. langsam kommt norma hinter die abenteuerliche geschichte ihrer vorfahren und es beginnt sich deren einfluss auf das aktuelle geschehen abzuzeichnen. sie trifft auf marion, die mit anita eine neue gemeinsame berufliche zukunft geplant hat. und es treten noch einige andere personen auf, die in eine komplizierte, an mafiöse verhältnisse erinnernde geschichte verwickelt sind und über deren rollen man sich lange nicht klar wird. dies alles gibt für norma nicht immer einen sinn und auch beim lesen steht man der handlung zeitweise hilflos gegenüber, bis der «krimi» zum schluss eine unerwartete wendung nimmt.
dieser abgründige und fantasievolle roman vereint einige brandaktuelle themen wie diskriminierung von minderheiten, unterdrückung von frauen, menschenhandel, macht und machtmissbrauch. die vielschichtige handlungsstruktur und die teilweise beinahe fantasyhaften erscheinungen erfordern beim lesen eine hohe konzentration. sprachlich brillant entwickelt das buch einen sog, dem man sich beim lesen kaum entziehen kann.

15.12.2019

hans peter hauschild: fluchtversuche

miro sabanovic ist ein romajunge, der seine frühe kindheit in bosnien verbringt. beim ausbruch des jugoslawienkrieges flüchtet die ganze familie nach berlin. vater und mutter sind gewalttätig und schicken ihre kinder auf diebstahltouren. bereits als elfjähriger entdeckt er mehr zufällig, wie er als strichjunge geld verdienen kann. und später entdeckt er auch seine eigene homosexualität, ein tabu in seiner herkunfts­familie. im schwulen milieu berlins lernt er erstmals menschen kennen und lieben. aber er wird auch drogenabhängig und immer wieder von der polizei aufgegriffen. längere gefängnisstrafen und sein strafregister führen letztlich zur abschiebung. heute lebt er mehr schlecht als recht in bosnien.
es ist die erschütternde geschichte eines jugendlichen, der letztlich keine chance hat. die biografie ist ein schonungsloser, berührender text, der einen – trotz der zuweilen reisserischen art – emotional durchaus erreicht. trotzdem bleibt man etwas ratlos zurück. daran ändert auch die anschliessende sozialkritische analyse nichts, die diese geschichte exemplarisch aufzuarbeiten versucht. der wissenschaftliche ansatz bleibt wegen der mangelnden neutralen distanziertheit irgendwie fremd.

12.12.2019

ivna žic: die nachkommende

die geschichte beginnt mit einer bahnreise von paris nach kroatien. die erzählerin verlässt den mann, mit dem sie eine beziehung hatte, die keine dauernde werden konnte. ihre reise führt sie zur insel, woher ihre grossmutter kommt und auf der ihre ganze familie jedes jahr die sommerferien verbringt. unterwegs geht sie ihren gedanken nach, erinnert sich an ihre grosseltern, an frühere besuche und an unbequeme reisen. das land, aus dem sie dereinst kam gibt es nicht mehr; die grenzen haben sich verschoben und eine andere bedeutung bekommen.
mit der subtilen beschreibung ihrer erinnerungen vermittelt sie das lebensgefühl vieler junger menschen der nachkommenden einwanderergeneration. genaue beobachtungen – vermittelt in einer anspruchs­vollen sprache – lassen immer wieder die probleme und schwierigkeiten durchscheinen. dagegen stehen die chancen der zweisprachigkeit und des lebens mit zwei kulturen. ein buch, das sich auf einer ganz besondere art mit der thematik beschäftigt. schade, dass für die kroatischen textteile keine uebersetzung bereitsteht.

05.12.2019

david pfeifer: die rote wand

der vater wird zu den truppen eingezogen und lässt seine tochter zuhause zurück. sie aber beschliesst, ihn zu suchen und ihm zu folgen. so schneidet sie sich die haare und gibt sich bei der rekrutierungsbehörde als mann aus. damit gerät sie in diesen, sich immer mehr zu einem stellungskrieg entwickelnden konflikt. unter schlecht ausgerüsteten soldaten, oft tief im schnee und bei grosser kälte gilt es die front in den steilen, felsigen dolomiten zu halten. sie erlebt, wie viele ihrer kameraden durch direkte kriegshandlungen ums leben kommen oder schwer verletzt werden. nach langem findet sie ihren vater wieder. selbst verwundet endet ihr einsatz schliesslich vor dem kriegsende.
der damalige harte einsatz der tiroler truppen führte zum sieg über die italienischen angreifer, aber am ende des ersten weltkrieges musste das zerfallende kaiserreich oesterreich-ungarn das südtirol trotzdem an italien abtreten. dies und die schilderungen von nahkämpfen, granateneinschlägen, felsstürzen und lawinen, die immer wieder den tod mit sich bringen, lassen – ebenso wie die unverständlichen befehle der offiziere und der verlangte gehorsam – die sinnlosigkeit jeden krieges erkennen.
dieser schonungslose bericht über ein kriegsgeschehen lässt – basierend auf einer wahren begebenheit – den alltag der soldaten in schnee und eis, bei dauerndem mangel an essen und ausrüstung lebendig werden. erst im verlauf nimmt der roman an spannung und intensität auf und lässt einen gegen das ende kaum los. die beschreibungen der bergwelt und der unwirtlichen winterlichen verhältnisse machen die eisige kälte förmlich spürbar. vielleicht nicht unbedingt beabsichtigt vom autor, wird diese geschichte zu einem richtigen anti-kriegs-buch.

28.11.2019

primo levi: die atempause

die rote armee befreit die noch lebenden häftlinge des konzentrationslagers auschwitz. die freiheit beginnt für primo levi und viele andere italienische häftlinge mit ihrer heimreise, einer abenteuerlichen odyssee. auf vielen umwegen, zunächst ostwärts bis weit hinein nach weissrussland, erreichen sie schliesslich auf vielen umwegen nach neun monaten endlich ihre heimat. es ist nicht nur eine reise quer durch europa, sondern auch einer reise zurück ins leben.
das buch ist ein bericht über diese ungewisse und von vielen entbehrungen gezeichnete zeit. in den autobiografischen aufzeichnungen berichtet der autor nicht nur wortgewandt und mit viel sinn für situationskomik über die nicht enden wollende reise in den güterwagen sondern auch über die teilweise ratlosen russischen bewacher. absurde ereignisse und schillernde beschreibungen von menschen, die seinen weg kreuzen, haben in diesem text ebenso ihren platz wie persönliches leiden, hoffnung, verzweiflung und die erst am anfang stehende verarbeitung der erlebnisse im konzentrationslager.

25.11.2019

raoul schrott: tristan da cunha

tristan da cunha ist die am weitesten vom nächsten festland gelegene dauernd bewohnte insel der welt; ein zerklüfteter, steil aus dem meer herausragender vulkanischer kegel im südatlantik, der nur auf einer seite eine leicht schräge ebene aufweist, auf der sich leben lässt. hier siedeln seit einigen jahrhunderten die nachfahren von schiffbrüchigen unterschiedlicher herkunft. sieben grossfamilien, die alle über die jahrhunderte miteinander verwandt sind, harren in dieser entlegenen gegend aus, deren wetter meist unwirtlich und reich an stürmen und regen ist. ueber die jahrhunderte hat sich eine gesellschaft mit eigenen regeln herausgebildet, die als gemeinschaft ohne geld lebt und allen äusseren einflüssen kritisch gegenübertritt.
vier ganz verschiedene personen aus unterschiedlichen zeiten der letzten jahrhunderte, die alle einen bezug zu tristan da cunha haben, geben das grundgerüst zu diesem buch. christian, ein funker, der im 2. weltkrieg auf der insel stationiert ist; edwin, ein katholischer priester, der die insulaner missionieren will; noomi, eine südafrikanische südpolforscherin, die unterwegs in die antarktis ist und mark, ein briefmarkenhändler, der die insel nur von den abbildungen auf den briefmarken kennt. aus diesen vier perspektiven, die unterschiedlicher nicht sein könnten, wird in einem epischen bogen ein bild der geschichte und des dortigen lebens gezeichnet.
sprachgewaltig und mit eindrücklichen beschreibungen von landschaft, meer und naturereignissen, aber auch jener menschen, zieht einen der autor beim lesen hinein in diese spektakuläre szene und lässt neugier und sehnsucht nach diesem weltverlassenen ort aufkommen. die über 700 seiten sind nicht immer einfach zu lesen, manchmal sehr realistisch, manchmal eher philosophisch, nicht immer spannend, aber als gesamtes werk macht es lust darauf, mehr zu erfahren von diesem flecken erde.

17.11.2019

marlen haushofer: die mansarde

sie ist hausfrau und mutter und hat ihrem mann zuliebe auf eine eigene berufstätigkeit als illustratorin verzichtet. mittlerweile haben die beiden einen erwachsenen sohn und eine halbwüchsige tochter. ihrer hausarbeit entflieht sie immer wieder zum zeichnen in ihre mansarde. anonyme zusendungen von briefen, die ihre früheren tagebuchaufzeichnungen enthalten, bringen unruhe in ihr geordnetes leben. die texte berichten von einer zeit, die die damals junge familie beinahe zum zerbrechen brachte und nach der nichts mehr war wie vorher. die auseinandersetzung damit bringt vieles in bewegung.
schon bald zu beginn des romans wird von dem damaligen gravierenden ereignis berichtet und damit die spannung auf einer zweiten erzählebene aufgebaut. der blick auf das gegenwärtig relativ ereignislose und wohlgeordnete leben beginnt sich zu verändern. ihre beschreibungen der personen, ihre differenzierten beobachtungen vermittelt die autorin in einer einfachen, zeitweise drastisch direkten sprache. es ist nicht nur ein buch über die tiefsten geheimnisse, die jeder und jede in einer beziehung für sich behält, sondern auch ein bericht über die einsamkeit im zusammenleben.

31.10.2019

alain claude sulzer: unhaltbare zustände

in einem führenden warenhaus der stadt arbeitet robert stettler seit vielen jahren als dekorateur. seine im immer gleichen jahresrhythmus sorgfältig und aufwändig gestalteten schaufenster sind ein inbegriff solider qualität. eines tages wird ein junger kollege eingestellt, der mit neuen ideen viel erfolg hat und von stettler als konkurrent empfunden wird. diese entwicklung geschieht um 1968, der zeit der studentenrevolten. mit den sich verändernden zeiten geraten auch seine wertvorstellungen ins wanken; er realisiert, dass seine zeit abgelaufen ist. seit seine mutter gestorben ist, lebt er alleine sein streng geregeltes, aber einsames leben. nur ein briefwechsel mit der von ihm bewunderten radiopianistin lotte zerbst hält ihn noch aufrecht und er hofft auf eine begegnung mit der künstlerin.
was für eine ergreifende, gehaltvolle geschichte eines menschen in zeiten gesellschaftlichen umbruchs. die auseinandersetzung mit dem aelterwerden und der konfrontation mit der nachfolgenden generation, die die geltenden werte in frage stellt, gelingt ihm schlecht. unsicherheit, machtverschiebungen, vermeintliche feindschaften beginnen seine arbeitswelt zu dominieren. hier wird ein aktuelles thema aufgenommen, das heute viele menschen betrifft. allein die beschreibung des einsamen lebens stettlers lohnt schon, sich in diesen text zu vertiefen. ein zutiefst menschlicher roman der subtil die befindlichkeit der protagonisten beschreibt.

24.10.2019

rolf lappert: nach hause schwimmen

wilburs mutter stirbt bei seiner geburt in new york und sein vater ist über den verlust seiner frau so schockiert, dass er weggeht und unauffindbar bleibt. so werden waisenhäuser, grosseltern, pflegeeltern und erziehungsanstalten wilburs neue heimat. damit das leben nicht zum fiasko wird, kompensiert er seine kleinwüchsigkeit und schmächtigkeit mit intelligenz und schlauheit. viele träume und sehnsüchte bleiben unerfüllt und die suche nach seinem vater ist mit vielen enttäuschungen verbunden. der wunsch zu sterben, begleitet ihn durch die ganze adoleszenz. einzig aimée, eine junge frau, vermag vielleicht etwas zu ändern.
das bei seiner neuerscheinung sehr gelobte und gefeierte buch beschreibt die odyssee eines waisenknaben. aus der gegenwart wird in wiederkehrenden retrospektiven über alles zurückliegende berichtet. die weitverzweigten familien- und beziehungsverhältnisse und die vielen vorkommenden personen fordern einen beim lesen ziemlich. die herausragenden beschreibungen von landschaften und menschen machen die geschichte aber zu einem wirklichen erlebnis. leider enttäuscht die flüssige und zeitweise spannende lektüre mit einem etwas flachen schluss.

14.10.2019

paul auster: winterjournal

«du bist in den winter deines lebens eingetreten», mit diesem satz beendet der 64-jährige autor ein sehr persönliches, autobiografisches buch. er erzählt darin – entlang seinen unzähligen wohnorten – die entwicklung seines lebens, reflektiert differenziert eigene versagensmomente, erzählt von seiner familie und seinen vorfahren. er berichtet davon, was alles ihn beeinflusst hat, was ihm ohne grosse leistung zugefallen ist und was er sich selbst erarbeiten musste. und nun stellt er fest, dass sein körper nicht mehr jung ist und dass aengste und sorgen um das altern aufkommen. aber er blickt zurück auf ein weitgehend schönes und privilegiertes leben und auf eine bereits mehr als dreissigjährige glückliche ehe mit seiner frau.
ein ganz schönes und tröstliches buch mit viel selbstreflexion und philosophischen betrachtungen, die einen über das eigene leben und die eigene vergangenheit nachdenken lassen. die reiche sprache, die so treffenden beschreibungen und die zunehmende nachsicht mit seiner umwelt bergen viel emotionen und spannung.

11.10.2019

alina bronsky: der zopf meiner grossmutter

die grossmutter tut sich schwer mit dem leben in der neuen heimat. in russland war sie einst eine gefeierte tänzerin, im flüchtlingsheim in deutschland ist sie vor allem darum besorgt, ihren enkel vor den einflüssen dieser welt zu schützen. als sich ihr mann in eine andere frau verliebt und noch einmal vater wird, entsteht daraus erstaunlicherweise kein eifersuchtsdrama. die grossmutter ist eher bemüht alle in einer art grossfamilie zu vereinen, während der enkel langsam in die pubertät kommt und sich ihrer fürsorglichen belagerung zu entziehen beginnt.
die zeitweise beinahe groteske geschichte ist ein erfrischendes lesevergnügen und gibt einen – wenn auch zeitweise überzeichneten – einblick ins leben und in die probleme aus russland eingewanderter menschen. bestechend sind die detaillierten beschreibungen von menschen und orten. leider vermag das buch nicht immer die spannung zu halten, aber es bleibt unterhaltsam und trotz der vielen karikierten personen und handlungen trotzdem irgendwie ernsthaft.

04.10.2019

ian mc ewan: solar

michael beard hat als relativ junger physiker bereits den nobelpreis erhalten. mittlerweile ist er über 50 und seine besten zeiten sind vorbei. seine tätigkeit hat sich darauf reduziert, die immer gleichen vorträge zu halten und seinen namen für projekte und firmen zu geben, damit diese leichter geldgeber finden. privat rächt seine fünfte ehefrau gerade mit einem liebhaber seine unzähligen affären. als alles in die brüche zu gehen beginnt, findet sich die möglichkeit, einen ganz grossen coup zu landen. aber schnell droht sein betrug aufzufliegen. beard steht unerwartet vor ganz grossen problemen, die er zunächst nicht wahrhaben will.
allein die genaue beschreibung der person von michael beard und seiner gedankenwelt lohnt schon, das buch zu lesen. zeitweise geradezu bösartig und sarkastisch führt uns der autor durch ein paar monate des lebens dieses physikers; und ohne moralisierend zu werden, geht es um ethik und moral. spannend, tiefgründig, unterhaltsam und emotional lässt einen diese geschichte kaum los.

17.09.2019

lars mytting: die glocke im see

im ausgehenden 19. jahrhundert lebt astrid, eine junge, wissbegierige frau in einem abgelegenen dorf. sie träumt von einem anderen leben, als dem auf dem armseligen bauernhof, wo sie zuhause ist. bald steht sie mit ihren gefühlen zwischen kai, dem neuen pfarrer in der gemeinde und gerhard, einem deutschen architekten, der den abbau und abtransport der alten kirche organisiert. doch kann sie zulassen, dass mit der alten kirche auch die beiden glocken verschwinden, die von ihren vorfahren gestiftet worden waren?
eine wunderbare geschichte aus dem alten norwegen, die viele aspekte des damaligen lebens beinhaltet. dieser an mystik und dramatik reiche roman, hätte durchaus das potential ins kitschige abzugleiten. seine stärke ist, dass er gerade das nicht tut. facettenreich und spannend wird das leben einer frau in einer gesellschaft am anfang eines grossen sozialen umbruchs erzählt. alte bräuche und sagen haben hier ebenso platz wie die auseinandersetzung mit einer neuen zeit.

09.09.2019

inger-maria mahlke: archipel

ein kanarisches familienepos, das sich über ein jahrhundert hinzieht, ist das gerüst dieses romans. rosa, die junge kunststudentin kehrt aus madrid nach hause zurück. die erzählte zeit beginnt mit der geburt von rosas grossvater julio, der immer ein bescheidenes, wenig privilegiertes leben geführt hat. ueber mehr als vierhundert seiten entwickelt die autorin eine spannende, farbige und weitverzweigte geschichte, die sich nicht nur den einzelnen menschen und deren unterschiedlichen sozialen verhältnissen widmet, sondern auch immer wieder den bezug zu den politischen ereignissen in spanien herstellt.
viele einzelne kurze kapitel, die zunächst wenig bezug zueinander zu haben scheinen, fügen sich mit der zeit zum gesamten bild. die handlung wird rückwärts erzählt, beginnt also in der gegenwart und endet vor etwa hundert jahren mit der geburt julios. dies erschwert immer wieder die orientierung; das vorangestellte personenregister mildert diese schwierigkeit etwas. obwohl die etwas eigenwillige sprache einen beim lesen ziemlich fordert, ist es insgesamt ein lesenswertes buch, das der wahrnehmung der kanarischen inseln als feriendestination einen unerwarteten kontrast entgegensetzt.

01.09.2019

raja alem: sarab

unter den geiselnehmern, die im jahr 1979 die grosse moschee in mekka stürmen, befindet sich auch eine junge frau. sarab kämpft in männerkleidern seite an seite mit ihrem bruder. als dieser umkommt und sie aus diesem inferno flüchtet, trifft sie auf einen bewusstlosen französischen elitesoldaten. ihr bisher unbekannte gefühle für diesen mann bringen sie dazu, ihn zu retten. zwischen ihnen beginnt eine komplizierte und schwierige beziehung, die das weltbild beider beeinflusst und ihr leben dramatisch verändert.
die harten und grauenhaften schilderungen des kampfes um die heilige stätte stehen in einem starken kontrast zu den subtilen und gefühlvollen beschreibungen der emotionen von sarab und raphael. ein roman, in dem die autorin es mit grosser sicherheit versteht die spannung zu halten und gleichzeitig den unterschied der rolle der frau in diesen beiden unterschiedlichen kulturen zu beschreiben. zeitweise wirkt die handlung etwas unwahrscheinlich, überzeichnet oder auch etwas kitschig. aber schliesslich wird die geschichte zu einem stimmigen ganzen, das tief in erinnerung bleibt.

25.08.2019

lea singer: anatomie der wolken

caspar david friedrichs wolkenbilder zeugen von seiner einzigartigen fähigkeit als maler. trotz des beginnenden ruhms bleibt er jedoch sich selbst und nur seiner kunst verbunden, hat ein bescheidenes, zeitweise etwas unsicheres auftreten und legt keinen wert auf aeusseres. ganz anders als goethe, der zu jener zeit schon sehr angesehen ist und in gehobenen gesellschaftlichen kreisen verkehrt. doch goethe – der sich mit den wolken wissenschaftlich beschäftigt – scheint mit den bildern friedrichs wenig anfangen zu können. so bleibt auch die begegnung der beiden eher befremdlich.
der an ein mögliches historisches ereignis angelehnte roman versucht die lebens- und gedankenwelt der damaligen zeit abzubilden. die enorme dichte an fakten und geschichtlichen ereignissen lässt eine mögliche handlung fast völlig verschwinden. das macht das lesen schwierig, genau so wie die kurzatmige sprache mit überdurchschnittlich vielen unvollständigen sätzen und satzellipsen, die den lesefluss stören.

19.08.2019

erlend loe: naiv. super.

ein unbedeutender anlass stürzt einen 25-jährigen studenten in eine lebenskrise. er gibt sein studium auf und ist sich klar, die tage müssen anders werden. er hängt herum, denkt über sein leben nach, zählt auf, was ihm wichtig ist, was ihm gefällt, was er nicht liebt und sucht ein neues ziel. er lernt børre kennen, der als kleiner nachbarsjunge sein herz gewinnt und jeweils unvermittelt fragen stellt, die zum nachdenken zwingen. er lernt auch eine junge frau kennen, zu der er zögerlich eine beziehung aufzubauen beginnt. einer einladung seines bruders nach new york folgend beginnt eine neue perspektive und das leben gewinnt langsam wieder farbe.
in einer schnörkellosen, klaren sprache mit kurzen prägnanten sätzen berichtet uns der autor über schwierigkeiten und zweifel im leben eines jungen mannes, in einer zeit, in der viel in bewegung ist, aber auch über deren bewältigung.

14.08.2019

joseph boyden: der lange weg

die zwei indianerjungen xavier und elijah sind freunde und leben mit ihrer tante niska in den wäldern in kanadas norden. sie fischen und jagen, ihr leben steht im einklang mit der natur. doch elijahs sehnsucht nach einem anderen leben lässt die beiden losziehen und in die armee eintreten. während des ersten weltkrieges werden sie mit ihrer einheit nach europa verlegt, in flandern erleben sie das grauen des krieges. ihre fähigkeit zu beobachten, sich geräuschlos zu bewegen und genau zu schiessen, macht sie bald zu spähern und scharfschützen. während elijah immer mehr dem rausch des tötens erliegt, sieht xavier immer auch den menschen, der ihm als feind gegenübersteht. die entfremdung zwischen den beiden beginnt ihren lauf zu nehmen.
die geschichte beginnt mit der alleinigen rückkehr des schwer verletzen und morphinabhängigen xavier. seine tante holt ihn am bahnhof ab und paddelt ihn drei tage den fluss hinauf zurück nach hause. auf dieser heimfahrt wird niska klar, dass xavier von diesen schrecklichen, quälenden bildern nicht mehr loskommt: dass dies sein ende sein wird. sie versucht sein leid zu lindern, in dem sie ihm die geschichte ihres volkes erzählt und damit bilder seiner unbeschwerten jugend entgegenstellt.
der einzigartige, fesselnde aber auch traurige roman berichtet in der retrospektive. in der gegenüberstellung der friedlichen welt der cree-indianer und dem krieg in flandern schildert der autor den starken kontrast zwischen zwei welten, in denen sich die beiden jungen behaupten müssen. zunächst als indianer in ihrer einheit mässig gelitten, wendet sich das blatt: ihre fähigkeiten, sichern ihnen im krieg nicht nur oft das ueberleben, sondern bringen ihnen auch ruhm und ehre ein.
diese geschichte schont einen beim lesen nicht. allein die berichterstattung aus den schlachten ist derart deutlich und erbarmungslos genau, dass sie definitiv nichts für schwache nerven ist. aber nicht nur der untergang von land und leuten, sondern auch die psychischen und sozialen zerstörungen, die der krieg hinterlässt, treten deutlich hervor. ein schauerliches und schweres stück literatur, das – aber gerade weil es einen nicht verschont – lesenswert ist.

05.08.2019

sacha batthyany: und was hat das mit mir zu tun?

der autor, der in der schweiz als kind von einwanderern aufgewachsen ist, hat sich bisher kaum mit der geschichte seiner familie befasst und zu seiner entfernteren verwandtschaft keine beziehung gehabt. da legt ihm eine arbeitskollegin einen zeitungsartikel auf den schreibtisch, der von seiner grosstante margit handelt, die im krieg an der erschiessung von 180 juden beteiligt gewesen sein soll. plötzlich sieht er sich mit einem ereignis konfrontiert, das ihn sehr beschäftigt. er beginnt mit nachforschungen, reist an den ort des geschehens und sucht nach zeitzeugen und deren nachkommen. so kommt er nicht nur diesem familiengeheimnis, über das immer geschwiegen wurde, auf die spur, er schreibt auch ein stück migrationsgeschichte aus der zeit nach dem krieg.
sein zentrales thema jedoch ist, was hat dies alles mit mir gemacht? wie beeinflusst dies mein bewusstsein und mein verantwortungsgefühl? dieser schwierigen frage geht er meisterhaft auf den grund.

03.08.2019

patrick modiano: dora bruder

eine kleine vermisstenanzeige in einer pariser zeitung von 1942 steht am anfang der suche nach dem lebensweg von dora bruder, eines jüdischen mädchens, das mit seinen eltern im damals besetzten paris lebt. wer ist dora bruder, woher kommt sie, wie verläuft ihr junges leben und wohin geht sie? dies sind die fragen, denen der autor über jahre nachgeht und in archiven nach zeugnissen forscht. dokumente über dora bruder und weggefährtinnen von ihr lassen langsam ein bruchstückhaftes bild entstehen. damit und mit langen spaziergängen an orten des geschehens nähert er sich einer möglichen geschichte und lässt das damalige leben und die vorgänge in der französischen hauptstadt auferstehen. vieles bleibt unbekannt, weil die akten vernichtet worden sind. dora bruder wird 1942 nach auschwitz deportiert, wo sich ihre spur verliert.
dieses buch setzt einem jüdischen mädchen stellvertretend für viele ein berührendes denkmal.

29.07.2019

annie ernaux: die jahre

während des zweiten weltkriegs geboren wächst annie ernaux im nachkriegsfrankreich auf. ihre kindheit und jugend sind geprägt von der langsamen gesellschaftlichen erholung, von der langen regierungszeit präsident de gaulles, der algerienkrise bis hin zu den studentenunruhen von 1968. später folgen die aera mitterand, globalisierung und frauenemanzipation. sie wird mutter von zwei söhnen. im alter blickt sie nicht unzufrieden zurück auf das leben, das ihr trotz vieler veränderungen viel gutes und schönes gebracht hat.
eigentlich eine autobiografie, die annie ernaux von sich aber in der dritten person schreibt, deren persönliches leben damit eher im hintergrund bleibt, und einen angenehm distanzierten zugang zur geschichte der autorin ergibt. fern von wirtschaftlichen problemen und einer eher vermögenden mittelschicht zugehörig, vergisst sie die weniger privilegierten und sozial schwachen nicht und analysiert mit diesem fokus bestechend und treffend das politische system frankreichs und dessen akteure. damit schafft sie ein ganz besonderes geschichtsbuch.

09.07.2019

michael köhlmeier: abendland

carl jakob candoris ist 95 jahre alt und blickt zurück auf ein bewegtes leben. geboren noch in der zeit der donaumonarchie beginnt sein leben im südtirol. nachdem sein vater im ersten weltkrieg gefallen ist, zieht er mit seiner mutter nach wien zu deren wohlhabenden eltern. als junger erwachsener geht er hinaus in die welt und erlebt viele spannende und abenteuerliche momente während beinahe eines ganzen jahrhunderts. jetzt im hohen alter berichtet er seinem biografen, dem schriftsteller sebastian lukasser, sein leben. parallel dazu wird lukassers familiengeschichte erzählt. der vater von sebastian wurde seinerzeit von carl candoris als musiker entdeckt und gefördert. die beiden familien bleiben sich während der ganzen zeit verbunden.
mit der beschreibung des lebens dieses eigenwilligen mannes reist man beim lesen um beinahe die ganze welt, trifft unterschiedliche menschen und schicksale. immer wieder tun sich neue erlebnisfelder auf. die meisterhafte verflechtung von geschichtlichen fakten, historischen figuren und fiktion vermitteln zudem mit einer einzigartigen leichtigkeit viel wissen. die einzelnen personen sind exakt und detailliert, aber immer liebevoll beschrieben und selbst den teilweise schwierigen familiensituationen lässt sich beim lesen eine positive seite abgewinnen. faszinierend, wie dies gelingt. ein schöner und weitläufiger roman, der beinahe immer die spannung hält.

30.06.2019

daniel de roulet: die blaue linie


max, arrivierter und erfolgreicher architekt, der projekte auf der ganzen welt betreut, läuft den new york-marathon. in seiner jugend war er teil der anti-akw-bewegung. sein erster langer lauf war die flucht durch die nacht nach der sprengung des informationspavillons auf dem bauplatz in kaiseraugst. während er der blauen linie entlang durch manhattan, queens, brooklyn und die bronx läuft, kommen diese und viele andere erinnerungen aus seinem leben hoch. der widerspruch in seiner lebensgeschichte wird für ihn greifbar.
faszinierend sind die akribisch genauen beschreibungen der spannung im vorfeld des laufes und der empfindungen im körper, während der strapazen. genau gezeichnet sind auch die unterschiedlichen kulissen, die sich vor den läufern auftun und die die sozialen unterschiede der einzelnen stadtteile aufzeigen. die erinnerung an jene fluchtnacht bleibt eher kommentarlos erzählt. diese geschichte, die exemplarisch stehen kann für die biografie vieler altachtundsechziger kommt in einer komplexen, sehr schönen sprache daher.

28.06.2019

marco balzano: das leben wartet nicht

mit neun jahren verlässt ninetto zusammen mit einem freund der familie das heimatdorf in sizilien um im norden arbeit zu finden. In mailand beginnt er als ausläufer, bis er mit fünfzehn legal in einer autofabrik zu arbeiten beginnen kann. seinem arbeitsplatz bleibt er treu bis ein dramatisches ereignis sein leben völlig verändert. heute als pensionierter blickt er zurück auf sein leben, seine arbeit und seine familie. seine fröhliche, positive und gewinnende art hat ihn immer weitergebracht. und nun muss er kämpfen, weil die beziehung zu seiner familie in gefahr ist.
noch in den 1960er-jahren war es üblich, dass kinder aus armen familien im süden italiens nach norden gingen um dort zu arbeiten und geld zu verdienen. auf dieser historischen tatsache bewegt sich die berührende geschichte von ninetto, der trotz aller schwierigkeiten immer wieder aufsteht und weitergeht. der autor zeichnet neben einer familiengeschichte in dieser sozialstudie auch ein bild Italiens der letzten jahrzehnte, in dem die süditalienischen arbeitskräfte für die industrie im norden mittlerweile von solchen aus afrika abgelöst werden.

21.06.2019

francesca melandri: ueber meereshöhe

ende der 1970-er jahre sind zwei menschen auf einer fähre unterwegs, die sie zur gefängnisinsel bringt. luisa besucht ihren mann, der im jähzorn einen mord begangen hat, und paolo, seinen sohn, der als terrorist attentate verübt hat. die besuche verlaufen schwierig und erfüllen ihre erwartungen nicht. aber ein aufkommender sturm vereitelt die rückfahrt aufs festland, die beiden müssen die nacht auf der insel verbringen. so beginnen sie miteinander zu reden und finden gegenseitiges verständnis und vertrauen.
mit grosser atmosphärische dichte beschreibt die autorin geschehnisse und nicht immer einfache begegnungen. faszinierend, wie die jeweils nur mit wenigen worten skizzierten personen gestalt annehmen und ihr profil erhalten. ohne aufdringlich zu werden gelingt es francesca melandri fast beiläufig, den fokus auf die rolle der frauen zu richten. man erfährt einiges über die repression des staates und seiner funktionsträger. trotz des schwergewichtigen themas und einer relativen vielschichtigkeit, kommt der roman leicht und spannend daher.

12.06.2019

gaito gasdanow: die rückkehr des buddha

in einem park wird ein student von einem bettler um etwas geld angegangen und er gibt ihm 10 francs. zwei jahre später trifft er in einem café auf einen gepflegten herrn, in dem er den damaligen bettler wiedererkennt. pawel alexandrowitsch lädt den studenten zu sich ein, die besuche wiederholen sich. nach einem solchen abend wird alexandrowitsch ermordet und der student gerät in verdacht der täter zu sein. letztlich kann wegen einer verschwundenen und wieder aufgetauchten buddha-figur seine unschuld bewiesen werden und der wirkliche mörder wird gefasst.
der krimi ist nur der aufhänger für diese geschichte, die eigentlich eine sozialstudie ist und das lebensmilieu der russischen emigranten im paris der zwischenkriegsjahre schildert. in einer bestechend ruhigen und schönen sprache liest man über das aufeinandertreffen von menschen aus unterschiedlichen sozialen schichten, denen nur ihre herkunft gemeinsam ist. die auseinandersetzung mit den politischen vorgängen in ihrer heimat hat ebenso seinen platz wie die gegenseitigen verpflichtungen und abhängigkeiten, in die sich die emigranten verstricken. tiefgründig und bewegend!

05.06.2019

dörte hansen: mittagsstunde


das nordfriesische dorf brinkebüll erlebt seit den 1970er jahren viel veränderung. seit der grossen flurbereinigung ist die landschaft völlig umgestaltet. die kleinbetriebliche landwirtschaft ist untergegangen, nur wenige höfe überleben. die jungen verlassen die dorfgemeinschaft und ziehen in die städte; dorfladen und schule schliessen. in die verlassenen gebäude ziehen junge menschen aus der stadt, die ein anderes leben führen. in diese welt kehrt ingwer feddersen zurück. er lebt seit jahren in kiel in einer wohn­gemeinschaft. seine grosseltern, die ihn anstelle seiner eltern grossgezogen hatten, brauchen hilfe und unterstützung. mit anderen augen betrachtet er die kleine welt seiner kindheit und entdeckt seine liebe zum dorf neu. es schmerzt ihn zu sehen, was alles verloren gegangen ist.
ein heimatroman der ganz besonderen art: als wäre sie selbst darin gross geworden beschreibt die autorin mit grosser genauigkeit das leben und die geschehnisse. in den kapiteln wechselt sie immer wieder die perspektive: gegenwart und vergangenheit. so wird man langsam an die wirklichen geschichten der menschen herangeführt, erfährt langsam all die dinge, über die man im dorf nicht redet, einen mantel des schweigens legt. treffend ist die beschreibung der verschlossenheit und teilweisen rückwärtsgewandtheit der menschen im dorf, die sich doch immer wieder – manchmal freiwillig, manchmal auch eher unfreiwillig – auf neues einlassen. und ausserordentlich berührend zu lesen sind die vielen schwierigen momente der pflege der beiden grosseltern. ganz speziell sind die vielen plattdeutschen dialoge, die zu lesen nach kurzer einübung eigentlich kein problem mehr darstellen und mit denen ein weiterer verlust – der der angestammten sprache – ausgezeichnet skizziert wird.

02.06.2019

michael ondaatje: katzentisch

cassius der mutige, ramadhin der stille, verträumte und michael, der erzähler, sind drei grund­ver­schiedene jungen. sie sind unterwegs von ceylon, wo sie bisher vor einem kolonialen hintergrund aufgewachsen sind, nach england für ihre weitere ausbildung. gemeinsam erkunden sie den kosmos auf diesem schiff, lassen sich faszinieren von der für sie verbotenen zone der ersten klasse und beobachten das leben ihrer so unterschiedlichen mitpassagiere – darunter emily, die cousine michaels. in dieser begrenzten welt führen die drei knaben ein schon fast abenteuerliches leben. nach der ankunft halten sie nur teilweise noch kontakt miteinander. lange später treffen sich emily und michael und blicken darauf zurück, wie die damalige reise sie geprägt und verändert hat.
eigentlich ist es ein abenteuerbuch, das in vielen skurrilen, aber auch schönen szenen zeigt, wie unterschiedlich die passagiere dieses dampfers sind. die beobachtung unerklärlicher beziehungen und geheimnisvoller vorgänge regt die fantasie der drei freunde an, so dass man beim lesen miträtseln und mitfiebern kann. unterhaltsam und nicht ohne tiefgang zu lesen, hat das buch einen etwas komplizierten und schwierigen schluss, den ich zweimal lesen musste, um ihn zu verstehen.

30.05.2019

alessandro baricco: seide

auf seiner ersten reise nach japan begegnet hervé joncour, ein seidenraupenhändler, einer frau von seltener schönheit und verliebt sich in sie. die konventionen erlauben keine nähere begegnung. einzig ein paar blicke und eine kleine mitteilung auf einem zettel lassen seine leidenschaft erstarken, so dass er jahr für jahr die beschwerliche reise in den osten auf sich nimmt. eine kriegerische auseinandersetzung beendet die möglichkeit zu reisen und erst viel später erfährt und begreift er die zusammenhänge.
sanft, zart, beinahe mystisch kommt die geschichte daher. der reiche, distinguierte und eigentlich realistisch im leben stehende handelsmann erlebt etwas ihm unbekanntes und unerklärliches, das er vor den seinen zuhause verbirgt. in 65 kurzen, teilweise nur ein, zwei seiten langen kapiteln eröffnet sich hier eine welt, deren gefühle zart wie seide sind.

22.05.2019

philip roth: mein leben als sohn

als der vater des autors an einem hirntumor erkrankt, ist dies für die ganze familie eine herausforderung. vor allem die entscheidung, ob der tumor operiert werden soll, fordert allen viel ab. trotz der gesichtslähmung scheint der tumor den vater aber nicht so sehr zu beeinträchtigen und zu beschäftigen. für ihn ist es viel wichtiger, an dem noch sehenden auge den grauen star operieren zu lassen, damit er wieder sehen und vor allem lesen kann. doch plötzlich wäre der autor beinahe vor seinem vater gestorben, nur eine notfallmässige herzoperation bewahrte ihm das leben. der gesundheitszustand des vaters nimmt ab und der sohn wird zu seinem pfleger.
mit viel gefühl und persönlichem engagement beschreibt der autor hier dieses vater-sohn-verhältnis, dessen machtverhältnisse sich zu wenden beginnen. die konfrontation mit sinnfragen des lebens und schwierigen entscheidungen, die über leben und tod entscheiden können und die frage nach der qualität des lebens stellen die familie vor grosse herausforderungen. wie unsicher auch plötzlich wird, wer wen überlebt, zeigt, wie relativ alles ist. wie wenig wir als menschen diesen fragen gewachsen sind und wie viel die liebe zwischen vater und sohn diese schwierigen lebenssituationen beeinflussen, das ist ein kern dieses buches.

10.05.2019

uwe timm: kopfjäger

aus einfachen verhältnissen stammend ist peter walter heute als anlageberater für warentermingeschäfte in der finanzwelt tätig. mit grossen renditeversprechen versteht er es, viele seiner kunden zu bewegen mit grossen summen zu spekulieren. dabei kommt er selbst auf abwege: das schnelle geld verlockt ihn, kapital seiner kunden auf eigene konten umzuleiten. nun ist er wegen millionenbetrugs angeklagt und setzt sich nach spanien ab. dort aufgespürt beginnt seine flucht, während der er auf sein leben und seine taten zurückblickt. sein völlig anderes interesse gilt der geschichte der osterinseln über die er – als ausgleich – ein buch zu schreiben versucht und wohin ihn seine flucht zuletzt führt.
die handlung wird in einer retrospektive erzählt. in der welt der finanzbranche geht es beinhart zu und her, protz und bluff sind allgegenwärtig. die geschichte berichtet aber auch vom leben und der gefühlswelt dieses anlageberaters. trotz allem erfolg ist es ihm nicht immer wohl, wenn er darüber nachdenkt, wie er menschen um ihre ersparnisse bringt, doch weiss er diese skrupel immer wieder beiseite zu wischen. die auseinandersetzung mit der geschichte der osterinseln und deren kolonialisierung wird zu einer interessanten parallele über vertrauen und vertrauensmissbrauch.

01.05.2019

anuschka roshani: komplizen

der vater ist in den 1960er-jahren aus dem iran nach deutschland gekommen um zu studieren. die mutter arbeitet als model. das verhältnis der eltern von anuschka roshani ist ein kompliziertes. die beiden führen ein mondänes, hedonistisches leben, aber die ehe hält nicht allzu lange. der inzwischen als chirurg arbeitende vater hat eine neue freundin, bleibt in berlin, während die mutter mit ihren töchtern nach hamburg zieht. als der vater alt wird und unter parkinson leidet, verliert er seine unabhängigkeit. die autorin beschreibt ihr verhältnis zum vater, dessen körperlicher zerfall und sein leiden in immer wieder anderen facetten. so entsteht ein bild über jahre voller elternliebe, scheidungskämpfe, verletzungen und versöhnungen.
eher journalistisch berichtet die autorin über ihre familiengeschichte, die ich einer rezension folgend gelesen habe. diese fragmentiert dargereichte auto- und fremdbiografie wäre jetzt nicht gerade das buch gewesen, auf das ich gewartet hätte, wenn nicht die vielen berührenden momente es letztlich doch lesenswert gemacht hätten.

21.04.2019

lukas bärfuss: hagard

wegen eines geplatzten geschäftstermins bleibt philipp etwas zeit ohne verpflichtung. zufällig erblickt er in der menschenmenge vor ihm zwei frauenbeine in blauen ballerinas. spielerisch beginnt er diesen zu folgen, versucht herauszufinden, wie lange er die frau nicht aus den augen verliert. ohne zu wissen, was er eigentlich von ihr will und immer darauf bedacht, dass sie ihn nicht entdeckt, folgt er ihr, lässt seine termine termine sein. dazu wird der akku seines telefons leer, er kann nicht mehr erreicht werden. in seinem auto verbringt er wachend die nacht vor ihrem haus. am nächsten morgen folgt er ihr weiter. aus dem anfänglichen spiel wird mehr und mehr eine obsession und philipp beginnt alles zu verlieren, was sein bisheriges leben ausmacht.
die handlung beginnt faszinierend und packt einen sofort. mit der zeit nimmt die spannung etwas ab. der schluss kommt überraschend und für mich auch nicht ganz stimmig. die geschichte mag vor allem ein exemplarisches beispiel dafür sein, wie leicht wir uns verführen lassen können und wie unsere wirtschaftliche existenz zuweilen an einem dünnen faden hängt. die reiche und wunderschöne sprache entschädigt einen aber vollständig und lässt über den handlungsverlauf hinwegsehen. es bleibt auf jeden fall ein lesenswertes buch.

16.04.2019

olga grjasnowa: die juristische unschärfe einer ehe

leyla, von ihrer mutter schon früh gefördert, tanzt mittlerweile im ballett des bolschoi-theaters. altay arbeitet als assistenzarzt in einem staatlichen krankenhaus, in dem es an allem fehlt. die beiden führen eine zweckehe um dem heiratsdruck ihrer familien zu entgehen, denn altay ist schwul und leyla lesbisch. moskau bietet aber auch keine perspektive, so ziehen sie nach berlin, wo sie jonoun kennenlernen. die sich entwickelnde dreiecksbeziehung ist kompliziert und nicht beständig. als alles zu zerbrechen droht, reisen die drei in ihre heimat, den kaukasus.
die rasante und spannende geschichte, die an deren ende beginnt und in der retrospektive erzählt wird, berichtet nicht nur von der komplizierten beziehung dreier menschen, sondern auch vom schwierigen leben zwischen tradition und moderne in aserbeidschan. trotz allen unwägbarkeiten bleiben sich leyla und altay in einer ganz besonderen art der liebe zugetan. die klare sprache und prägnanten sätze tragen viel zum lesevergnügen bei. man kann das buch kaum weglegen, bevor es zu ende gelesen ist.

14.04.2019

pierre lemaitre: drei tage und ein leben

als der kleine rémi plötzlich verschwindet, wird unter beteiligung der bevölkerung des ortes eine grosse suchaktion gestartet. in der nächsten nacht beginnt ein unwetter, während drei tagen verwischen sturm und regen alle spuren. für den zwölfjährigen antoine, den sohn der nachbarn, der am tod rémis schuld ist, bringt dies etwas entspannung: die gefahr entdeckt zu werden wird geringer. einzig seine mutter und der dorfarzt scheinen etwas zu ahnen. antoines leben geht weiter, über jahre verfolgt ihn aber seine tat und hat immer wieder schwerwiegenden einfluss auf sein leben.
faszinierende handlungsabläufe und immer wieder neue, teilweise überraschende ereignisse machen das buch zu einer ganz besonderen art von krimi. im zentrum stehen die gefühlslage antoines und die frage, wie ein leben über so lange zeit mit dem wissen um schuld verlaufen kann. die genaue beschreibung der einzelnen menschen und die langsame offenlegung immer neuer beziehungsfelder und sachverhalte sind meisterhaft miteinander verknüpft.

09.04.2019

christoph meckel: suchbild. von meinem vater / suchbild. meine mutter

suchbild. ueber meinen vater
wie ein schatten seiner selbst kehrt der vater aus der kriegsgefangenschaft zurück. verletzt und zerstört versucht er wieder tritt im zivilen leben zu fassen. nur schwer findet er anerkennung als schriftsteller, verdient sich das leben mit kulturjounalistischer arbeit. die suche nach der idylle der vorkriegsjahre, die prekäre lebenssituation und die kruden erziehungsmethoden bestimmen die kaum vorhandene beziehung von vater und sohn.

suchbild. meine mutter
der autor beschreibt seine mutter als kühle frau, die kaum emotionen zeigt und von der er nicht die erwartete zuwendung und liebe erfahren hat. als tochter einer preussischen protestantenfamilie ist sie aus dem norden deutschlands gekommen um einen katholischen mann zu heiraten. literatur, bildung, kultur und gute erscheinung scheinen wichtiger als ihre familie. der krieg trennt sie sieben jahre von ihrem mann. sie zeigt deswegen kaum gefühle, sondern sorgt pflichtbewusst und rational für das ueberleben ihrer selbst und ihrer drei söhne. auch im hohen alter bis zu ihrem tod führt sie ein strenges leben, ihren werten und ihrem glauben zugewandt.

unerbittlich und streng beschreibt der autor all das, was er in seiner jugend erlebt und vermisst hat. die beziehung zu seinem vater ist getrübt von dessen vergangenheit. wie viele deutsche seiner generation stellt der autor die frage nach der geschichte des vaters und muss feststellen, dass dieser den na­tio­nal­sozialismus nicht nur erduldete, sondern – wenn auch nicht mitglied der partei – doch dessen ideen vertrat. in beiden suchbildern fehlt der jeweils andere ehepartner fast gänzlich, als hätten sie nichts miteinander zu tun. mit grosser genauigkeit und einer beachtlichen emotionalen distanz versucht der autor den leben seiner eltern nachzugehen und beschreibt mit starken worten die stimmung in seiner familie.

03.04.2019

trevor noah: farbenblind

als sohn einer schwarzen mutter und eines weissen vaters kommt trevor in südafrika noch während der zeit der apartheid zur welt. seine alleinerziehende mutter ist eine starke frau, die selbstbestimmt lebt, unbeirrt ihren weg geht und für ihren sohn immer da ist. trotzdem sind die jugendjahre trevors nicht einfach. die apartheidsgesetze sind zwar mittlerweile abgeschafft, nach wie vor sind deren folgen noch überall zu spüren. als trevors mutter einen anderen mann heiratet wird alles noch schwieriger.
dieses autobiografische buch vermittelt einen direkten einblick in die zeit unmittelbar nach der aufhebung der rassentrennung in südafrika und führt nicht nur vor augen, wie menschenverachtend und absurd sondern auch wie grotesk dieses system war. gerade das schwierige leben – zeitweise in grosser not – verbindet die menschen in hoffnung und liebe. in verschiedenen kapiteln beschreibt trevor noah ereignisse aus seiner jugend, die sich immer wieder gleichen. auch wenn der bericht dadurch zeitweise etwas an spannung verliert, so zeigt er gerade auf, wie alle initiativen und ideen immer wieder ins leere laufen oder vom system behindert werden.

30.03.2019

dörte hansen: altes land


vera lebt seit ihrem sechsten lebensjahr im alten land. dort kam sie mit ihrer mutter nach der flucht aus ostpreussen an und wurde bei bauern einquartiert. ihr leben lang ist sie aber nicht heimisch geworden zwischen diesen menschen, ein gefühl von fremdsein ist immer geblieben. viele jahre später steht ihre nichte anne mit kind vor der türe. sie ist aus einem hippen viertel in hamburg weggegangen, weil ihr mann eine andere frau liebt. in das mittlerweile still gewordene haus kommt neues leben und damit verändert sich jenes von vera.
der roman beginnt unmittelbar nach dem krieg und handelt vor dem hintergrund der gesellschaftlichen veränderungen der folgenden jahre. liebevoll beschreibt die autorin die menschen dieser gegend und ihren umgang mit fremden: die einquartierung der flüchtlinge aus dem osten ist mit vielen emotionen verbunden und wirkt über all die jahre nach. mit viel humor und nicht wenig sarkasmus nimmt sie sich dem zusammentreffen der bauern mit ausflüglern und siedlern aus der nahen stadt an. diese emotionale geschichte ist zügig geschrieben und gut zu lesen.

28.03.2019

ismail kadare: die pyramide

eigentlich will der junge pharao cheops gar keine pyramide bauen lassen, aber seine hofbeamten, minister und magier raten ihm dazu. denn das volk lebt im ueberfluss und dieses leben führt zu dekadenz und rebellion. um dies zu verhindern, auferlegt der pharao den menschen diese fronarbeit. es wird ein blutiges und tränenreiches unternehmen: tausende verunglücken und sterben, das einzelne menschenleben ist kaum noch etwas wert. ein immer repressiveres system entwickelt sich, in dem die aufseher und schergen alles unter kontrolle haben und eine uneingeschränkte macht ausüben. nur hinter vorgehaltener hand werden zweifel am sinn des pyramidenbaus geäussert.
die geschichte ist eine treffende parabel auf totalitäre und repressive machtsysteme, wie sie sich immer wieder irgendwo auf der welt installieren. am beispiel des über aller kritik stehenden bau der ägyptischen pyramiden wird uns das funktionieren solcher machtapparate vor augen geführt.

22.03.2019

amor towles: ein gentleman in moskau

kurz nach der oktoberrevolution wird der junge graf rostov zu lebenslänglichem hausarrest im hotel metropol verurteilt. dort wohnt er bereits in einer luxuriösen suite und muss diese nun aber mit einer kammer unter dem dach tauschen und als kellner im restaurant arbeiten. er verliert seinen humor, seine gelassenheit und seine ruhe nicht und findet sich in sein neues leben, das ihm nicht wenig freude macht. er wird zum renommierten oberkellner und findet in der sorge um das wohlbefinden seiner gäste seine bestimmung. eine freundin bittet ihn, sich ihrer sechsjährigen tochter sophie anzunehmen, weil sie ihrem mann in die verbannung nach sibirien folgen will. diese neue lebensaufgabe verändert das leben rostovs. mit nicht nur legalen mitteln überleben die beiden die jahre, bis sophie erwachsen ist.
abgesehen von der wilden, zeitweise beinahe unwahrscheinlichen geschichte, die hier ausgebreitet wird, faszinieren vor allem die einzelnen personen und das funktionieren der parteinomenklatura unter stalin und chruschtschow. die einflüsse des realen sozialismus auf den alltag in einem luxushotel, das so fern von dessen realität steht, könnten treffender nicht dargestellt werden. dieser sich über einige jahrzehnte erstreckende roman zeigt, wie in diesem schwierigen system der sowjetunion die menschen immer wieder wege und möglichkeiten finden, das beste aus ihrem leben zu machen. tiefgründigkeit, emotionalität und viel humor machen dieses buch zum echten lesevergnügen, das in einem überraschenden schluss endet.

14.03.2019

gianna molinari: hier ist noch alles möglich

eine junge nachtwächterin steht im zentrum der geschichte. sie lebt selbst innerhalb des fabrikgeländes, das sie bewacht und teilt sich die schichten mit clemens, dem anderen nachtwächter, der in der stadt wohnt. der kantinenkoch hat einen wolf gesehen, der sich an die essensabfälle herangemacht hat. die beiden nachtwachen haben den auftrag eine fallgrube auszuheben. ein mitarbeiter der fabrik hat etwas vom himmel fallen sehen. drei wochen später wird dort eine leiche gefunden, ein mann, der vom himmel fiel und an die tödlich ausgehenden migrationsversuche von menschen in den radkasten der flugzeuge erinnern. und dann gibt es noch ein paar weitere geschichten und ereignisse.
mit einer bildhaften, schönen sprache berichtet die autorin als ich-erzählerin von nachtarbeit und dem leben darum herum. dazwischen eingestreut gibt es ein paar zeichnungen, die irgendwie zum text passen oder diesen zu verdeutlichen versuchen. dazu gibt es noch einige wenige ganzseitige schwarz-weiss-fotografien, die ich nicht in verbindung mit dem text bringen konnte. die verschiedenen handlungsstränge finden einfach nicht zusammen, was beim lesen die frage nach dem sinn und der botschaft dieses buches aufkommen lässt. das ganze hinterlässt bei mir ein gespaltenes gefühl.

08.03.2019

vincenzo todisco: das eidechsenkind

bei seiner grossmutter in der heimat konnte das kind draussen spielen und andere kinder treffen. im fremden land, wo seine eltern arbeiten, wird es in der wohnung versteckt, weil es in diesem land gar nicht leben darf. tagsüber bleibt das kind, während seine eltern arbeiten, alleine in der wohnung zurück. es lernt sich unbemerkt zu bewegen, sofort im schrank zu verschwinden, wenn es klingelt, und keinen lärm zu machen. aber irgendwann führt die neugier es heimlich hinaus aus der wohnung ins treppenhaus und in wohnungen der anderen leute, wenn diese nicht da sind. einzig einem mädchen aus dem dritten stock vertraut das kind und gibt sich zu erkennen. in einem versteck im dachstock treffen sie sich. aber auch der professor mit den vielen büchern entdeckt das kind und beginnt es fürs lesen und lernen zu begeistern.
der saisonierstatus in der schweiz erlaubte ausländischen arbeitskräften keinen familiennachzug. unter diesen bedingungen lebten nicht wenige kinder versteckt bei ihren eltern, existierten offiziell nicht und konnten keine schule besuchen. der roman handelt von diesem heimlichen, versteckten leben und berichtet aus der sicht des kindes subtil, beinahe poetisch über die ereignisse in diesem durchschnittlichen mietshaus. die freundschaften und die hilfsbereitschaft der bewohner stellen der abhängigkeit der menschen und ohnmacht dieser arbeiterleben etwas entgegen. trotz einer eigentlich unmenschlichen geschichte ist das buch schön zu lesen.

04.03.2019

terézia mora: der einzige mann auf dem kontinent

als vertreter eines grossen amerikanischen konzerns betreut darius kopp einige länder in europa. doch die geschäfte laufen nicht mehr so gut. lange arbeitstage, dauernde erreichbarkeit, schwer verständliche entscheide aus der firmenzentrale in amerika machen ihm das leben schwer. er vermag den anforderungen nur knapp zu genügen und mit mässigen englischkenntnissen stösst er immer wieder an grenzen. trotzdem hält er durch und will den eher luxuriösen lebensstandard bewahren. das alles lässt seine ehe in die brüche gehen. am ende wird die firma mit einer anderen fusioniert: seine arbeit ist er los. es ist die geschichte eines mannes, der letztlich scheitert.
sprachlich etwas gewagt – mit vielen satzellipsen – zeichnet die autorin jedoch ein reales bild einer heutigen arbeitswelt, wie sie sein könnte. das fehlen einer wirklichen, durchgehenden handlung lässt einen mit der zeit auf das ende warten. einzig die nie tatsächlich ausgesprochene bösartigkeit in dialogen und gedanken verhilft dem text zu einer sehr eigenen faszination.

23.02.2019

lukas linder: der letzte meiner art

alfred ist der jüngste und letzte sohn einer patrizierfamilie mit einer langen ahnentafel. aber die guten zeiten sind längst vorbei. seine mutter ist ziemlich verschroben, der vater spielt eine nebenrolle. alfreds älterer bruder ist die grosse hoffnung, doch der verfolgt in seinem leben andere ziele. so wird alfred gewahr, dass er die familientraditionen weiterführen muss. er will ein held werden, nach dem vorbild seines damaligen urahnen, der in der schlacht von marignano vierzig franzosen erschlagen hat. aber die bestrebungen alfreds gelingen nicht wirklich: er ist nicht zum helden geboren.
die zeitweise recht abstruse geschichte alfreds ist köstlich und voll von ueberraschungen. präzis und humorvoll werden seine vermeintlichen heldentaten geschildert. im ersten starken teil des romans wird vor allem die familie und deren geschichte beschrieben, zeitweise karikiert, ohne despektierlich zu sein. gegen ende des buches geht die spannung leider etwas verloren, alfreds beziehungsgeschichte mit ruth, die immer mehr ins zentrum rückt, hat nicht mehr die gleiche leichtigkeit und wirkt manchmal unbestimmt und ziellos.

13.02.2019

édouard louis: wer hat meinen vater umgebracht

als édouards vater einen arbeitsunfall erleidet, verliert er seine stelle und wird letztlich abhängig von der sozialhilfe. die politischen entscheide der regierungen kürzen die unterstützung und er wird gezwungen eine arbeit anzunehmen, die in seiner situation nicht zumutbar ist. das frühere schwierige verhältnis zum vater, der ihn ablehnte und nicht zu verstehen schien, erscheint heute in einem anderen licht. édouard louis wendet sich der geschichte seines vaters tief bewegt zu und entwickelt eine unerwartete solidarität zu ihm.
diese persönliche geschichte handelt nicht nur von der aussöhnung mit dem vater, sondern hat auch eine konsequenz im politischen denken. zornig und ungeschminkt beschreibt der autor, wie die aermsten und armen um das wenige gebracht werden, das sie noch haben.

12.02.2019

sabine bode: das mädchen im strom

jung, schön und etwas hedonistisch – das ist gudrun, deren lebensgeschichte hier erzählt wird. schon während der schulzeit ist sie glücklich mit martin, ihrer ersten grossen liebe. dem paar scheint in den 1930er-jahren in mainz nichts im wege zu stehen. wegen der politischen verhältnisse ist ihre jugendfreundin margot bereits in die vereinigten staaten emigriert. die immer lauter werdenden nazis werden von gudruns jüdischer familie mehr oder weniger als vorübergehende erscheinung eingestuft. aber es kommt anders. gudrun gelingt es gerade noch deutschland zu verlassen, strandet mit vielen anderen flüchtlingen in shanghai, ihr vater bringt sich am tag vor seiner deportation um, ihre mutter wird in treblinka ermordet. nur dank ihrer stärke und ihrem wagemut überlebt gudrun die odyssee der emigration, muss viele kompromisse machen und prinzipien über bord werfen. nach ende des krieges beginnt sie in london ein weiteres mal ihr leben aufzubauen. später zurückgekehrt ins zerstörte mainz trifft sie auf frühere bekannte, die sich ihr gegenüber verhalten als wäre nichts gewesen. in einem prozess gegen einen früheren gestapo-mann, der sie damals verhaftet und sie sehr anständig behandelt hatte, sagt sie auf seine bitte hin als zeugin aus. und nach vielen jahren in denen nur brieflicher kontakt mit margot möglich war, gibt es ein emotionales wiedersehen.
in diesem überzeugenden und in sich stimmigen roman erhalten die vielen flüchtlingsschicksale, die sonst in der masse oft anonym bleiben, ein gesicht. am stärksten wird der roman gegen ende, als gudrun auf die früheren bekannten trifft. diese ganze geschichte steht stellvertretend für unzählige schicksale von verfolgten des nationalsozialismus und macht durch diese direktheit auf eine ganz besondere weise betroffen. es ist ein – beim gewicht des themas – erstaunlich leicht daherkommendes buch.

06.02.2019

therese bichsel: die walserin

als zu beginn des 14. jahrhunderts der karge boden des dorfes nicht mehr für alle zur lebensgrundlage reicht, wandern ein paar familien aus. weit hinten im lauterbrunnental beginnt der entbehrungsreiche aufbau einer neuen siedlung. unter den siedlern ist barbara, die – kaum schwanger – schon witwe wird. sie zieht ihren sohn alleine gross und dient der gemeinschaft als heilkundige und hebamme.
im 19. jahrhundert ereilt ihre nachfahren ein ähnliches schicksal. wieder ist es hunger und armut, die sie zur auswanderung treibt. in armenien und georgien finden sie ein neues auskommen, bringen es zu wohlstand, verlieren aber nach der oktoberrevolution alles und müssen weiterziehen.
diesen beiden familiengeschichten aus zwei unterschiedlichen zeiten liegen die gleichen themen zugrunde: abschied, heimweh, religiosität und die rolle der frau. in einem spannenden und unterhaltsamen erzählstil berichtet die autorin über die macht der kirche und die unterordnung der frau. beides hat sich in den dazwischen liegenden fünfhundert jahren nicht wesentlich verändert. die anschauliche schilderung der lebensumstände lässt einen eintauchen in diese völlig andere welt, von der unser heutiges leben noch immer geprägt wird. sehr geholfen hat das hinten angefügte namensverzeichnis, nicht ganz verstanden habe ich die reihenfolge der einzelnen geschichten.

03.02.2019

josef haslinger: jáchymov

als der verleger anselm findeisen zufällig auf eine frau trifft, die der geschichte ihres vaters nachforscht fordert er sie auf, diese aufzuschreiben. so erfahren wir vom berühmten torwart der tschechoslowakischen eishockey-nationalmannschaft, bohumil modrý, dessen karriere in den 1930er jahren beginnt. nach der machtübernahme der kommunisten in den nachkriegsjahren werden er und seine teamkollegen wegen verschiedener angeblicher vergehen angeklagt: planung der republikflucht, agitation gegen das regime oder unsozialistisches verhalten werden ihnen vorgeworfen. seine strafe verbüsst er als zwangsarbeiter in den minen von jáchymov, wo die häftlinge ohne schutz und mit blossen händen uranerz abbauen müssen. modrý stirbt einige jahre später an den folgen dieser haft, an einer leukämie.
der berührende geschichtliche roman setzt diesem erfolgreichen sportler jener zeit, der stellvertretend steht für viele andere menschen mit ähnlichen schicksalen, ein denkmal. es wird einem bewusst gemacht, wie unberechenbar ruhm und ehre sein können und wie schnell der wechsel politischer machtverhältnisse alles verändern kann. ein wunderbares buch mit einer subtil vorgetragenen, weisen botschaft, von dem man kaum ablassen kann.

29.01.2019

donat blum: opoe

da sind zwei geschichten. die eine ist die von opoe, der holländischen grossmutter, deren leben voller geheimnisse ist. sie heiratet und folgt ihrem mann in die schweiz, wo sie nie ganz heimisch wird. nach ihrem tod fährt ihr enkel nach holland und trifft dort einige alte verwandte. aus deren erinnerungen und erzählungen entsteht das bild einer eigenwilligen und selbstbestimmten frau, die nicht nur damit lebt, von ihrem mann betrogen zu werden, sondern sich auch ihr eigenes leben einrichtet.
die andere geschichte ist die des autors, des enkels, der offene und freie liebesbeziehungen sucht. dieses nicht einfache bestreben, das zuweilen wegen trauer, eifersucht und anspruch an treue an grenzen stösst, beschreibt er mit einer faszinierend eindringlichen anschaulichkeit.
trotz der immer wieder langen und komplexen sätze ist der text gut verständlich und erzeugt schöne und spannende stimmungen. gerne hätte ich mehr über die geschichte der grossmutter erfahren, vieles bleibt nur angedeutet und ungenau. was die beiden parallel geführten stränge verbinden soll, hat sich mir wenig erschlossen. der gegensatz zwischen der offensichtlichen abgeklärtheit der grossmutter und dem zweifelnden und suchenden enkel ist zwar interessant, aber findet irgendwie nicht zusammen.

26.01.2019

linus reichlin: in einem anderen leben

die eltern von luis führen eine schwierige ehe. früher waren sie nach aussen ein erfolgreiches schönes und wohlhabendes paar. aber schon länger steht es um ihre beziehung nicht gut, sie streiten oft und der alkohol trägt sein übriges bei. als junger mann flüchtet luis, lässt alles hinter sich und versucht zu vergessen, was ihn als kind und jugendlichen belastete. doch haben ihn die erlebnisse geprägt und als er viele jahre später einem für seine mutter wichtigen bild gegenübersteht, holt ihn die ganze vergangenheit ein. ob ihm die befreiung daraus gelingt bleibt offen.
der roman dreht sich vor allem um das thema, was eltern ihren kindern durch vererbung oder verhalten mit auf den lebensweg geben. etwas, das uns alle irgendwie und irgendwann beschäftigt. da gehen eigene beziehungen in die brüche, weil man von der herkunftsfamilie geprägt ist, da will man unbedingt nicht in die gleichen muster fallen und trotzdem geschieht es. deshalb packt einen die geschichte, die trotz all den widrigkeiten leichtfüssig daher kommt.