die wie etwas in watte gepackte, liebevolle geschichte lässt vor allem die gedanken- und gefühlswelt des sensiblen hauptprotagonisten erfahren. trotz vieler verschiedener handlungsstränge bleibt alles übersichtlich. die realistische beschreibung der demenz der mutter beeindurckt genau so wie das nebeneinander unterschiedlicher sozialer gefüge, wie sie in der heutigen schweiz realität sind. nicht alle probleme lösen sich, nicht auf alle fragen gibt es eine antwort, was den wunsch nach einer fortsetzung aufkommen lässt.
28.12.2021
roland buti: das leben ist ein wilder garten
die wie etwas in watte gepackte, liebevolle geschichte lässt vor allem die gedanken- und gefühlswelt des sensiblen hauptprotagonisten erfahren. trotz vieler verschiedener handlungsstränge bleibt alles übersichtlich. die realistische beschreibung der demenz der mutter beeindurckt genau so wie das nebeneinander unterschiedlicher sozialer gefüge, wie sie in der heutigen schweiz realität sind. nicht alle probleme lösen sich, nicht auf alle fragen gibt es eine antwort, was den wunsch nach einer fortsetzung aufkommen lässt.
26.12.2021
josef oberhollenzer: sültzrather
so real die handlung vordergründig daher kommt, so fiktiv ist sie. der roman hat das erscheinungsbild einer wissenschaftlichen arbeit mit über mehr als 200 fussnoten, die teils auf tatsachen beruhen, teils einfach frei erfunden sind. damit wird die art solcher publikationen auf eine verhaltene weise karikiert. der virtuose umgang mit der sprache macht das lesen – trotz der fülle von abenteuerlichen schachtelsätzen, die ihren ganz besonderen reiz haben – zu einem richtigen ereignis. es ist ein anspruchsvolles und ganz spezielles buch, dass einem nicht nur einiges abfordert, sondern einen auch belohnt.
22.12.2021
germano almeida: der treue verstorbene
als der berühmte
schriftsteller lopes macieira bei einer lesung vor versammeltem
publikum von edmundo, seinem besten freund, aus nächster
nähe erschossen wird, wird schnell über die hintergründe dieser
tat spekuliert. den meisten scheint eifersucht das naheliegendste
motiv. lopes macierias frau mariza war schon lange in die vereinigten
staaten weggezogen. matilde, edmundos frau, verkehrte regelmässig im
haus des schriftstellers, was den leuten in der stadt natürlich
nicht entging und zu klatsch und gerede führte. seinem status als
wichtigster vertreter der literatur des landes entsprechend wird sein
leichnam öffentlich aufgebahrt. politiker setzen sich mit der
anordnung eines staatsbegräbnisses in szene. doch da kehrt seine
ehefrau mariza zurück und findet ein testament, das eine ganz andere
art der bestattung vorsieht.
was wie ein krimi beginnt entwickelt
sich schnell zu einem beziehungsdrama und einem gesellschaftsroman.
nicht nur die komplizierten verhältnisse der beiden ehepaare,
sondern auch das funktionieren des kleinstädtischen milieus in
dieser abgeschlossenen inselgesellschaft könnten treffender und
spannender nicht beschrieben werden. mit witz und auch etwas
sarkasmus wird am beispiel des verhaltens einzelner beteiligten
überdeutlich veranschaulicht, wie es überall immer wieder die
gleichen menschlichen verhaltensmuster gibt.
18.12.2021
iris wolff: die unschärfe der welt
in einem pfarrhaus im banat beginnt die
geschichte von hannes und florentine. ihr leben ist nicht einfach, im
rumänien der 1980er-jahre. samuel ist ihr einziger sohn, dessen
leben der roman folgt. er beginnt spät zu sprechen und bleibt ein in
sich gekehrter, beobachtender junge, der sich kaum mit anderen
kindern anfreundet. viel lieber ist er bei seiner grossmutter, die
den alten zeiten nachhängt. oz ist sein einziger guter freund, für
den alles zu tun er immer bereit ist. so nimmt er eines tages ein
nicht absehbares risiko auf sich, das sein weiteres leben bestimmen
wird. nach einem langen aufenthalt in deutschland, kehrt samuel
zurück zu seinen eltern. auch in seiner heimat hat sich einiges
verändert und es wartet eine ueberraschung auf ihn.
in einer reichen sprache führt die
autorin durch sieben kapitel, die sieben ereignissen, orten und personen gewidmet sind. vor dem hintergrund der grossen umwälzungen
in osteuropa treffen die schicksale von sehr verschiedenen menschen
und deren wertehaltungen aufeinander. auch wenn alles irgendwie
zusammenhängt, fügt es sich erst am schluss zu einer stimmigen
geschichte. wie der titel schon verheisst, ist vieles mit einer
gewissen unschärfe erzählt, trotzdem entsteht ein klares bild. der
sicher auch autobiografisch beeinflusste roman ist ein wunderbares
lesestück. schlicht ein wunderbares buch, dem vielleicht nur ein
kleines rumänisch-deutsches glossar fehlt.
11.12.2021
tabea steiner: balg
antonia zieht mit ihrem mann chris
zurück aufs land in ihr heimatdorf. ihr erst vor kurzem geborener
sohn timon stellt sie schon früh vor viele herausforderungen und
lässt letztlich ihre beziehung scheitern. chris zieht zurück in die
stadt, antonia bleibt als alleinerziehende mutter zurück. bald gerät
sie in wirtschaftliche schwierigkeiten und muss eine schlecht
bezahlte arbeit annehmen. so vernachlässigt sie ihren sohn
zunehmend. timon beginnt früh aufzufallen, schlägt andere kinder in
der schule und lässt sich immer weniger sagen. einzig zu valentin,
einem alten mann im dorf, der früher lehrer war und nun die post
austrägt, findet timon etwas vertrauen. aber das wird nicht gern
gesehen und gibt zu reden, denn um valentin ranken sich gerüchte,
weshalb er den schuldienst damals verlassen hat.
in einem einfachen, klaren und
virtuosen bericht führt die autorin die beiden hauptgeschichten nur
beobachtend und nicht wertend zusammen. timon, der immer wieder
schwierigkeiten macht und seine überforderte mutter werden mit ihrer
prekären situation genau so überzeugend dargestellt, wie die
ausgrenzung von valentin. erst spät erfährt man mehr über die
früheren ereignisse, was dem roman eine gewisse spannung verleiht.
der prägnante text kommt wie aus einem guss daher, braucht weder
kapiteleinteilungen noch andere strukturen und bleibt trotz der
vielen und schnellen perspektivenwechsel gut lesbar. auch wenn sich
nicht alle probleme lösen und das gestern immer wieder einen
einfluss auf das heute hat, endet das buch offen auf eine
versöhnliche art. am ende bleibt das wissen um die vielen kinder,
die einfach schlechte startbedingungen haben, und die hoffnung, dass
sie auf jemanden treffen, dem sie vertrauen können.
07.12.2021
carlos ruiz zafón: marina
den internatsschüler óscar zieht es
abends immer wieder hinaus in die faszinierende stadt barcelona. die
alten quartiere durchstreifend lernt er marina kennen, die mit ihrem
kranken vater in einer zerfallenden villa lebt. marina ist von einer
schwarz gekleideten dame fasziniert, die immer wieder auftaucht und
ihren weg kreuzt. gemeinsam verfolgen die beiden jungen leute deren
spur und entdecken abenteuerliche geheimnisse um den einst reichsten
mann der stadt. dieser michail kolwenik, einst als mittelloser
reisender in die stadt gekommen, verdankt den reichtum seiner
ausserordentlichen fähigkeit, prothesen jeder art für versehrte
menschen zu bauen. im sog dieser geschichte geraten sie in
lebensgefahr und erfahren unfassbare dinge über eine grandiose
liebe.
der etwas unheimliche und
phantasievolle roman, der mich extrem gefesselt hat, erinnert etwas
an frankenstein. gruselig und immer irgendwo zwischen den lebenden
und dem reich der toten bleibt alles trotzdem realistisch und liest
sich mit ein wenig gänsehaut spannend bis zum ende. der autor
schafft es vielfarbig und emotionsreich ein bild der stimmung des
alten barcelona zu schaffen, was fast zwingend die lust auf eine
reise dahin wecken kann. das schicksal und die charaktere der
einzelnen menschen berühren einen stark und die handlung ist trotz
der komplexität und mystik irgendwie real und recht gut
überblickbar.
25.11.2021
ismail kadare: die brücke mit den drei bögen
im
14. jahrhundert betrachten die verschiedenen herrscher auf dem balkan
das osmanische reich bereits als eine bedrohung. die kunde vom plan
eines brückenbaus über einen grenzfluss weckt nicht nur aengste vor
den türken. auch sind viele der ueberzeugung, dem wasser so etwas
nicht antun zu dürfen, weil sonst die bösen wassergeister dieses
bauwerk wieder zum einsturz bringen könnten. doch der meister
und seine arbeiter beginnen unverzagt mit der arbeit. geschickt
nutzen sie den winterlichen,
niedrigen wasserstand um die pfeiler zu setzen und spannen danach die
bögen darüber. die bewohner der gegend verfolgen den bau kritisch,
die fährleute fürchten die konkurrenz und immer wieder gibt es
nächtliche sabotageakte. nach der fertigstellung will vorerst
niemand darüber gehen. bald aber setzt zunächst zögerlich der
verkehr ein.
von
einem mönch erzählt, der als chronist agiert, wird man in eine von
mythen und aberglauben geprägte gesellschaft entführt, die
jeder veränderung, jedem
aufbruch kritisch
begegnet.
detailliert und präzis berichtet
er über diese längst
vergangene welt, die zwischen technischem
fortschritt und
abergläubischer rückständigkeit steht. die damaligen
machtansprüche
einzelner herrscher und die
drohenden religiösen
einflüsse
betrachtend, lassen
diese geschichte als parabel auf die heutige zeit verstehen.
22.11.2021
eva menasse: dunkelblum
einst mitten in der donaumonarchie, heute hart an der österreichisch-ungarischen grenze, liegt dunkelblum, der ort der handlung. seit dem zweiten weltkrieg am rande westeuropas und etwas verschlafen, ändert sich kaum noch etwas für die hier ansässigen, die beinahe alles voneinander wissen, aber über vieles schweigen. doch die erinnerungen an die nazi-zeit und ein furchtbares verbrechen lassen sich nicht mehr verdrängen, als plötzlich ein fremder auftaucht, man auf einem feld ein unbekanntes skelett ausgräbt und ein junges mädchen verschwindet. die ankunft und beherbergung einer grösseren gruppe von ddr-flüchtlingen bringt unerwartet alte und neue machtverhältnisse an den tag.
mit angemessenem humor und einzigartigen bildern führt uns die autorin durch das biotop einer komplexen dörflichen schicksalsgemeinschaft. menschliche schwächen und unerfüllte wünsche begleiten das leben im ort ebenso, wie all die geheimen vermutungen und unausgesprochenen verdächtigungen. treffende schilderungen der einzelnen personen und deren handeln führen einen ganz nahe an diese menschen heran. sprachlich genial und präzis wird hier jeder stimmung und jedem gefühl rechnung getragen. in diesem roman öffnet sich exemplarisch ein geschichtspanorama, das eine kaum zu glaubende realität beschreibt. spannend von der ersten bis zur letzten seite ist es eines dieser bücher, von denen man hofft, es blieben immer noch ein paar kapitel zu lesen.
15.11.2021
ocean vuong: auf erden sind wir kurz grandios
als zweijähriger kommt der autor mit
seiner mutter und seiner grossmutter aus vietnam in die usa. die
beiden frauen haben den vietnamkrieg erlebt. er, der sohn einer
vietnamesin und eines amerikanischen soldaten, wird als kind wegen
seines aussehens diskriminiert. das leben mit seiner von den
kriegserlebnissen geprägten und geschundenen familie ist nicht
einfach, aber eine innige liebe verbindet mutter und sohn. als er
sich als jugendlicher in trevor verliebt, verändert sich vieles in
seinem leben. die liebe der beiden jungen ist heftig, wild und
versteckt. mit dem frühen tod trevors findet sie ein tragisches
ende. ocean vuong steht zwischen zwei kulturen und muss sich
entscheiden, wohin er gehört.
das buch ist angelegt als brief an
seine mutter, im wissen darum, dass sie ihn nie lesen wird können:
seine mutter ist analphabetin. mit seinem pendeln zwischen prosa und
kurzen eher lyrischen einlagen vermittelt der autor ein
eindrückliches bild dieser in amerika gestrandeten menschen. auch
zeichnet er ein bild vom umgang der amerikanischen gesellschaft mit
dem verlorenen krieg und seinen demografischen nachwirkungen. so
vielschichtig und kompliziert diese autobiografische geschichte ist,
so klar und einfach wird sie erzählt.
10.11.2021
olga grjasnowa: der verlorene sohn
während des kaukasuskrieges im 19.
jahrhundert muss der einflussreiche herrscher schamil seinen ältesten
sohn jamalludin als pfand für die friedensverhandlungen dem zaren
ausliefern. als neunjähriger kommt er also nach st. petersburg und
wird in der feudalgesellschaft des alten russlands gross. seine
herkunft und familie geraten für ihn immer mehr in vergessenheit. er
findet freude am leben und den möglichkeiten in russland, was ihn
aber seiner herkunft entfremdet. die karriere in der armee des zaren
führt ihn letztlich wieder zurück in die alte, von russland
beanspruchte heimat. seine familie hat sich verändert, er findet
sich nur schlecht wieder ein und die frage, welches leben er führen
will und wem seine loyalität gehört, belastet ihn immer mehr, aber
er findet keine antwort.
diese lebensgeschichte eines jungen
mannes ist gleichzeitig auch etwas geschichtsunterricht und lässt
uns die heutigen konflikte im kaukasus besser verstehen. eindrücklich
ist die schilderung, wie die menschen in den herrschaftsverhältnissen
gefangen sind und wie sehr sich das gesellschaftliche leben russlands
von dem von ihm beanspruchten gebieten in dagestan und tschetschenien
unterscheidet. faszinierend ist auch die beschreibung der rolle der
frau, die sich in diesen beiden so verschiedenen kulturen kaum
unterscheidet. diese stimmige geschichte hat manchmal etwas
unmittelbare brüche, bleibt aber bis zum schluss spannend und
bereichernd.
03.11.2021
jean-philippe blondel: ein winter in paris
der in einfachen verhältnissen
aufgewachsene victor kommt aus der provinz zum studium nach paris.
seine mitstudenten und mitstudentinnen stammen alle aus
einflussreichen und begüterten familien. er ist ein aussenseiter,
fühlt sich alleine und nicht wahrgenommen. nur mit mathieu, der in
einer anderen klasse ist und auch von auswärts kommt, raucht und
redet er hin und wieder in den pausen. als mathieu sich das leben
nimmt, gilt victor plötzlich als dessen einziger freund und gerät
ins zentrum des interesses der anderen. der vater des toten sucht das
gespräch mit victor, um mehr über seinen sohn zu erfahren. zwischen
den beiden entwickelt sich eine art vater-sohn-beziehung.
dieser
subtil geschriebene roman gibt einen einblick in die verhältnisse
einer französischen eliteschule und zeigt, wie schwierig der soziale
aufstieg für junge menschen ist, die nicht bereits ein
entsprechendes elternhaus haben. der offizielle umgang mit dem suizid
durch die lehrerinnen und lehrer kontrastiert stark mit den gefühlen
und emotionen victors und der hilflosen trauer des vaters von
mathieu. trotz der ganzen tragik eine schöne und stille geschichte,
die sich einer speziellen realität stellt und wunderbar zu lesen
ist.
25.10.2021
ta-nehisi coates: der wasserträger
eine unvorstellbare sozialgeschichte tut sich beim lesen auf. mit einer ausgesprochenen differenziertheit integriert der autor all die ungerechtigkeiten der damaligen verhältnisse. mit kraftvollen bildern und teilweise spannenden handlungsverläufen weiss er sicher viele lesende zu fesseln. die mystischen passagen waren für mich etwas schwer verständlich, liessen sich aber ins gesamtwerk einordnen. ein informativer roman über die damaligen verhältnisse in den südstaaten, der auch eine art geschichtsbuch sein kann. sprachlich meint man das amerikanische englisch in der deutschen uebersetzung zu spüren.
14.10.2021
per petterson: männer in meiner lage
arvid ist geschieden. seine frau hat
ihn verlassen und lebt mit den drei töchtern zusammen. arvids leben
ist seither nicht mehr das gleiche wie vorher. er ist allein und
einsam, sucht nach dem sinn des lebens, geht abends aus und betrinkt
sich ab und zu. er lernt andere frauen kennen, lässt sich mit ihnen
ein, aber keine dieser beziehungen will glücken. seine drei töchter
kommen jedes zweite wochenende zu besuch, so wie dies in der
scheidungsverhandlung geregelt worden ist. aber eines tages erklären
sie ihm, dass sie ihn noch ein letztes mal treffen wollen, dann nicht
mehr.
ohne eine durchgehende handlung
fasziniert dieses buch mit einer traurigen und leidvollen geschichte
ohne wirkliche perspektive. nicht spannend und trotzdem fesselnd
versteht der autor die gefühlslage des ich-erzählers einzufangen
und liefert damit einen beitrag zu einem thema, das zu selten
literarisch verarbeitet wird.
01.10.2021
alem grabovac: das achte kind
alem wird in würzburg in eine
gastarbeiterfamilie geboren. die mutter arbeitet ein volles pensum
und weil sie den sohn ihrem mann – einem kleinkriminellen und
gewalttätigen alkoholiker – nicht unbeaufsichtigt überlassen
will, gibt sie ihn in eine pflegefamilie. der vater verschwindet
endgültig und landet letztlich in jugoslawien im gefängnis. die
mutter lernt den ebenso gewalttätigen dušan kennen, mit dem sie
fortan zusammenlebt. so bleibt alem ganz bei seinen pflegeeltern, die
ihn, neben ihren eigenen sieben kindern wie einen eigenen sohn
grossziehen. als er älter wird, realisiert er, dass sein pflegevater
ein geschichtsleugnender nazi ist; irgendwann kommt es zum bruch mit
ihm. alem entdeckt das lesen und beginnt sich in seine eigene welt
der bücher zurückzuziehen. viel später, als erwachsener, macht er
sich auf die suche nach der geschichte seines leiblichen vaters und
dessen familie.
ohne zorn und ohne wertung berichtet
der autor in diesem buch über seine kindheit und jugend. in drei
teilen widmet er sich dem leben seiner mutter, dem seines vaters und
seinem eigenen in der pflegefamilie. geschickt gelingt es ihm so, die
menschen und milieus zu kontrastieren und zu beschreiben wie seine
jugend zwischen diesen beiden welten verläuft, die unterschiedlicher
nicht sein könnten. der alltag der mutter, der von armut, gewalt und
abhängigkeit dominiert wird und das leben der wohlhabenden
pflegeeltern, die sich mit viel liebe und sorgfalt um alem kümmern,
aber andere leichen im keller haben. früh schon beginnt er sich um
seine mutter sorgen zu machen, trotz der vielen trennungen bleibt
seine liebe zu ihr und seinen grosseltern unverändert stark. dieser
versöhnliche bericht über eine schwierige jugend mit vielen
schrecklichen momenten lässt einen staunen, was ein kind aushalten
kann und macht irgendwie auch hoffnung.
27.09.2021
madeleine bourdouxhe: auf der suche nach marie
marie und ihr mann jean sind glücklich
verheiratet und verbringen die ferien am meer. auf einem
strandspaziergang, den sie alleine macht, sieht sie einen jungen
mann, von dem sie fasziniert ist. die beiden treffen sich, eine
erotische affäre beginnt. die ferien sind zu ende, marie und jean
kehren zurück nach paris. als jean beruflich drei tage wegfährt,
trifft sich marie wieder mit dem anderen mann. aber sie bleibt bei
jean und als er wegen seiner arbeit von paris wegziehen muss, folgt
sie ihm. doch auch dann trifft sie sich noch ein weiteres mal mit dem
liebhaber.
sehr genau beschreibt die autorin
diesen widerspruch in marie, wie sie schwankt zwischen entschlossener
treue und der zerrissenheit, die die erotischen gefühle für diesen
anderen mann auslösen. ein emotional ergreifendes buch, das gefühlen
nachgeht, die manche kennen. die weitgehend klar strukturierte
sprache mit vielen kurzen sätzen führt zu einem speziellen
leserhythmus und macht die geschichte so eindringlich und
unmittelbar. die autorin hält sich mit nichts unnötigem auf. der
text zeigt für seine zeit – in den 1930er-jahren geschrieben –
ein überraschend modernes sittenbild. obschon es im wesentlichen die
geschichte einer jungen frau ist, dürfte es auch für männer
spannend zu lesen sein.
25.09.2021
pierre lemaitre: die farben des feuers
nach dem tod ihres vaters steht
madeleine péricourt plötzlich alleine an der spitze der privatbank,
von deren tätigkeit sie nichts versteht. der langjährige prokurist
und vertraute mitarbeiter ihres vaters führt die geschäfte so, dass
sie ihr vermögen weitgehend verliert und er in den besitz des
bankhauses kommt. madeleine, die nun mit ihrem sohn beinahe verarmt
und in den stand des kleinbürgertums absteigt, lässt sich dies aber
nicht gefallen und plant einen rachefeldzug, der ein beachtliches
ausmass annimmt. mit wenig legalen mitteln und unzimperlich holt sie
sich – vor allem auch im interesse ihres sohnes – zurück, was
ihr einst gehörte.
die menschen in diesem fulminanten
roman schenken sich nichts, da geht es – zeitweise auch
handgreiflich und brutal – wirklich zur sache: mit hinterlist und
gewalt verfolgen alle ihre eigenen interessen. parallel dazu bilden
emotionale und sensible momente ein gegengewicht. das
gesellschaftliche umfeld in der zeit kurz vor dem zweiten weltkrieg,
in der die rolle der frau noch eine ganz andere war, bildet die
kulisse zu dieser etwas abgründigen geschichte, die manchmal auch
ein wenig dick aufgetragen daherkommt. spannend und virtuos
geschrieben hält einen das buch bis zur letzten seite im bann.
17.09.2021
tomás gonzález: das spröde licht
david und sara sind mit ihren drei
söhnen eine glückliche familie. als der älteste sohn jacobo bei
einem verkehrsunfall schwer verletzt wird, ist nichts mehr wie
vorher. von der brustwirbelsäule an abwärts ist er gelähmt. wegen
seiner unerträglichen schmerzen, die es zu lindern nicht gelingt,
entscheidet er sich seinem leben ein ende zu setzen. dafür muss er
von new york nach oregon reisen. sein bruder begleitet ihn. in der
letzten nacht vor seinem tod ist die familie zuhause versammelt und
ist hin und her gerissen zwischen seinem entscheid und der hoffnung,
er würde es doch nicht tun. dies alles erzählt david jahre
später, als er wieder in seiner heimat kolumbien lebt, aus seiner
erinnerung.
der geplante abschied löst andere
emotionen aus als ein natürlicher tod. alle sind – auch wenn sie
einander beistehen – letztlich allein mit ihren eigenen gefühlen.
in einer klaren und unsentimentalen sprache erfahren wir von hoffnung
und verzweiflung dieser menschen. das buch ist ein ganz spezieller
beitrag zur diskussion um die sterbehilfe, weil es vor allem die
angehörigen, die betroffenen familienmitglieder, ins zentrum stellt.
es wird noch lange in mir nachhallen.
13.09.2021
michael köhlmeier: das mädchen mit dem fingerhut
das kleine mädchen, das alleine
zwischen den leuten auf dem markt unterwegs ist, wird zunächst nicht
beachtet. man gibt dem kind zu essen und zu trinken. von der sprache
versteht es nichts, aber als das wort polizei fällt, beginnt es zu
schreien und ergreift die flucht. später trifft es auf zwei jungen,
die ebenso mittellos auf der strasse leben und schliesst sich ihnen
an. gemeinsam versuchen sie zu überleben. als das mädchen erkrankt, wird es von
einer älteren dame in ihr haus aufgenommen, gesundgepflegt und in der folge auch opfer ihrer machtausübung. eine gewalttätige befreiung
aus dieser situation lässt die geschichte eskalieren und findet ein
offenes – kein glückliches – ende.
ein buch, das all den kindern ein
denkmal setzt, die unbegleitet auf der flucht in einem ihnen fremden
land ankommen, wo niemand auf sie wartet. meisterhaft beschreibt der
autor in einer klaren sprache nicht nur die kraft und den
ueberlebenswillen der kinder, sondern auch die ambivalenz unserer
gesellschaft zwischen mitleid, hilfe und macht. die stärke dieses
textes ist dessen konzentriertheit und beschränkung aufs
wesentliche. damit wird er so eindringlich.
10.09.2021
vladimir zarev: familienbrand
das weitläufige familienepos vor dem hintergrund der geschichte bulgariens vermittelt viel über die lebensumstände in dieser ländlichen gegend. geburt und tod, armut und reichtum, macht und unterdrückung sind die zentralen themen. nicht einfach zu lesen, weil nicht nur sehr viele personen auftreten, sondern auch, weil es an einer dichten handlung und somit zeitweise auch an spannung fehlt. ueber beinahe 800 seiten dran zu bleiben und den ueberblick nicht zu verlieren, ist eine echte herausforderung. die reiche sprache und die teilweise unerwarteten beschreibungen von details, wie auch der karg vorkommende, spezielle humor, lohnen die lektüre gleichwohl.
22.08.2021
germano almeida: das testament des herrn napumoceno
nach dem tod von herrn
napumoceno, einem angesehenen handelskaufmann, birgt die
testamentseröffnung etliche ueberraschungen. sein neffe carlos, der
sich schon als haupterbe wähnt, wird arg enttäuscht, denn die
nachkommen erfahren erst jetzt von der existenz einer unehelichen
tochter, der als haupterbin beinahe der gesamte nachlass zufällt.
das testament selbst ist ein viele seiten umfassender lebensbericht,
der etliche unvermutete geheimnisse aus dem leben des honorigen
verstorbenen offenlegt und auch einige rätsel aufgibt.
der roman entführt uns
in den alltag der handelsleute auf den kapverdischen inseln.
unerwartet unterhaltsam entwickelt sich hier der blick auf das
spezielle und bisher nicht vermutete leben dieses mannes. ohne
grosse trauer und ohne zu moralisieren, führt uns der autor durch
diese lebensgeschichte. die gelungene uebersetzung schafft es durch
die sprachliche komplexität die art des portugiesischen erzählens
zu bewahren. schön und vergnüglich zu lesen, versetzt es einen in
diese andere welt weit draussen im atlantik.
18.08.2021
zora del buono: die marschallin
schon allein von der lebensgeschichte dieser frau geht eine einzigartige faszination aus. in einer übersichtlichen handlungsführung gelingt es der autorin ihrer eigenen grossmutter ein denkmal zu setzen, das gleichzeitig auch ein stück geschichtsunterricht ist. eine farbige erzählweise lässt einen eintauchen ins leben dieser grossfamilie und ein vorangestelltes personenregister hilft den ueberblick zu behalten. die hauptprotagonistin steht sehr im zentrum, was den vielen anderen interessanten personen eher nebenrollen zuweist. gerne hätte ich mehr über sie und deren leben erfahren. das lesen des buches wurde zu einem spannenden erlebnis für mich.
14.08.2021
charlotte wood: ein wochenende
schnell steht man beim lesen mitten im geschehen, als gehörte man selbst dazu. die sehr detaillierte schilderung des kampfes der protagonistinnen gegen ihren körperlichen zerfall hat manchmal etwas beinahe bösartiges. auch ist die geschichte teilweise etwas dick aufgetragen und hat etwas abgründig skurriles. alles in allem ein leicht zu lesender, amüsanter roman, dem es trotz allem an tiefgründigkeit nicht fehlt und der einen offenen und hoffnungsvollen schluss findet.
09.08.2021
matthias nawrat: wir zwei allein
sehr nahe am geschehen wird hier eine beziehungsgeschichte erzählt, von der nie ganz klar wird, ob sie einseitig oder gegenseitig ist. zweifel werden ausgeblendet, schöne momente verklärt und trotzdem erkennt man die gefährliche abhängigkeit. einzigartig treffend sind sehnsüchte und gefühlslagen des mannes und das herausfordernde handeln und reagieren der frau beschrieben, was irgendwie ein ungutes gefühl zurücklässt. der roman macht in seiner dichte und nähe einen autobiografischen eindruck, auch wenn dies nicht so erwähnt wird. ich hoffe, der autor musste dies nicht wirklich selbst erleben.
03.08.2021
odd klippenvåg: ein liebenswerter mensch
als schüler war kjerand heimlich in
birger verliebt. nach der grundschule trennen sich ihre wege und sie
verlieren sich aus den augen. kjerand bleibt im dorf und übernimmt
den hof seiner eltern, arrangiert sich mit dem leben und verheimlicht
seine homosexualität. dies ändert sich, als er mit sechzig jahren
mit einer krebsdiagnose konfrontiert wird und nach oslo zur
strahlentherapie fahren muss. bei der gelegenheit sucht er birger
auf, der dort eine kunstgalerie besitzt. birgers leben ist völlig
anders verlaufen. er ist ein weltoffener und erfolgreicher mann, der
einige weder einfache noch dauerhafte beziehungen zu anderen männern
hatte. nach anfänglichem zögern lädt birger kjerand ein, während
der therapiezeit bei ihm zu wohnen. langsam kommen sich die beiden
männer näher. eine schöne, ruhige und bereichernde beziehung
beginnt zwischen den beiden zu wachsen.
die schnörkellose erzählweise steht
im starken kontrast zu dem was der inhalt des romans vermittelt. die
tiefe und ruhige liebe zwischen zwei nicht mehr jungen menschen, die
frei von hektik und leistung, voll von zärtlicher zuwendung und
gegenseitiger sorge ist, wirkt nie kitschig oder oberflächlich,
sondern hat etwas liebenswertes und stilles, das beim lesen stark
fasziniert. die auseinandersetzung mit dem völlig anderen leben des
gegenübers bringt in diesem letzten lebensabschnitt nicht nur die
auseinandersetzung mit neuem, sondern auch aufbruch und hoffnung. das
buch ist mir so nahe gegangen, dass ich es gleich ein zweites mal
gelesen habe.
25.07.2021
nino haratischwili: mein sanfter zwilling
die liebe zweier geschwister, die des inzests verdächtigt werden, und die schwierigen beziehungsverhältnisse in einer patch-work-familie sind die zentralen themen des romans. die komplexe handlungsführung mit zeitsprüngen ist manchmal etwas unübersichtlich, was die gefahr birgt, dass man beim lesen die orientierung verlieren kann. der unterschied der beiden hauptprotagonisten lässt ein beinahe ungerechtes gefälle und eine einseitige abhängigkeit durchscheinen. auch wenn das buch nicht durchgehend spannend ist, enthält es eine geniale geschichte.
18.07.2021
yael inokai: mahlstrom
an der beerdigung von barbara, die sich
als junge frau das leben genommen hat, sind auch alle versammelt, die
gemeinsam mit ihr zur schule gegangen sind, nur yann fehlt. seine
abwesenheit wirft das licht auf eine unschöne vergangenheit. yann,
der ein zugezogener war und immer ein aussenseiter blieb, wurde
damals das opfer: er musste unter mobbing und gewalt leiden. auch
adam, der eigentlich in yann verliebt war, wurde zum täter. alle
daran beteiligten beginnen sich mehr oder weniger freiwillig ihren
taten zu stellen. aus der perspektive der einzelnen werden kapitel
für kapitel diese ereignisse aufgerollt.
ganz unauffällig und ruhig fängt der
roman mit dieser trauerfeier an und erzählt dann immer stärker und
eindringlicher diese dorfjugendgeschichte, die in ein offenes ende
mündet. in einer schönen und reichen sprache berichtet die autorin
über ein phänomen, das sich an vielen orten immer wieder ereignet,
über das wenig gesprochen wird, und setzt damit den unbeachteten
opfern ein denkmal.
14.07.2021
ayelet gundar-goshen: lügnerin
als nuphar, die eisverkäuferin, von
einem kunden aufs uebelste beleidigt wird, verlässt sie ihren stand.
er folgt ihr und attackiert sie weiter verbal. sie beginnt zu
schreien, die leute laufen zusammen und plötzlich richten sich alle
blicke auf sie, die sonst immer im schatten ihrer schönen schwester
steht. schnell macht das gerücht eines sexuellen uebergriffes die
runde und als eine polizistin sie einvernimmt, korrigiert sie diese
unwahrheit nicht. eine kleine lüge beginnt wirkung zu zeigen, denn
der täter ist ein prominenter sänger. nuphar wird als opfer in der
boulevardpresse bedauert und zu fernsehshows eingeladen. dem
vermeintlichen täter droht eine hohe gefängnisstrafe, was nuphars
gerechtigkeitssinn weckt. wie kommt sie wieder aus dieser geschichte
heraus?
der roman befasst sich, das kennen wir
alle, mit den kleinen unwahrheiten und missverständnissen, die zu
korrigieren wir hin und wieder unterlassen. die beschreibung der
emotionen und gefühle sind zwar treffend, allzu tiefgründig ist der
text jedoch nicht und er hat auch immer wieder längen. die personen
bleiben trotz vieler und auch detaillierter beschreibung etwas blass
und das ende kommt etwas schnell und wirkt unvollständig. aber alles
in allem ist das buch leicht zu lesen, unterhaltend und zeitweise
auch lustig.
07.07.2021
philip roth: gegenleben
nathan und henry sind brüder, der
religion eher fern stehende juden, die in new jersey leben. henry,
der zahnarzt, ist verheiratet und hat drei kinder, nathan ist
schriftsteller. einer der beiden erleidet einen herzinfarkt und muss
danach mit medikamenten behandelt werden, die als nebenwirkung
massive potenzstörungen mit sich bringen. nur eine lebensgefährliche
operation kann ihn von diesen medikamenten befreien. die frage stellt sich, ob er sein leben riskieren soll.
die fünf kapitel des buches pendeln
zwischen realität und fiktion. sie beziehen sich gegenseitig
aufeinander, letztlich bleibt aber unklar, welcher der beiden männer
der betroffene ist. teils aus der optik des beobachtenden autors,
teils aus der sicht des betroffenen lässt sich nie ganz ausmachen,
was nun wirklich ist. lange diskussionen über tod, sexuelle potenz,
mann-sein und judentum sind nicht nur die zentralen motive dieser
komplexen geschichte, sondern ergeben auch eine abenteuerliche
mischung, die den roman etwas überladen daherkommen lässt.
interessant ist die auseinandersetzung eines juden mit seiner
religion, der wenig bis kaum in dieser tradition verhaftet ist. das
wahrscheinlich autobiografische züge tragende buch ist anspruchsvoll
und hat mir einiges abgefordert.
29.06.2021
marie-hélène lafon: die annonce
auf dem hof seiner familie in der
auvergne lebt paul, mitte vierzig, zusammen mit seinen beiden onkeln,
die jungesellen geblieben sind. so will paul nicht enden und gibt
eine annoce auf. im norden frankreichs an der belgischen grenze lebt
annette mit ihrem 11-jährigen sohn eric. gerade hat sie die ehe zum
vater ihres sohnes, einem gewalttätigen alkoholiker beendet. sie
antwortet auf pauls annonce und die beiden treffen sich ein erstes
mal. nach einem zweiten treffen entscheidet sich annette, mit ihrem
sohn zu paul zu ziehen und mit ihm ein neues leben zu beginnen. der
empfang durch die anderen hofbewohner bleibt trotz der vielen
bemühungen pauls frostig. die beiden alten und auch nicole, pauls
schwester, die ihm bisher den haushalt besorgt hat, lassen sie
spüren, wie wenig willkommen sie hier ist.
in einer subtilen und einfühlsamen
sprache, die vieles nur andeutet, anderes aber sehr klar benennt,
schreibt die autorin diese verwegene geschichte eines paares, das
sich unter schwierigen umständen erst wirklich finden muss. das
fehlen einer chronologischen erzählweise hat mich im ersten moment
etwas irritiert, sich später aber als besonders schöne art die
geschichte zu erzählen erwiesen. das offene ende lässt alles
möglich bleiben.
22.06.2021
julia von lucadou: die hochhausspringerin
das ist nicht ein einfacher science-fiction-roman. diese genaue und kompromisslose beschreibung einer welt, auf die wir zusteuern, führt uns vor augen, wie unsere zukunft aussehen könnte. trotz allen technologischen fortschritts bleiben dem menschen emotionen und immer wieder leuchten ganz menschliche und persönliche verhaltensweisen auf, die irgendwie nicht zum bestehenden system passen. eine spannende und ergreifende geschichte über macht und ohnmacht zwingt einen zum nachdenken über den technologischen fortschritt und die damit verbundenen gefährlichen folgen.
15.06.2021
elif shafak: unerhörte stimmen
leila wurde ermordet, aber in den
letzten sekunden nach ihrem herzstillstand ist ihr gehirn noch in
funktion und sie denkt zurück an die wichtigen momente ihres
schwierigen lebens: in einer wohlhabenden und konservativen familie
im osten der türkei verlebt leila ihre kindheit. früh schon wird
sie von ihrem onkel missbraucht. als dies in der familie bekannt
wird, soll sie mit ihrem cousin verheiratet werden, um die schande zu
verstecken. aber leila flüchtet und macht sich auf nach istanbul, wo
sie bald als prostituierte in einem bordell landet. trotz aller
schwierigkeiten bleibt sie eine starke frau. sie lernt ein paar
frauen kennen, die ihre wirklichen freundinnen werden. und diese
kümmern sich nun um die leiche, weil es nicht sein kann, dass sie
einfach irgendwo begraben wird. in einer abenteuerlichen aktion
erfüllen sie ihr ihren letzten wunsch.
ein spannendes und leicht zu lesendes
buch, das exemplarisch das schicksalshafte leben einer jungen frau
beschreibt und gleichzeitig ein wunderbares bild über
frauensolidarität zeichnet. das stadt-land-gefälle in der türkei,
die daraus folgende zerrissenheit der gesellschaft und die situation
von frauen, die am rande stehen, bilden den hintergrund dieser
spannenden und interessanten geschichte. eine richtige freude beim
lesen ist die bestechende strukturiertheit des textes, so dass man
beim lesen mühelos den ueberblick behält.
11.06.2021
antónio lobo antunes: portugals strahlende grösse
zur
zeit der portugiesischen kolonialherrschaft in angola heiratet der
ingenieur amadeu die wohlhabende farmerstochter isilda. nebst ihren
zwei gemeinsamen kindern clarisse und rui gehört auch carlos,
amadeus unehelicher mischlingssohn zur familie. carlos wird als
zweitklassiger mensch behandelt und sogar versteckt, wenn besuch
kommt. nach der überstürzten unabhängigkeit angolas, gelingt der
familie noch die flucht nach lissabon. isilda aber bleibt zurück und
lebt verarmt zusammen mit ihren schwarzen dienstboten in der alten
villa. in lissabon wohnt carlos mit seiner freundin lena zusammen,
clarisse lässt sich von alten männern aushalten und rui ist als
epileptiker in einem heim. niemand folgt carlos' einladung zum
weihnachtsessen, aber es löst bei allen eine auseinandersetzung mit
der vergangenheit und der familie aus.
wie
ein kaleidoskop zeigt der text die vielen facetten damaliger
verhältnisse und lebensbedingungen in der kolonie angola auf. der
mangel einer eigentlichen handlung und der von perspektivenwechseln
und unterbrechungen durchsetzte text erfordert beim lesen viel
konzentration. auch wenn ich dem inhalt nicht immer ganz folgen
konnte und die lektüre zeitweise sehr kompliziert und anspruchsvoll
war, hat es sich gelohnt, dieses buch zu ende zu lesen, lässt es
doch einen kritischen blick auf die kolonialgeschichte portugals zu.
der titel des buches hat letztlich etwas sarkastisches.
01.06.2021
arno camenisch: der schatten über dem dorf
vor vielen jahren hat sich über dem
dorf ein unfall ereignet, bei dem drei kinder ums leben gekommen
sind. diese tragödie bleibt den bewohnern und bewohnerinnen
unvergessen. kaum jemand spricht darüber, aber immer wieder wird die
erinnerung geweckt: sei es durch den blick hinauf zum unfallort, den
man noch heute meidet oder durch die kindergräber auf dem friedhof.
ueber diesem dorf, in dem alle sich gegenseitig kennen, viele
miteinander verwandt sind, bleibt ein schatten, der sich in
sprachlosigkeit und schicksalsergebenheit manifestiert.
hierher kehrt der erzähler nach langen
jahren der abwesenheit zurück und beobachtet leben und menschen in
diesem ort. subtil erzählt er von dieser tragik und führt einen mit
aufbauender spannung an das ereignis heran, bis erst gegen ende des
buches erzählt wird, was wirklich geschah.
26.05.2021
colum mc cann: apeirogon
der israeli rami und der palästinenser
bassam sind zwei männer mit sehr ähnlichen erfahrungen: beide haben
eine tochter verloren. ramis tochter smadar wurde bei einem
selbstmordattentat in den strassen tel avivs getötet, bassams
tochter abir wurde vor ihrer schule von einem israelischen
grenzsoldaten erschossen. beide väter kommen nur schwer über den
verlust ihrer töchter hinweg. sie lernen sich in einer kontaktgruppe
kennen, in der sich betroffene eltern unabhängig von herkunft,
nationalität und religion zum gemeinsamen gespräch treffen. sie
wollen diese grenzen überwinden, arbeiten gegen diese politik, die
ihnen ihre kinder genommen hat und für eine gemeinsame zukunft in
frieden. die geschichte von rami und bassam ist wahr: die beiden sind
freunde und brüder geworden.
die mitte des buches bilden die
lebensgeschichten der beiden männer.
vor und nach diesen beiden kapiteln
stehen je 500 texte, textfragmente und bilder, die von ereignissen,
gegebenheiten, schicksalen berichten und damit die realität und den
wahnsinn des palästinakonflikts illustrieren. neben den
schwierigkeiten im alltag, werden nicht nur eklatante unterschiede
klar, sondern auch wie wenig die meisten palästinenser und israeli
vom leben der anderen wirklich wissen. die portraits von menschen,
die trotz all des leids an die möglichkeit eines einträchtigen
miteinander glauben und ihr überzeugter und aus tiefen herzen
kommender einsatz dafür, berühren sehr stark. ein fesselndes stück
literatur, das direkt und eindringlich über menschen berichtet, die
ihren schmerz durch hoffnung zu ersetzen suchen und das derzeit
aktueller nicht sein könnte – ein buch für unsere welt.
18.05.2021
uwe tellkamp: der eisvogel
wiggo ritter, sohn aus einem begüterten
elternhaus, hat seine akademische karriere verpatzt. er verdient sich
sein leben mit zufälligen gelegenheitsjobs und hat eher unstete
beziehungen. der versuch seines vaters, ihn bei seiner bank
unterzubringen, scheitert ebenso. in dieser etwas ausweglosen lage
lernt er das geschwisterpaar mauritz und manuela kennen, mitglieder
einer im hintergrund agierenden konservativen organisation, die auch
mit terroristischen mitteln ihre leute an die macht zu bringen sucht.
für wiggo eine neue perspektive, doch er verliebt sich in manuela,
was zur gefahr für die gesamte unternehmung zu werden droht.
das buch beginnt im spital, wo der zum
mörder gewordene wiggo nach einer terroristischen aktion schwer
verletzt liegt. diese geschichte wird aus seiner perspektive erzählt,
während wir aus der sicht von einigen beteiligten verwandten und
freunden eine aussensicht auf die geschehnisse erfahren. am anfang
hatte ich schwierigkeiten, mich im komplexen handlungsverlauf zurecht
zu finden, doch mit der zeit wurde der in einer dichten sprache
geschriebene roman immer brisanter und aktueller.
11.05.2021
fabio andina: tage mit felice
felice ist ein alter mann, der ein
bescheidenes leben als selbstversorger in seinem haus führt. jeweils
früh morgens in der dunkelheit macht er sich auf, um oben im wald in
einem wasserloch zu baden. tagsüber hilft er anderen leuten im dorf,
besucht hin und wieder die bar oder fährt mit seinem alten auto
hinunter ins tal. als er aber ein weiteres bett in sein haus stellt,
finden gerüchte und vermutungen nahrung. niemand weiss genaues, aber
man nimmt an, seine frau, die ihn vor vielen jahren verlassen hat,
komme zurück.
der autor erzählt die geschichte
dieses mannes aus der optik eines begleiters. er verbringt einige
tage mit ihm, teilt seinen alltag und schildert das leben in diesen
weilern am hang des bleniotales. er zeichnet die einzelnen menschen,
die hier leben, ihre beziehungen untereinander, aber auch die
einflüsse von aussen, die abwanderung der jugend, das zurückbleiben
der alten und den zerfall von unbewohnten häusern weder beschönigend
noch romantisierend. dieses ruhige buch ist einfach wundervoll zu
lesen und weckt irgendwie eine gewisse sehnsucht nach diesem leben.
01.05.2021
nicolas mathieu: wie später ihre kinder
in einer kleinen stadt in lothringen
ist nicht mehr viel los. das stahlwerk, der einzige grosse
arbeitgeber, ist seit jahren stillgelegt, viele sind arbeitslos, es
gibt wenig perspektiven. hier leben der 14-jährige anthony und sein
cousin. sein zuhause ist von armut, alkohol und gewalt geprägt. an
einem heissen sommernachmittag fahren die beiden mit einem
gestohlenen kanu über den see zu einem entlegenen strand. dort
trifft anthony zum ersten mal auf steph, tochter wohlhabender eltern,
und verliebt sich in sie. steph geht ihm über jahre, bis er
erwachsen ist, nicht mehr aus dem sinn. auch wenn sie sich hin und
wieder treffen, es kann nicht wirklich etwas werden.
eine geschichte, die im hintergrund der
handlung kaum etwas auslässt, was dieser industrielle niedergang
nach sich zieht. nicht nur die aus dem süden zugewanderten
fabrikarbeiter werden arbeitslos, sondern auch die menschen, die
sich im unteren mittelstand wähnten, stürzen ab in prekäre
lebensumstände. die jugendlichen, immer wieder von hoffnung und
illusionen geleitet, werden bitter enttäuscht und bleiben abgehängt.
von diesem genau beobachteten und beschriebenen milieu und den
menschen, die darin leben, berichtet dieses buch eindrücklich
ungeschminkt und birgt ein brisantes zeitdokument sozialer
verhältnisse.
27.04.2021
dmitrij kapitelman: eine formalie in kiew
mit acht jahren ist der autor und
ich-erzähler aus der ukraine mit seiner familie nach deutschland
gekommen und in einer plattenbausiedlung in leipzig gross geworden.
etwa zwanzig jahre später fällt er den entscheid sich einbürgern
zu lassen. dafür braucht er amtliche dokumente, die ihm eine behörde
in kiew ausstellen muss. so fährt er zurück ins land seiner
kindheit, mit dem ihn ausser ein paar entfernter verwandter nichts
verbindet. die beschaffung seiner papiere ist erstaunlich
unkompliziert, wesentlich schwieriger werden seine
familienbeziehungen. unerwartet reist plötzlich sein vater für eine
grössere zahnbehandlung an und als dessen gesundheitszustand sich
verschlechtert wird ein spitalaufenthalt nötig. aus der kurz
geplanten reise wird eine längere und es wird klar, wie die ablösung
von seiner familie doch nicht so endgültig ist, wie er annimmt.
ein autobiografischer roman, der aus
einer einwanderer- oder flüchtlingsperspektive viele aspekte
aufgreift. in einer ganz eigenen sprache begegnet man hier einer
anderen welt, die witzig und manchmal auch etwas sarkastisch
dargestellt wird. das grundthema – der bruch zwischen der
erlebniswelt von migrierten eltern und ihren kindern – wird ebenso
deutlich, wie die schwierigkeit, zwischen zwei welten, zwei
identitäten gross zu werden. die nie ganz mögliche befreiung aus
familienzwängen kommt in einer liebevoll anmutenden tragik daher. an
diesem bis zur letzten seite spannenden und unterhaltsamen buch hat
mir besonders die mischung aus tiefgründigkeit, spannung und
leichtigkeit gefallen.
23.04.2021
gerbrand bakker: birnbäume blühen weiss
gerard ist alleinerziehender vater von
drei söhnen: die zwillinge kees und klaas und der jüngere gerson.
sie leben gut und einvernehmlich zusammen, bis ein unfall alles
verändert. gerson wird schwer verletzt und verliert sein augenlicht.
von da an ist nichts mehr wie vorher und stellt alle vor eine grosse
aufgabe. die vier halten zusammen und stellen sich dieser
herausforderung auf eine ungewöhnliche weise.
spannend ist die wechselnde
perspektive; aus der sicht gersons und aus der sicht der anderen
familienmitglieder stellen sich die probleme nicht immer gleich dar.
ein kurzer aber sehr berührender roman, der in einer klaren und
ruhigen sprache eine tragische geschichte erzählt. zeitweise kam
mir die handlung so nahe, dass ich das lesen unterbrechen musste. es
ist ein buch, das ich nicht so schnell vergessen werde.
20.04.2021
andrej kurkow: petrowitsch
beim umzug in eine neue wohnung in kiew
muss kolja von seinen vormietern einiges an einrichtung übernehmen,
so auch ein volles bücherregal. dort findet er in einem buch
handschriftliche einträge über geheime tagebücher des
nationaldichters schewtschenko. diese sollen in einer festung in
kasachstan vergraben sein. er macht sich auf die lange reise dorthin
und kommt dabei unterwegs in der wüste beinahe ums leben. der nomade
dshamsched und seine zwei töchter retten ihn und pflegen ihn in
ihrer jurte wieder gesund. für die weiterreise gibt ihm dshamsched
eine der beiden töchter mit. es entwickelt sich eine
liebesgeschichte unter abenteuerlichen bedingungen, die am schluss
ein gutes ende findet.
die reise durch die postsowjetisch
entstandenen staaten zeigt auf, wie diese gesellschaften zwischen
gastfreundschaft und menschlichkeit, aber auch kriminalität und
korruption funktionieren. gleichzeitig ist man beim lesen nie sicher,
was wahrheit und was fiktion ist. dieser heitere und zugleich düstere
roman in der art eines road-movies ist leicht und unterhaltsam zu
lesen.
11.04.2021
silvio blatter: eine unerledigte geschichte
eric ist der uneheliche sohn, den seine
mutter in die ehe mitbringt. mit seinem jüngeren halbbruder ben
teilt er das zimmer in dem haus, in dem auch sein grossvater wohnt.
zu seinem stiefvater hat er kein wirkliches verhältnis und sein
kleiner halbbruder nervt ihn oft. seine jugendliebe eva, wohnt zwei
häuser weiter, wird aber später in ein internat geschickt und er
sieht sie nie wieder. eric wird ein erfolgreicher komponist für
filmmusik. später als ihn seine frau verlässt, nimmt er sich eine
auszeit und geht nach kalifornien. dort erreicht ihn ein
kompositionsauftrag zu einem film, den sein halbbruder finanziert.
erst zögernd lässt er sich darauf ein und wird dadurch mit der
geschichte seiner jugend konfrontiert, mit der er abgeschlossen zu
haben meint.
gekonnt erzeugt der autor mit eher
wenig handlung eine spannung, der man sich beim lesen kaum entziehen
kann. die sozialen verhältnisse sind ebenso anschaulich und
einfühlsam beschrieben, wie erics innere einsamkeit, seine träume
und suche nach identität. die zentrale frage nach dem leiblichen
vater, die immer wieder aufkommt, begleitet ihn bis zum ende des
buches. mit verhaltenem humor sind orte und menschen sehr treffend
dargestellt und ergeben eine mischung aus teenagerleben, ländlicher
idylle und unterschiedlichen sozialen bedingungen, die aus dem roman
ein besonderes zeitzeugnis machen.
06.04.2021
thomas hettche: herzfaden
nach einer vorstellung der augsburger
puppenkiste wagt sich eine neugierige 12-jährige durch eine türe
und gelangt so auf einen dachboden, wo sie auf verschiedene
marionetten trifft. dort ist auch die tochter des gründers dieses
theaters. diese beginnt dessen geschichte zu erzählen: wie alles
während des zweiten weltkrieges begann und wie bombardierungen alles
zerstörten. dank dem engagement einiger menschen glückt ein
neubeginn. für die menschen im nachkriegsdeutschland wird die
puppenkiste eine wichtige institution.
ueber die lebendige erzählweise taucht
man schnell in die geschichte ein. es fasziniert nicht nur der elan
und die zielstrebigkeit, mit der dieses theater gegründet wird,
sondern auch die verbundenheit und begeisterungsfähigkeit der
menschen, die ein solches projekt mit wenig ressourcen und viel
phantasie zustande bringen. sehr zentral und berührend sind die
beschreibungen der lebensumstände während des krieges aus der sicht
eines kindes. so erfährt man aus einer ganz speziellen optik über
widerstand, bombardierungen, verlust und ueberleben an einem ort, an
dem es eigentlich kaum noch etwas gibt und wie wichtig dabei auch das
aufleben eines kulturellen angebotes ist.
02.04.2021
michela murgia: accabadora
maria, das vierte kind einer armen
familie, wird von der alleine lebenden bonaria aufgenommen, wird
quasi zu ihrem adoptivkind. schnell fühlt sich maria geborgen und
wohl im neuen haus und entwickelt sich zu einer fleissigen tochter
und guten schülerin; mit ihrer neuen mutter hat sie ein vertrautes
und gutes verhältnis. bonaria geht hin und wieder nachts aus dem
haus und kehrt dann oft erst gegen den morgen zurück. sie ist eine
accabadora, eine sterbeamme, die es in der tradition sardiniens bis
mitte des 20. jahrhunderts gegeben haben soll: frauen, die den in
agonie liegenden sterbenden die leidenszeit verkürzten. alle im dorf
wissen davon, nur maria nicht. als sie es erfährt, verlässt sie
bonaria und kehrt erst zurück, um sie zu pflegen als diese im
sterben liegt.
subtil erzählt die autorin die
geschichte um dieses schwierige thema einer besonderen art von
sterbehilfe. der gesellschaftliche konsens über etwas, das streng
juristisch nicht sein darf, das aber allen bekannt ist und über das
niemand öffentlich redet, beleuchtet eine ganz spezielle tradition.
die bodenständige handlung kontrastiert den ethischen diskurs auf
eine ganz besondere weise und eröffnet ein ganz besonderes
leseerlebnis.
30.03.2021
robert schneider: schlafes bruder
dies ist ein buch, das seinesgleichen sucht. eine einzigartige, etwas mystische geschichte wird hier erzählt: in einem brutal realen umfeld stehen die bewohner des weilers im dauernden kampf gegen naturgewalten und feuersbrünste. alle sind hier mit allen verwandt, neid und missgunst sind hier ebenso weit verbreitet wie bigotterie und frömmigkeit. die sprache, die ohne antiquiert zu wirken an texte aus jener zeit erinnert, die komplexen satz-, genetiv- und gerundiumskonstruktionen, die die bilder dieses archaisch bäuerlichen lebens entstehen lassen, machen das lesen zu einem ganz besonderen erlebnis und entwickeln einen sog, dem man kaum widerstehen kann.
26.03.2021
benjamin quaderer: für immer die alpen
johannes kaiser kommt nach seinen
zwillingsschwestern zur welt und muss sich als kleiner bruder gegen sie behaupten.
bereits als kind ist er ein wacher kerl mit viel phantasie. als sich
seine eltern trennen, wird er in einem kinderheim untergebracht, wo
er sich nur schwer einordnen kann. schon früh lehnt er sich auf und
geht seine eigenen, von den autoritäten nicht immer gern gesehenen
wege. als jugendlicher wird ihm seine heimat liechtenstein schnell zu
klein, er klaut das moped eines freundes und fährt damit bis nach
spanien, wo er seine karriere als hochstapler beginnt. später zurück
in der heimat arbeitet er bei einer bank, entwendet dort daten über
finanztransaktionen, die er später den deutschen steuerbehörden
verkauft. dies macht ihn zum meistgesuchten staatsfeind.
das grundmotiv des romans ist eine
geschichte, die sich in liechtenstein wirklich ereignet hat. wieviel
wahrheit, wieviel fiktion? diese frage lässt sich nicht genau
beantworten, wird beim lesen aber auch immer weniger wichtig. das
buch lebt stark von seiner witzigen und erfrischenden sprache und der
phantasievoll und hochintelligent geführten handlung. der autor, mit
den lokalen gegebenheiten bestens vertraut, lotet die verhältnisse
dieses kleinen landes, in dem jede jeden kennt und alle irgendwie
miteinander verbandelt sind, bis an seine grenzen aus. faszinierend beleuchtet er die rolle der monarchie und das funktionieren des
finanzplatzes aus einer zeitweise ans sarkastische grenzenden optik.
diese mischung aus geschichtsbuch, krimi und gesellschaftsdrama birgt
spannung und unterhaltung vom besten.
20.03.2021
nadine gordimer: niemand der mit mir geht
das system der apartheid ist offiziell
abgeschafft und südafrika ist im umbruch; das leben wird immer
gefährlicher. hier handelt die geschichte von zwei befreundeten
ehepaaren. vera stark, eine weisse juristin, arbeitet für eine
stiftung, die versucht die umsiedlung der schwarzen bevölkerung zu
verhindern, ihr mann ben ist künstler und bildhauer. sie haben
ein offenes haus, in dem auch schwarze als freunde verkehren. nach
langen jahren trennen sie sich, er zieht nach london, sie bricht mit
ihrer vergangenheit, verkauft ihr haus und geht in die politik.
didymus und sibongile maqoma, freiheitskämpfer des anc, sind nach
jahren aus dem exil zurückgekehrt. während sibongile als frau
eine politische karriere macht, ist es für ihren mann schwierig, nicht
mehr in der ersten reihe zu stehen. er beginnt ein buch über die bewegung zu schreiben, was sich als schwierige aufgabe
herausstellt. ihr öffentliches engagement wird von todesdrohungen
überschattet.
es wird nie ganz klar, was die beiden
paare ausser der gesellschaftspolitischen vision eigentlich
verbindet. ihre lebensgeschichten und ihr handeln dienen eher als
hintergrund für eine exemplarische darstellung der sich verändernden
gesellschaft südafrikas. in einer komplexen und vielgestaltigen
sprache lässt uns die autorin in vielen details die auswirkungen dieses
unsäglichen systems der apartheid erahnen. die genaue kenntnis der
lebensumstände und die faszinierende analyse der vehältnisse in der
dortigen bevölkerung lassen das buch zu einem zeitdokument werden,
das zu lesen keinen moment lang trocken, belehrend oder langweilig
wäre.
12.03.2021
bov bjerg: serpentinen
der vater ist auf der schwäbischen alb
aufgewachsen, heute lebt er in berlin. mit seinem sohn macht er eine
reise in die welt seiner kindheit und trifft dort auf seine
vergangenheit. seine eltern und grosseltern waren kriegsflüchtlinge
aus dem osten und hatten keinen leichten stand. sein vater und sein
grossvater haben sich das leben genommen. er selbst war oft
aussenseiter. der sohn betrachtet diese ihm fremde welt mit den augen
eines kindes und stellt immer wieder fragen, die andere
perspektiven in die geschichte bringen.
hinter einer vagen handlung erscheint
in diesem etwas collageartigen text die begegnung mit der
vergangenheit und mit einem stück deutscher familiengeschichte.
sowohl die auseinandersetzung damit, als auch die von generation zu
generation vererbte depressionskrankheit lässt
sich nicht immer einfach nachvollziehen: bleibt oft irgendwie an der
oberfläche. die stärksten momente für mich waren die
beschreibungen der reaktionen der dorfbewohner auf die flüchtlinge.
09.03.2021
sasha filipenko: rote kreuze
als der junge alexander in minsk eine
neue wohnung mietet, macht er bald bekanntschaft mit seiner über
90-jährigen etwas aufdringlichen nachbarin tatjana. kaum trifft sie
ihn auf der treppe, lädt sie ihn schon in ihre wohnung ein.
eigentlich ist er gerade daran sein leben nach dem tod seiner frau
neu zu organisieren, aber tatjana – getrieben von der drohenden
demenz – hat nicht mehr viel zeit ihr leben zu erzählen. während
der stalin-aera hat sie als uebersetzerin beim geheimdienst
gearbeitet, wo sie vor allem anfragen des roten kreuzes zu bearbeiten
hatte. als ihr mann in kriegsgefangenschaft gerät und sie dies auf
einer liste entdeckt, manipuliert sie deren russische uebersetzung
und meint, damit ihn und sich selbst zu retten, lädt aber die schuld
auf sich, jemand anders zu einem potentiellen verräter gemacht zu
haben. seit damals ist sie auf der suche nach diesem mann.
zwei menschen aus zwei ganz
verschiedenen generationen treffen sich, beide haben ihre nächsten
verloren. aber es ist nicht nur das, was sie verbindet, sondern es
fasziniert ebenso, wie der junge alexander sich immer mehr auf die
geschichte von tatjana einlassen kann und was dies bei ihm auslöst.
dieser text über abhängigkeit und schuld, aber auch über eine
kritische auseinandersetzung mit auswirkungen eines totalitären
systems könnte mit blick auf die ereignisse im heutigen minsk nicht
aktueller sein. trotz oder gerade wegen der hässlichen fratze, die
das system zeigt, tritt eine tiefe menschliche beziehung zu tage und
trotz der schwere der ereignisse bleibt der roman irgendwie leicht
und behält etwas hoffnungsvolles. die dazwischen immer wieder
dokumentierten anfragen des roten kreuzes geben einen zusätzlichen einblick über den umgang des damaligen regimes mit der genfer
konvention.
02.03.2021
nino haratischwili: die katze und der general
nura,
die tochter einer tschetschenischen familie träumt von einem
anderen, modernen leben, fern der traditionen ihrer gesellschaft.
während des krieges in ihrer heimat lässt sie sich auf kleine
illegale geschäfte mit soldaten einer kleinen russischen einheit
ein, um sich diesen traum zu finanzieren. aber sie gerät unter einen
verdacht, der sie letztlich das leben kostet. alexander orlow, der
als junger mann andere pläne hat, muss seine grosse liebe
zurücklassen und wird in diesem krieg teil eben dieser russischen
einheit und damit mittäter und mitschuldiger eines
kriegsverbrechens. zehn jahre später ist er zu einem der reichsten
oligarchen russlands aufgestiegen, aber die damaligen ereignisse um
den tod nuras lassen ihn nicht los. er findet keine ruhe und
entwickelt einen plan, um mit den früheren mitstreitern abzurechnen.
die junge georgische schauspielerin, die er für seinen plan gewinnen
will, weil sie nura so ähnlich sieht, beginnt aber, sich in dem
vorhaben zu verselbständigen.
die
stärke dieses werkes sind nicht nur der faszinierende wechsel
zwischen dem thrillerverdächtigen handlungsverlauf und der akribischen beschreibung und analyse des postsowjetischen lebens, sondern
auch die politischen aussagen und die treffenden
milieubeschreibungen. mit einer atemberaubenden sicherheit beschreibt
die autorin die mechanismen von abhängigkeit und gewalt, von macht
und erpressung, die sich in dieser zeit des wertewandels und der
quasi-abwesenheit des staates breit machen. dabei widmet sie sich
intensiv den gefühlen und moralischen vorstellungen der einzelnen
protagonisten. sprachlich brillant pendelt der text zwischen
grauenvollen ereignissen, humorvoll-sarkastischen szenen und schönen
bildern. dies alles ergibt eine einzigartige geschichte um schuld und
sühne, die einen unweigerlich gefangen nimmt. die anfängliche
schwierigkeit, sich im roman zu orientieren und den zeitsprüngen zu
folgen, verliert sich schnell, denn die sich aufbauende spannung
reisst nicht mehr ab und findet erst in den letzten zeilen ein völlig
unerwartetes ende. ich musste lesen, bis mich die augen schmerzten.
17.02.2021
urs augstburger: schattwand
severin somm macht sich auf nach dem
abgelegenen bergdorf gspona. dort steht ein altes haus, das ihm sein
nachbar vererbt hat. bald erfährt er, dass die schöne lucrezia
darin ein lebenslanges wohnrecht hat. das verhalten der wenig
gesprächigen dorfbewohner ist rätselhaft und als er im haus einen
zugemauerten raum entdeckt ist severins neugier unwiderruflich
geweckt. so beginnt er einer dramatischen geschichte auf die spur zu
kommen, die sich vor einem halben jahrhundert ereignet hat und kommt
dabei auch der sich anfänglich eher feindselig verhaltenden lucrezia
näher.
schnell nimmt der text spannung auf und
man ist mitten im geschehen. die bildreiche sprache, die wunderbar
beschriebenen originale von menschen und die schnellen, manchmal
abrupten szenenwechsel sind höhepunkte, die einen das buch kaum
weglegen lassen, bevor es zu ende gelesen ist. die abschnitte der
aufkommenden erotischen spannung zwischen lucrezia und severin sind
dagegen eher schwach und langweilen beinahe.
14.02.2021
tim krohn: irinas buch der leichtfertigen liebe
ein dichter und verwegener text dessen zwei ebenen immer wieder parallel verlaufen und die orientierung beim lesen nicht einfach machen. viel fiktion, interpretation, emotion und projektion zeigen auf, wie zauberhaft schön, aber auch kompliziert liebesbeziehungen sein können. trotz oder gerade wegen dieser anspruchsvollen anlage vermag die geschichte einen zu fesseln.
06.02.2021
melinda nadj abonji: im schaufenster im frühling
luisa ist ein waches und aufmerksames
mädchen. schon als kind ist sie anders als die anderen. langsam wird
sie älter, kommt in die adoleszenz und wird eine junge frau. der
einfluss ihrer freundin valérie ist nicht unbeachtlich und auch
nicht immer nur gut. luisa lässt sich mit frank ein, für den sie
eher eine art geliebte ist und dann ist da noch ihre nachbarin, eine
ältere dame, zu der sie immer wieder vertrauen hat.
ganz subtil und zart wird hier die
schwierigkeit des andersseins und des erwachsenwerdens beschrieben.
der blick in diese jungmädchenwelt erfolgt durch szenen, die einen
trotz der schnellen wechsel den ueberblick nicht verlieren lassen.
bei aller ernsthaftigkeit des themas und den nicht wenigen
schwierigen momenten hat der text etwas leichtes, beinahe flüchtiges.
01.02.2021
terézia mora: das ungeheuer
das leben von darius kopp, einem bisher
erfolgreichen informatik-experten, nimmt eine dramatische wendung,
als er seine stelle verliert und seine frau flora sich umbringt.
lethargisch, verzweifelt und ohne ziel haust er in seiner wohnung und
die versuche seines freundes juri, ihn wieder zurück ins
arbeitsleben zu bringen scheitern. die urne mit der asche floras und
ihr geheimes tagebuch nimmt er mit und bricht auf zu einer fahrt in
richtung osteuropa. die geschichte entwickelt sich zu einer art
road-movie während darius beim lesen des tagebuchs erfährt, wie
wenig er seine frau kannte.
die beiden texte – darius' geschichte
und floras tagebuch – laufen fortlaufend und getrennt
untereinander über die seiten ohne dass ein direkter bezug
ersichtlich würde. eine nicht einfach zu lesende sprache, die mit
ihren vielen kurzen, oft unvollständigen sätzen, einen besonderen
leserhythmus erzeugt, dominiert die geschichte von darius. das
tagebuch seiner frau setzt sich aus einträgen zusammen, von denen
viele eher unverständlich sind. der ganze roman vermag über weite
strecken keine spannung zu erzeugen. auch habe ich vieles
schlicht nicht verstanden, es begann mich zu langweilen und nach zwei
dritteln der fast 700 seiten habe ich aufgegeben.
23.01.2021
antonio dal masetto: als wärs ein fremdes land
das buch enthält eine schön und ruhig erzählte geschichte. die übersichtliche handlungsführung bringt uns die etwas abenteuerliche reise und das beinahe unwahrscheinliche glück agatas nahe. die alte frau sucht eckpunkte in ihrer erinnerung und erfährt, was verschwunden und was neu entstanden ist. sie beobachtet ohne zu kommentieren und zu werten und trotzdem spürt man ihre gefühle, ihre freuden und ihre enttäuschungen. einzig das offene ende lässt einen etwas ratlos zurück.
17.01.2021
yusuf yeşilöz: der gast aus dem ofenrohr
er kommt als kurdischer flüchtling in
die schweiz, trifft hier als erstes auf einen landsmann, der schon
länger hier lebt und ihn in der nähe der grenze abholt. am nächsten
tag stellt er einen asylantrag und lebt nun mit anderen männern, die
in der gleichen lage sind, in einer entsprechenden unterkunft. sie
reden über ihre heimat, über ihre dörfer und ihr brauchtum, das so
anders ist. seine drei ersten arbeitsversuche sind schon gescheitert.
die geschichte endet, als er auf dem weg zum vierten ist.
mit verhaltenem humor betrachtet der
autor als fremder das leben und die gebräuche hierzulande. wegen der
fremden sprache versteht er zu beginn kaum etwas, was zu
fehleinschätzungen und missverständnissen führt. er beobachtet
auch seine mitbewohner genau und realisiert, wie unterschiedlich sie
mit ihrer neuen situation umgehen. sehr differenziert und ohne zu
werten berichtet er über seinen alltag, sein befinden und seine
wünsche. ein schönes buch, das auf eine ganz besondere art und
weise zur diskussion um flüchtlinge beiträgt.
15.01.2021
urs augstburger: das dorf der nichtschwimmer
das buch ist ein richtiges bergdrama mit allem, was dazugehört: mystik, aberglaube und gefahren in schnee und eis, die einen beim lesen frieren lassen. errungenschaften der moderne treffen hier immer wieder auf traditionelle wertehaltungen. dies fasziniert, wenngleich es manchmal etwas plakativ daherkommt. die etwas utopische und zeitweise phantasievoll unrealistische handlung dramatisiert die geschichte auf eine spannende weise. geschickt wechselt der autor zwischen den zeiten und generationen hin und her, so dass man beim lesen mühelos den ueberblick behält.
08.01.2021
lukas linder: der unvollendete
es ist nicht die etwas spezielle lebensgeschichte von anatol und es ist nicht die handlung, die dieses buch wirklich lesenswert machen. es sind vielmehr der abenteuerliche witz und die einzigartige sprachliche virtuosität, mit der die geschichte geschrieben ist. wunderbar komplexe sätze voll stilistischer und grammatikalischer raffinesse bieten einen beinahe nicht zu übertreffenden lesegenuss.