28.12.2021

roland buti: das leben ist ein wilder garten

nachdem sich ana von carlo getrennt hat und ihre gemeinsame tochter nach london gezogen ist, bleibt ihm vor allem seine arbeit als landschaftsgärtner. seine mutter lebt seit einiger zeit wegen ihrer beginnenden demenz in einem heim. als sie plötzlich von dort verschwindet, beginnt die suche nach ihr. von seinem mitarbeiter agon begleitet, entdeckt er die unerwartete lebensgeschichte seiner mutter in einem ungewohnt feudalen milieu. daneben flackert immer wieder die beziehung zu ana auf, die er nach wie vor liebt.
die wie etwas in watte gepackte, liebevolle geschichte lässt vor allem die gedanken- und gefühlswelt des sensiblen hauptprotagonisten erfahren. trotz vieler verschiedener handlungsstränge bleibt alles übersichtlich. die realistische beschreibung der demenz der mutter beeindurckt genau so wie das nebeneinander unterschiedlicher sozialer gefüge, wie sie in der heutigen schweiz realität sind. nicht alle probleme lösen sich, nicht auf alle fragen gibt es eine antwort, was den wunsch nach einer fortsetzung aufkommen lässt.

26.12.2021

josef oberhollenzer: sültzrather

als vitus sülzrather, der einzige sohn des kalberhofbauern, bei der arbeit von einem gerüst stürzt und eine querschnittlähmung erleidet, ändert sich sein leben; auch das familiengefüge kommt durcheinander. vitus wird dichter, schreibt extrem viel. immer seltener lässt er jemanden in seine schreibkammer, die sich mehr und mehr mit papier füllt. sültzrather verschliesst sich zunehmend der umwelt, überlässt sich seinen erinnerungen und träumen. später beginnt er all seine werke wieder zu vernichten, indem er die schrift vom papier kratzt. selbst seine zugehfrau, notburga t., und ihre schöne tochter finden kaum noch zugang zu ihm: damit versiegen auch die neuigkeiten, die ins dorf getragen werden.
so real die handlung vordergründig daher kommt, so fiktiv ist sie. der roman hat das erscheinungsbild einer wissenschaftlichen arbeit mit über mehr als 200 fussnoten, die teils auf tatsachen beruhen, teils einfach frei erfunden sind. damit wird die art solcher publikationen auf eine verhaltene weise karikiert. der virtuose umgang mit der sprache macht das lesen – trotz der fülle von abenteuerlichen schachtelsätzen, die ihren ganz besonderen reiz haben – zu einem richtigen ereignis. es ist ein anspruchsvolles und ganz spezielles buch, dass einem nicht nur einiges abfordert, sondern einen auch belohnt.

22.12.2021

germano almeida: der treue verstorbene

als der berühmte schriftsteller lopes macieira bei einer lesung vor versammeltem publikum von edmundo, seinem besten freund, aus nächster nähe erschossen wird, wird schnell über die hintergründe dieser tat spekuliert. den meisten scheint eifersucht das naheliegendste motiv. lopes macierias frau mariza war schon lange in die vereinigten staaten weggezogen. matilde, edmundos frau, verkehrte regelmässig im haus des schriftstellers, was den leuten in der stadt natürlich nicht entging und zu klatsch und gerede führte. seinem status als wichtigster vertreter der literatur des landes entsprechend wird sein leichnam öffentlich aufgebahrt. politiker setzen sich mit der anordnung eines staatsbegräbnisses in szene. doch da kehrt seine ehefrau mariza zurück und findet ein testament, das eine ganz andere art der bestattung vorsieht.
was wie ein krimi beginnt entwickelt sich schnell zu einem beziehungsdrama und einem gesell­schaftsroman. nicht nur die komplizierten verhältnisse der beiden ehepaare, sondern auch das funktionieren des kleinstädtischen milieus in dieser abgeschlossenen inselgesellschaft könnten treffender und spannender nicht beschrieben werden. mit witz und auch etwas sarkasmus wird am beispiel des verhaltens einzelner beteiligten überdeutlich veranschaulicht, wie es überall immer wieder die gleichen menschlichen verhaltensmuster gibt.

18.12.2021

iris wolff: die unschärfe der welt

in einem pfarrhaus im banat beginnt die geschichte von hannes und florentine. ihr leben ist nicht einfach, im rumänien der 1980er-jahre. samuel ist ihr einziger sohn, dessen leben der roman folgt. er beginnt spät zu sprechen und bleibt ein in sich gekehrter, beobachtender junge, der sich kaum mit anderen kindern anfreundet. viel lieber ist er bei seiner grossmutter, die den alten zeiten nachhängt. oz ist sein einziger guter freund, für den alles zu tun er immer bereit ist. so nimmt er eines tages ein nicht absehbares risiko auf sich, das sein weiteres leben bestimmen wird. nach einem langen aufenthalt in deutschland, kehrt samuel zurück zu seinen eltern. auch in seiner heimat hat sich einiges verändert und es wartet eine ueberraschung auf ihn.
in einer reichen sprache führt die autorin durch sieben kapitel, die sieben ereignissen, orten und personen gewidmet sind. vor dem hintergrund der grossen umwälzungen in osteuropa treffen die schicksale von sehr verschiedenen menschen und deren wertehaltungen aufeinander. auch wenn alles irgendwie zusammenhängt, fügt es sich erst am schluss zu einer stimmigen geschichte. wie der titel schon verheisst, ist vieles mit einer gewissen unschärfe erzählt, trotzdem entsteht ein klares bild. der sicher auch autobiografisch beeinflusste roman ist ein wunderbares lesestück. schlicht ein wunderbares buch, dem vielleicht nur ein kleines rumänisch-deutsches glossar fehlt.

11.12.2021

tabea steiner: balg

antonia zieht mit ihrem mann chris zurück aufs land in ihr heimatdorf. ihr erst vor kurzem geborener sohn timon stellt sie schon früh vor viele herausforderungen und lässt letztlich ihre beziehung scheitern. chris zieht zurück in die stadt, antonia bleibt als alleinerziehende mutter zurück. bald gerät sie in wirtschaftliche schwierigkeiten und muss eine schlecht bezahlte arbeit annehmen. so vernachlässigt sie ihren sohn zunehmend. timon beginnt früh aufzufallen, schlägt andere kinder in der schule und lässt sich immer weniger sagen. einzig zu valentin, einem alten mann im dorf, der früher lehrer war und nun die post austrägt, findet timon etwas vertrauen. aber das wird nicht gern gesehen und gibt zu reden, denn um valentin ranken sich gerüchte, weshalb er den schuldienst damals verlassen hat.
in einem einfachen, klaren und virtuosen bericht führt die autorin die beiden hauptgeschichten nur beobachtend und nicht wertend zusammen. timon, der immer wieder schwierigkeiten macht und seine überforderte mutter werden mit ihrer prekären situation genau so überzeugend dargestellt, wie die ausgrenzung von valentin. erst spät erfährt man mehr über die früheren ereignisse, was dem roman eine gewisse spannung verleiht. der prägnante text kommt wie aus einem guss daher, braucht weder kapiteleinteilungen noch andere strukturen und bleibt trotz der vielen und schnellen perspektivenwechsel gut lesbar. auch wenn sich nicht alle probleme lösen und das gestern immer wieder einen einfluss auf das heute hat, endet das buch offen auf eine versöhnliche art. am ende bleibt das wissen um die vielen kinder, die einfach schlechte startbedingungen haben, und die hoffnung, dass sie auf jemanden treffen, dem sie vertrauen können.

07.12.2021

carlos ruiz zafón: marina

den internatsschüler óscar zieht es abends immer wieder hinaus in die faszinierende stadt barcelona. die alten quartiere durchstreifend lernt er marina kennen, die mit ihrem kranken vater in einer zerfallenden villa lebt. marina ist von einer schwarz gekleideten dame fasziniert, die immer wieder auftaucht und ihren weg kreuzt. gemeinsam verfolgen die beiden jungen leute deren spur und entdecken abenteuerliche geheimnisse um den einst reichsten mann der stadt. dieser michail kolwenik, einst als mittelloser reisender in die stadt gekommen, verdankt den reichtum seiner ausserordentlichen fähigkeit, prothesen jeder art für versehrte menschen zu bauen. im sog dieser geschichte geraten sie in lebensgefahr und erfahren unfassbare dinge über eine grandiose liebe.
der etwas unheimliche und phantasievolle roman, der mich extrem gefesselt hat, erinnert etwas an frankenstein. gruselig und immer irgendwo zwischen den lebenden und dem reich der toten bleibt alles trotzdem realistisch und liest sich mit ein wenig gänsehaut spannend bis zum ende. der autor schafft es vielfarbig und emotionsreich ein bild der stimmung des alten barcelona zu schaffen, was fast zwingend die lust auf eine reise dahin wecken kann. das schicksal und die charaktere der einzelnen menschen berühren einen stark und die handlung ist trotz der komplexität und mystik irgendwie real und recht gut überblickbar.

25.11.2021

ismail kadare: die brücke mit den drei bögen

im 14. jahrhundert betrachten die verschiedenen herrscher auf dem balkan das osmanische reich bereits als eine bedrohung. die kunde vom plan eines brückenbaus über einen grenzfluss weckt nicht nur aengste vor den türken. auch sind viele der ueberzeugung, dem wasser so etwas nicht antun zu dürfen, weil sonst die bösen wassergeister dieses bauwerk wieder zum einsturz bringen könnten. doch der meister und seine arbeiter beginnen unverzagt mit der arbeit. geschickt nutzen sie den winterlichen, niedrigen wasserstand um die pfeiler zu setzen und spannen danach die bögen darüber. die bewohner der gegend verfolgen den bau kritisch, die fährleute fürchten die konkurrenz und immer wieder gibt es nächtliche sabotageakte. nach der fertigstellung will vorerst niemand darüber gehen. bald aber setzt zunächst zögerlich der verkehr ein.
von einem mönch erzählt, der als chronist agiert, wird man in eine von mythen und aberglauben geprägte gesellschaft entführt, die jeder veränderung, jedem aufbruch kritisch begegnet. detailliert und präzis berichtet er über diese längst vergangene welt, die zwischen technischem fortschritt und abergläubischer rückständigkeit steht. die damaligen machtansprüche einzelner herrscher und die drohenden religiösen einflüsse betrachtend, lassen diese geschichte als parabel auf die heutige zeit verstehen.

22.11.2021

eva menasse: dunkelblum

einst mitten in der donaumonarchie, heute hart an der österreichisch-ungarischen grenze, liegt dunkelblum, der ort der handlung. seit dem zweiten weltkrieg am rande westeuropas und etwas verschlafen, ändert sich kaum noch etwas für die hier ansässigen, die beinahe alles voneinander wissen, aber über vieles schweigen. doch die erinnerungen an die nazi-zeit und ein furchtbares verbrechen lassen sich nicht mehr verdrängen, als plötzlich ein fremder auftaucht, man auf einem feld ein unbekanntes skelett ausgräbt und ein junges mädchen verschwindet. die ankunft und beherbergung einer grösseren gruppe von ddr-flüchtlingen bringt unerwartet alte und neue machtverhältnisse an den tag.
mit angemessenem humor und einzigartigen bildern führt uns die autorin durch das biotop einer komplexen dörflichen schicksalsgemeinschaft. menschliche schwächen und unerfüllte wünsche begleiten das leben im ort ebenso, wie all die geheimen vermutungen und unausgesprochenen verdächtigungen. treffende schilderungen der einzelnen personen und deren handeln führen einen ganz nahe an diese menschen heran. sprachlich genial und präzis wird hier jeder stimmung und jedem gefühl rechnung getragen. in diesem roman öffnet sich exemplarisch ein geschichtspanorama, das eine kaum zu glaubende realität beschreibt. spannend von der ersten bis zur letzten seite ist es eines dieser bücher, von denen man hofft, es blieben immer noch ein paar kapitel zu lesen.

15.11.2021

ocean vuong: auf erden sind wir kurz grandios

als zweijähriger kommt der autor mit seiner mutter und seiner grossmutter aus vietnam in die usa. die beiden frauen haben den vietnamkrieg erlebt. er, der sohn einer vietnamesin und eines amerikanischen soldaten, wird als kind wegen seines aussehens diskriminiert. das leben mit seiner von den kriegserlebnissen geprägten und geschundenen familie ist nicht einfach, aber eine innige liebe verbindet mutter und sohn. als er sich als jugendlicher in trevor verliebt, verändert sich vieles in seinem leben. die liebe der beiden jungen ist heftig, wild und versteckt. mit dem frühen tod trevors findet sie ein tragisches ende. ocean vuong steht zwischen zwei kulturen und muss sich entscheiden, wohin er gehört.
das buch ist angelegt als brief an seine mutter, im wissen darum, dass sie ihn nie lesen wird können: seine mutter ist analphabetin. mit seinem pendeln zwischen prosa und kurzen eher lyrischen einlagen vermittelt der autor ein eindrückliches bild dieser in amerika gestrandeten menschen. auch zeichnet er ein bild vom umgang der amerikanischen gesellschaft mit dem verlorenen krieg und seinen demografischen nachwirkungen. so vielschichtig und kompliziert diese autobiografische geschichte ist, so klar und einfach wird sie erzählt.

10.11.2021

olga grjasnowa: der verlorene sohn

während des kaukasuskrieges im 19. jahrhundert muss der einflussreiche herrscher schamil seinen ältesten sohn jamalludin als pfand für die friedensverhandlungen dem zaren ausliefern. als neunjähriger kommt er also nach st. petersburg und wird in der feudalgesellschaft des alten russlands gross. seine herkunft und familie geraten für ihn immer mehr in vergessenheit. er findet freude am leben und den möglichkeiten in russland, was ihn aber seiner herkunft entfremdet. die karriere in der armee des zaren führt ihn letztlich wieder zurück in die alte, von russland beanspruchte heimat. seine familie hat sich verändert, er findet sich nur schlecht wieder ein und die frage, welches leben er führen will und wem seine loyalität gehört, belastet ihn immer mehr, aber er findet keine antwort.
diese lebensgeschichte eines jungen mannes ist gleichzeitig auch etwas geschichtsunterricht und lässt uns die heutigen konflikte im kaukasus besser verstehen. eindrücklich ist die schilderung, wie die menschen in den herrschaftsverhältnissen gefangen sind und wie sehr sich das gesellschaftliche leben russlands von dem von ihm beanspruchten gebieten in dagestan und tschetschenien unterscheidet. faszinierend ist auch die beschreibung der rolle der frau, die sich in diesen beiden so verschiedenen kulturen kaum unterscheidet. diese stimmige geschichte hat manchmal etwas unmittelbare brüche, bleibt aber bis zum schluss spannend und bereichernd.


03.11.2021

jean-philippe blondel: ein winter in paris

der in einfachen verhältnissen aufgewachsene victor kommt aus der provinz zum studium nach paris. seine mitstudenten und mitstudentinnen stammen alle aus einflussreichen und begüterten familien. er ist ein aussenseiter, fühlt sich alleine und nicht wahrgenommen. nur mit mathieu, der in einer anderen klasse ist und auch von auswärts kommt, raucht und redet er hin und wieder in den pausen. als mathieu sich das leben nimmt, gilt victor plötzlich als dessen einziger freund und gerät ins zentrum des interesses der anderen. der vater des toten sucht das gespräch mit victor, um mehr über seinen sohn zu erfahren. zwischen den beiden entwickelt sich eine art vater-sohn-beziehung.
dieser subtil geschriebene roman gibt einen einblick in die verhältnisse einer französischen eliteschule und zeigt, wie schwierig der soziale aufstieg für junge menschen ist, die nicht bereits ein entsprechendes elternhaus haben. der offizielle umgang mit dem suizid durch die lehrerinnen und lehrer kontrastiert stark mit den gefühlen und emotionen victors und der hilflosen trauer des vaters von mathieu. trotz der ganzen tragik eine schöne und stille geschichte, die sich einer speziellen realität stellt und wunderbar zu lesen ist.

25.10.2021

ta-nehisi coates: der wasserträger

hiram walker ist ein versklavter junger mann mit ganz besonderen begabungen. sein vater ist der weisse besitzer einer langsam untergehenden tabakplantage in virginia, seine mutter hat er nicht gekannt, sie wurde als sklavin weiterverkauft. die wirtschaftlich schwierigen zeiten bekommen vor allem auch die rechtlosen menschen, die besitz der gutsherren sind, zu spüren. hiram ist auf der suche nach seinen verlorenen erinnerungen und flüchtet mithilfe eines netzwerkes, das sklaven zur flucht verhilft, in die nordstaaten, wo er zum ersten mal seinesgleichen als freie menschen sieht. aber nicht nur das heimweh treibt ihn zurück, sondern auch die liebe zu sophia, einer frau, die im süden zurückgeblieben ist. die ganze handlung bildet den vordergrund zur geschichte des langen freiheitskampfes in den südstaaten amerikas.
eine unvorstellbare sozialgeschichte tut sich beim lesen auf. mit einer ausgesprochenen differenziertheit integriert der autor all die ungerechtigkeiten der damaligen verhältnisse. mit kraftvollen bildern und teilweise spannenden handlungsverläufen weiss er sicher viele lesende zu fesseln. die mystischen passagen waren für mich etwas schwer verständlich, liessen sich aber ins gesamtwerk einordnen. ein informativer roman über die damaligen verhältnisse in den südstaaten, der auch eine art geschichtsbuch sein kann. sprachlich meint man das amerikanische englisch in der deutschen uebersetzung zu spüren.

14.10.2021

per petterson: männer in meiner lage

arvid ist geschieden. seine frau hat ihn verlassen und lebt mit den drei töchtern zusammen. arvids leben ist seither nicht mehr das gleiche wie vorher. er ist allein und einsam, sucht nach dem sinn des lebens, geht abends aus und betrinkt sich ab und zu. er lernt andere frauen kennen, lässt sich mit ihnen ein, aber keine dieser beziehungen will glücken. seine drei töchter kommen jedes zweite wochenende zu besuch, so wie dies in der scheidungsverhandlung geregelt worden ist. aber eines tages erklären sie ihm, dass sie ihn noch ein letztes mal treffen wollen, dann nicht mehr.
ohne eine durchgehende handlung fasziniert dieses buch mit einer traurigen und leidvollen geschichte ohne wirkliche perspektive. nicht spannend und trotzdem fesselnd versteht der autor die gefühlslage des ich-erzählers einzufangen und liefert damit einen beitrag zu einem thema, das zu selten literarisch verarbeitet wird.

01.10.2021

alem grabovac: das achte kind

alem wird in würzburg in eine gastarbeiterfamilie geboren. die mutter arbeitet ein volles pensum und weil sie den sohn ihrem mann – einem kleinkriminellen und gewalttätigen alkoholiker – nicht unbeaufsichtigt überlassen will, gibt sie ihn in eine pflegefamilie. der vater verschwindet endgültig und landet letztlich in jugoslawien im gefängnis. die mutter lernt den ebenso gewalttätigen dušan kennen, mit dem sie fortan zusammenlebt. so bleibt alem ganz bei seinen pflegeeltern, die ihn, neben ihren eigenen sieben kindern wie einen eigenen sohn grossziehen. als er älter wird, realisiert er, dass sein pflegevater ein geschichtsleugnender nazi ist; irgendwann kommt es zum bruch mit ihm. alem entdeckt das lesen und beginnt sich in seine eigene welt der bücher zurückzuziehen. viel später, als erwachsener, macht er sich auf die suche nach der geschichte seines leiblichen vaters und dessen familie.
ohne zorn und ohne wertung berichtet der autor in diesem buch über seine kindheit und jugend. in drei teilen widmet er sich dem leben seiner mutter, dem seines vaters und seinem eigenen in der pflegefamilie. geschickt gelingt es ihm so, die menschen und milieus zu kontrastieren und zu beschreiben wie seine jugend zwischen diesen beiden welten verläuft, die unterschiedlicher nicht sein könnten. der alltag der mutter, der von armut, gewalt und abhängigkeit dominiert wird und das leben der wohlhabenden pflegeeltern, die sich mit viel liebe und sorgfalt um alem kümmern, aber andere leichen im keller haben. früh schon beginnt er sich um seine mutter sorgen zu machen, trotz der vielen trennungen bleibt seine liebe zu ihr und seinen grosseltern unverändert stark. dieser versöhnliche bericht über eine schwierige jugend mit vielen schrecklichen momenten lässt einen staunen, was ein kind aushalten kann und macht irgendwie auch hoffnung.

27.09.2021

madeleine bourdouxhe: auf der suche nach marie

marie und ihr mann jean sind glücklich verheiratet und verbringen die ferien am meer. auf einem strandspaziergang, den sie alleine macht, sieht sie einen jungen mann, von dem sie fasziniert ist. die beiden treffen sich, eine erotische affäre beginnt. die ferien sind zu ende, marie und jean kehren zurück nach paris. als jean beruflich drei tage wegfährt, trifft sich marie wieder mit dem anderen mann. aber sie bleibt bei jean und als er wegen seiner arbeit von paris wegziehen muss, folgt sie ihm. doch auch dann trifft sie sich noch ein weiteres mal mit dem liebhaber.
sehr genau beschreibt die autorin diesen widerspruch in marie, wie sie schwankt zwischen entschlossener treue und der zerrissenheit, die die erotischen gefühle für diesen anderen mann auslösen. ein emotional ergreifendes buch, das gefühlen nachgeht, die manche kennen. die weitgehend klar strukturierte sprache mit vielen kurzen sätzen führt zu einem speziellen leserhythmus und macht die geschichte so eindringlich und unmittelbar. die autorin hält sich mit nichts unnötigem auf. der text zeigt für seine zeit – in den 1930er-jahren geschrieben – ein überraschend modernes sittenbild. obschon es im wesentlichen die geschichte einer jungen frau ist, dürfte es auch für männer spannend zu lesen sein.


25.09.2021

pierre lemaitre: die farben des feuers

nach dem tod ihres vaters steht madeleine péricourt plötzlich alleine an der spitze der privatbank, von deren tätigkeit sie nichts versteht. der langjährige prokurist und vertraute mitarbeiter ihres vaters führt die geschäfte so, dass sie ihr vermögen weitgehend verliert und er in den besitz des bankhauses kommt. madeleine, die nun mit ihrem sohn beinahe verarmt und in den stand des kleinbürgertums absteigt, lässt sich dies aber nicht gefallen und plant einen rachefeldzug, der ein beachtliches ausmass annimmt. mit wenig legalen mitteln und unzimperlich holt sie sich – vor allem auch im interesse ihres sohnes – zurück, was ihr einst gehörte.
die menschen in diesem fulminanten roman schenken sich nichts, da geht es – zeitweise auch handgreiflich und brutal – wirklich zur sache: mit hinterlist und gewalt verfolgen alle ihre eigenen interessen. parallel dazu bilden emotionale und sensible momente ein gegengewicht. das gesell­schaftliche umfeld in der zeit kurz vor dem zweiten weltkrieg, in der die rolle der frau noch eine ganz andere war, bildet die kulisse zu dieser etwas abgründigen geschichte, die manchmal auch ein wenig dick aufgetragen daherkommt. spannend und virtuos geschrieben hält einen das buch bis zur letzten seite im bann.

17.09.2021

tomás gonzález: das spröde licht

david und sara sind mit ihren drei söhnen eine glückliche familie. als der älteste sohn jacobo bei einem verkehrsunfall schwer verletzt wird, ist nichts mehr wie vorher. von der brustwirbelsäule an abwärts ist er gelähmt. wegen seiner unerträglichen schmerzen, die es zu lindern nicht gelingt, entscheidet er sich seinem leben ein ende zu setzen. dafür muss er von new york nach oregon reisen. sein bruder begleitet ihn. in der letzten nacht vor seinem tod ist die familie zuhause versammelt und ist hin und her gerissen zwischen seinem entscheid und der hoffnung, er würde es doch nicht tun. dies alles erzählt david jahre später, als er wieder in seiner heimat kolumbien lebt, aus seiner erinnerung.
der geplante abschied löst andere emotionen aus als ein natürlicher tod. alle sind – auch wenn sie einander beistehen – letztlich allein mit ihren eigenen gefühlen. in einer klaren und unsentimentalen sprache erfahren wir von hoffnung und verzweiflung dieser menschen. das buch ist ein ganz spezieller beitrag zur diskussion um die sterbehilfe, weil es vor allem die angehörigen, die betroffenen familienmitglieder, ins zentrum stellt. es wird noch lange in mir nachhallen.

13.09.2021

michael köhlmeier: das mädchen mit dem fingerhut

das kleine mädchen, das alleine zwischen den leuten auf dem markt unterwegs ist, wird zunächst nicht beachtet. man gibt dem kind zu essen und zu trinken. von der sprache versteht es nichts, aber als das wort polizei fällt, beginnt es zu schreien und ergreift die flucht. später trifft es auf zwei jungen, die ebenso mittellos auf der strasse leben und schliesst sich ihnen an. gemeinsam versuchen sie zu überleben. als das mädchen erkrankt, wird es von einer älteren dame in ihr haus aufgenommen, gesundgepflegt und in der folge auch opfer ihrer machtausübung. eine gewalttätige befreiung aus dieser situation lässt die geschichte eskalieren und findet ein offenes – kein glückliches – ende.
ein buch, das all den kindern ein denkmal setzt, die unbegleitet auf der flucht in einem ihnen fremden land ankommen, wo niemand auf sie wartet. meisterhaft beschreibt der autor in einer klaren sprache nicht nur die kraft und den ueberlebenswillen der kinder, sondern auch die ambivalenz unserer gesellschaft zwischen mitleid, hilfe und macht. die stärke dieses textes ist dessen konzentriertheit und beschränkung aufs wesentliche. damit wird er so eindringlich.


10.09.2021

vladimir zarev: familienbrand

die geschichte beginnt vor dem 1. weltkrieg mit dem tod von assen weltschev, der seine frau petruniza mit vier sehr unterschiedlichen söhnen und einer tochter zurücklässt: jordan fällt im krieg, pento macht karriere als banker, christo begeistert sich für den sozialismus und ilija wird fabrikbesitzer. jonka, die tochter, legt karten und weiss in die zukunft zu sehen. die familie lebt in einer kleinstadt am unterlauf der donau. die wirtschaftskrise, die politischen veränderungen und der 2. weltkrieg bringen die familienmitglieder und deren nachkommen teilweise gegeneinander auf und doch sind und bleiben sie miteinander verbunden. mit dem einmarsch der roten armee verändert sich noch einmal alles.
das weitläufige familienepos vor dem hintergrund der geschichte bulgariens vermittelt viel über die lebensumstände in dieser ländlichen gegend. geburt und tod, armut und reichtum, macht und unterdrückung sind die zentralen themen. nicht einfach zu lesen, weil nicht nur sehr viele personen auftreten, sondern auch, weil es an einer dichten handlung und somit zeitweise auch an spannung fehlt. ueber beinahe 800 seiten dran zu bleiben und den ueberblick nicht zu verlieren, ist eine echte herausforderung. die reiche sprache und die teilweise unerwarteten beschreibungen von details, wie auch der karg vorkommende, spezielle humor, lohnen die lektüre gleichwohl.


22.08.2021

germano almeida: das testament des herrn napumoceno

nach dem tod von herrn napumoceno, einem angesehenen handelskaufmann, birgt die testa­mentseröffnung etliche ueberraschungen. sein neffe carlos, der sich schon als haupterbe wähnt, wird arg enttäuscht, denn die nachkommen erfahren erst jetzt von der existenz einer unehelichen tochter, der als haupterbin beinahe der gesamte nachlass zufällt. das testament selbst ist ein viele seiten umfassender lebensbericht, der etliche unvermutete geheimnisse aus dem leben des honorigen verstorbenen offenlegt und auch einige rätsel aufgibt.
der roman entführt uns in den alltag der handelsleute auf den kapverdischen inseln. unerwartet unterhaltsam entwickelt sich hier der blick auf das spezielle und bisher nicht vermutete leben dieses mannes. ohne grosse trauer und ohne zu moralisieren, führt uns der autor durch diese lebensgeschichte. die gelungene uebersetzung schafft es durch die sprachliche komplexität die art des portugiesischen erzählens zu bewahren. schön und vergnüglich zu lesen, versetzt es einen in diese andere welt weit draussen im atlantik.


18.08.2021

zora del buono: die marschallin

1919 lernt die slowenin zora den sizilianer pietro kennen, die beiden heiraten, obwohl dies nicht gern gesehen wird, ist doch slowenien in der zeit gerade durch italien besetzt. sie ziehen nach bari, er wird ein renommierter arzt und radiologe, sie führt mit starker hand einen grossen haushalt mit gesellschaftlichen verpflichtungen. ihre dominante aber auch berechnende persönlichkeit trägt ihr bald den uebernamen «marschallin» ein. als überzeugte kommunisten ziehen sie in der schwierigen zeit des faschismus und des zweiten weltkrieges ihre drei söhne gross und schaffen es trotz ihrer politischen einstellung weitgehend unangetastet zu bleiben. die nachkriegszeit bringt neue schwierigkeiten und zora ist indirekt an einem verbrechen beteiligt, was den verlauf ihres weiteren lebens mitbestimmt. als alte frau blickt sie zurück und sieht sich durchaus auch selbstkritisch.
schon allein von der lebensgeschichte dieser frau geht eine einzigartige faszination aus. in einer übersichtlichen handlungsführung gelingt es der autorin ihrer eigenen grossmutter ein denkmal zu setzen, das gleichzeitig auch ein stück geschichtsunterricht ist. eine farbige erzählweise lässt einen eintauchen ins leben dieser grossfamilie und ein vorangestelltes personenregister hilft den ueberblick zu behalten. die hauptprotagonistin steht sehr im zentrum, was den vielen anderen interessanten personen eher nebenrollen zuweist. gerne hätte ich mehr über sie und deren leben erfahren. das lesen des buches wurde zu einem spannenden erlebnis für mich.


14.08.2021

charlotte wood: ein wochenende

jude, wendy und adele treffen sich im strandhaus ihrer verstorbenen freundin sylvie. ueber jahre verbrachten sie ein solches jährliches wochenende zu viert, jetzt geht es darum, das haus zu räumen. ein emotionales treffen der drei frauen, die seit jahrzehnten befreundet sind, die alle ihre mühe mit dem altern haben und jede ihre eigene, schwierige lebensgeschichte mitbringt. während der gemeinsamen arbeit treten wahrheiten zu tage, über die bisher zu sprechen tunlichst vermieden wurde. die so unterschiedlichen charaktere lassen einen wundern, wie sie freundinnen sein können. neid, eifersucht, bewunderung, liebe und hass prägen die wechselnden allianzen der drei. als sich gegen schluss vieles zuspitzt und alle irgendwie zu verliererinnen werden, stärkt dies ihre gegenseitigen beziehungen und irgendwie versöhnen sie sich auch mit dem altwerden.
schnell steht man beim lesen mitten im geschehen, als gehörte man selbst dazu. die sehr detaillierte schilderung des kampfes der protagonistinnen gegen ihren körperlichen zerfall hat manchmal etwas beinahe bösartiges. auch ist die geschichte teilweise etwas dick aufgetragen und hat etwas abgründig skurriles. alles in allem ein leicht zu lesender, amüsanter roman, dem es trotz allem an tiefgründigkeit nicht fehlt und der einen offenen und hoffnungsvollen schluss findet.

09.08.2021

matthias nawrat: wir zwei allein

nach der aufgabe des studiums arbeitet der erzähler als fahrer für gemüselieferungen, eine ruhige und zufriedenstellende arbeit für ihn. dann lernt er theres kennen und verliebt sich. sie ist eine künstlerisch tätige frau mit einer schwer fassbaren persönlichkeit, macht einen manisch-depressiven eindruck und scheint ein unruhiges leben zu führen. nachdem sie sich anfänglich auf eine beziehung einlässt, verschwindet sie plötzlich, um nach ein paar tagen wieder aufzutauchen. sie schmiedet pläne, die sie kurz darauf wieder ändert oder fallen lässt. dies alles sieht er ihr nach und hält er aus. sie mieten ein altes haus auf dem land an. er ist voll von hoffnung und plänen, die sich kaum erfüllen lassen und an ihrem unsteten wesen scheitern. und trotzdem bleibt er bei ihr.
sehr nahe am geschehen wird hier eine beziehungsgeschichte erzählt, von der nie ganz klar wird, ob sie einseitig oder gegenseitig ist. zweifel werden ausgeblendet, schöne momente verklärt und trotzdem erkennt man die gefährliche abhängigkeit. einzigartig treffend sind sehnsüchte und gefühlslagen des mannes und das herausfordernde handeln und reagieren der frau beschrieben, was irgendwie ein ungutes gefühl zurücklässt. der roman macht in seiner dichte und nähe einen autobiografischen eindruck, auch wenn dies nicht so erwähnt wird. ich hoffe, der autor musste dies nicht wirklich selbst erleben.

03.08.2021

odd klippenvåg: ein liebenswerter mensch

als schüler war kjerand heimlich in birger verliebt. nach der grundschule trennen sich ihre wege und sie verlieren sich aus den augen. kjerand bleibt im dorf und übernimmt den hof seiner eltern, arrangiert sich mit dem leben und verheimlicht seine homosexualität. dies ändert sich, als er mit sechzig jahren mit einer krebsdiagnose konfrontiert wird und nach oslo zur strahlentherapie fahren muss. bei der gelegenheit sucht er birger auf, der dort eine kunstgalerie besitzt. birgers leben ist völlig anders verlaufen. er ist ein weltoffener und erfolgreicher mann, der einige weder einfache noch dauerhafte beziehungen zu anderen männern hatte. nach anfänglichem zögern lädt birger kjerand ein, während der therapiezeit bei ihm zu wohnen. langsam kommen sich die beiden männer näher. eine schöne, ruhige und bereichernde beziehung beginnt zwischen den beiden zu wachsen.
die schnörkellose erzählweise steht im starken kontrast zu dem was der inhalt des romans vermittelt. die tiefe und ruhige liebe zwischen zwei nicht mehr jungen menschen, die frei von hektik und leistung, voll von zärtlicher zuwendung und gegenseitiger sorge ist, wirkt nie kitschig oder oberflächlich, sondern hat etwas liebenswertes und stilles, das beim lesen stark fasziniert. die auseinandersetzung mit dem völlig anderen leben des gegenübers bringt in diesem letzten lebensabschnitt nicht nur die auseinandersetzung mit neuem, sondern auch aufbruch und hoffnung. das buch ist mir so nahe gegangen, dass ich es gleich ein zweites mal gelesen habe.

25.07.2021

nino haratischwili: mein sanfter zwilling

ivo und stella werden – ohne blutsverwandt zu sein – wie bruder und schwester in der gleichen familie gross. früh in ihrer kindheit entwickeln sie eine leidenschaftliche liebe zueinander; sie können nicht ohne einander sein. inzwischen sind sie mitte dreissig, stella ist verheiratet mit mark und hat einen sohn. als ivo nach sieben jahren abwesenheit zurückkommt, bringt dies stellas wohlgeordnetes leben durcheinander. eine schuld aus frühen kindertagen lastet auf den beiden. sie gehen den damaligen ereignissen nach. schritt für schritt kommen sie einer komplizierten familiengeschichte auf die spur.
die liebe zweier geschwister, die des inzests verdächtigt werden, und die schwierigen beziehungsverhältnisse in einer patch-work-familie sind die zentralen themen des romans. die komplexe handlungsführung mit zeitsprüngen ist manchmal etwas unübersichtlich, was die gefahr birgt, dass man beim lesen die orientierung verlieren kann. der unterschied der beiden hauptprotagonisten lässt ein beinahe ungerechtes gefälle und eine einseitige abhängigkeit durchscheinen. auch wenn das buch nicht durchgehend spannend ist, enthält es eine geniale geschichte.

18.07.2021

yael inokai: mahlstrom

an der beerdigung von barbara, die sich als junge frau das leben genommen hat, sind auch alle versammelt, die gemeinsam mit ihr zur schule gegangen sind, nur yann fehlt. seine abwesenheit wirft das licht auf eine unschöne vergangenheit. yann, der ein zugezogener war und immer ein aussenseiter blieb, wurde damals das opfer: er musste unter mobbing und gewalt leiden. auch adam, der eigentlich in yann verliebt war, wurde zum täter. alle daran beteiligten beginnen sich mehr oder weniger freiwillig ihren taten zu stellen. aus der perspektive der einzelnen werden kapitel für kapitel diese ereignisse aufgerollt.
ganz unauffällig und ruhig fängt der roman mit dieser trauerfeier an und erzählt dann immer stärker und eindringlicher diese dorfjugendgeschichte, die in ein offenes ende mündet. in einer schönen und reichen sprache berichtet die autorin über ein phänomen, das sich an vielen orten immer wieder ereignet, über das wenig gesprochen wird, und setzt damit den unbeachteten opfern ein denkmal.

14.07.2021

ayelet gundar-goshen: lügnerin

als nuphar, die eisverkäuferin, von einem kunden aufs uebelste beleidigt wird, verlässt sie ihren stand. er folgt ihr und attackiert sie weiter verbal. sie beginnt zu schreien, die leute laufen zusammen und plötzlich richten sich alle blicke auf sie, die sonst immer im schatten ihrer schönen schwester steht. schnell macht das gerücht eines sexuellen uebergriffes die runde und als eine polizistin sie einvernimmt, korrigiert sie diese unwahrheit nicht. eine kleine lüge beginnt wirkung zu zeigen, denn der täter ist ein prominenter sänger. nuphar wird als opfer in der boulevardpresse bedauert und zu fernsehshows eingeladen. dem vermeintlichen täter droht eine hohe gefängnisstrafe, was nuphars gerechtigkeitssinn weckt. wie kommt sie wieder aus dieser geschichte heraus?
der roman befasst sich, das kennen wir alle, mit den kleinen unwahrheiten und missverständnissen, die zu korrigieren wir hin und wieder unterlassen. die beschreibung der emotionen und gefühle sind zwar treffend, allzu tiefgründig ist der text jedoch nicht und er hat auch immer wieder längen. die personen bleiben trotz vieler und auch detaillierter beschreibung etwas blass und das ende kommt etwas schnell und wirkt unvollständig. aber alles in allem ist das buch leicht zu lesen, unterhaltend und zeitweise auch lustig.

07.07.2021

philip roth: gegenleben

nathan und henry sind brüder, der religion eher fern stehende juden, die in new jersey leben. henry, der zahnarzt, ist verheiratet und hat drei kinder, nathan ist schriftsteller. einer der beiden erleidet einen herzinfarkt und muss danach mit medikamenten behandelt werden, die als nebenwirkung massive potenzstörungen mit sich bringen. nur eine lebensgefährliche operation kann ihn von diesen medikamenten befreien. die frage stellt sich, ob er sein leben riskieren soll.
die fünf kapitel des buches pendeln zwischen realität und fiktion. sie beziehen sich gegenseitig aufeinander, letztlich bleibt aber unklar, welcher der beiden männer der betroffene ist. teils aus der optik des beobachtenden autors, teils aus der sicht des betroffenen lässt sich nie ganz ausmachen, was nun wirklich ist. lange diskussionen über tod, sexuelle potenz, mann-sein und judentum sind nicht nur die zentralen motive dieser komplexen geschichte, sondern ergeben auch eine abenteuerliche mischung, die den roman etwas überladen daherkommen lässt. interessant ist die auseinandersetzung eines juden mit seiner religion, der wenig bis kaum in dieser tradition verhaftet ist. das wahrscheinlich autobiografische züge tragende buch ist anspruchsvoll und hat mir einiges abgefordert.


29.06.2021

marie-hélène lafon: die annonce

auf dem hof seiner familie in der auvergne lebt paul, mitte vierzig, zusammen mit seinen beiden onkeln, die jungesellen geblieben sind. so will paul nicht enden und gibt eine annoce auf. im norden frankreichs an der belgischen grenze lebt annette mit ihrem 11-jährigen sohn eric. gerade hat sie die ehe zum vater ihres sohnes, einem gewalttätigen alkoholiker beendet. sie antwortet auf pauls annonce und die beiden treffen sich ein erstes mal. nach einem zweiten treffen entscheidet sich annette, mit ihrem sohn zu paul zu ziehen und mit ihm ein neues leben zu beginnen. der empfang durch die anderen hofbewohner bleibt trotz der vielen bemühungen pauls frostig. die beiden alten und auch nicole, pauls schwester, die ihm bisher den haushalt besorgt hat, lassen sie spüren, wie wenig willkommen sie hier ist.
in einer subtilen und einfühlsamen sprache, die vieles nur andeutet, anderes aber sehr klar benennt, schreibt die autorin diese verwegene geschichte eines paares, das sich unter schwierigen umständen erst wirklich finden muss. das fehlen einer chronologischen erzählweise hat mich im ersten moment etwas irritiert, sich später aber als besonders schöne art die geschichte zu erzählen erwiesen. das offene ende lässt alles möglich bleiben.

22.06.2021

julia von lucadou: die hochhausspringerin

in einer zukünftigen gesellschaft, in der alles transparent und damit auch überwachbar und kontrollierbar ist, lebt riva, deren passion ein besonderer sport ist: sie springt mit einem sogenannten «flysuit» bekleidet von den hochhausdächern. doch plötzlich hört sie von einem tag auf den andern damit auf, ihre sponsoren sind beunruhigt. hitami yoshida, eine psychologin wird auf sie angesetzt. in dieser hochtechnisierten welt werden rivas verhalten und handlungen durch kameras überwacht und aus der ferne beurteilt. ueber elektronische kommunikationsmittel wird erfolglos versucht, riva zur zusammenarbeit zu bringen. hitami selbst verstrickt sich immer mehr in emotionen, es fällt ihr zunehmend schwer, die professionelle distanz zu halten. beide frauen verlieren ihre privilegien, riva wegen ihrer verweigerung, hitami wegen ihres versagens.
das ist nicht ein einfacher science-fiction-roman. diese genaue und kompromisslose beschreibung einer welt, auf die wir zusteuern, führt uns vor augen, wie unsere zukunft aussehen könnte. trotz allen technologischen fortschritts bleiben dem menschen emotionen und immer wieder leuchten ganz menschliche und persönliche verhaltensweisen auf, die irgendwie nicht zum bestehenden system passen. eine spannende und ergreifende geschichte über macht und ohnmacht zwingt einen zum nachdenken über den technologischen fortschritt und die damit verbundenen gefährlichen folgen.

15.06.2021

elif shafak: unerhörte stimmen

leila wurde ermordet, aber in den letzten sekunden nach ihrem herzstillstand ist ihr gehirn noch in funktion und sie denkt zurück an die wichtigen momente ihres schwierigen lebens: in einer wohlhabenden und konservativen familie im osten der türkei verlebt leila ihre kindheit. früh schon wird sie von ihrem onkel missbraucht. als dies in der familie bekannt wird, soll sie mit ihrem cousin verheiratet werden, um die schande zu verstecken. aber leila flüchtet und macht sich auf nach istanbul, wo sie bald als prostituierte in einem bordell landet. trotz aller schwierigkeiten bleibt sie eine starke frau. sie lernt ein paar frauen kennen, die ihre wirklichen freundinnen werden. und diese kümmern sich nun um die leiche, weil es nicht sein kann, dass sie einfach irgendwo begraben wird. in einer abenteuerlichen aktion erfüllen sie ihr ihren letzten wunsch.
ein spannendes und leicht zu lesendes buch, das exemplarisch das schicksalshafte leben einer jungen frau beschreibt und gleichzeitig ein wunderbares bild über frauensolidarität zeichnet. das stadt-land-gefälle in der türkei, die daraus folgende zerrissenheit der gesellschaft und die situation von frauen, die am rande stehen, bilden den hintergrund dieser spannenden und interessanten geschichte. eine richtige freude beim lesen ist die bestechende strukturiertheit des textes, so dass man beim lesen mühelos den ueberblick behält.

11.06.2021

antónio lobo antunes: portugals strahlende grösse

zur zeit der portugiesischen kolonialherrschaft in angola heiratet der ingenieur amadeu die wohlhabende farmerstochter isilda. nebst ihren zwei gemeinsamen kindern clarisse und rui gehört auch carlos, amadeus unehelicher mischlingssohn zur familie. carlos wird als zweitklassiger mensch behandelt und sogar versteckt, wenn besuch kommt. nach der überstürzten unabhängigkeit angolas, gelingt der familie noch die flucht nach lissabon. isilda aber bleibt zurück und lebt verarmt zusammen mit ihren schwarzen dienstboten in der alten villa. in lissabon wohnt carlos mit seiner freundin lena zusammen, clarisse lässt sich von alten männern aushalten und rui ist als epileptiker in einem heim. niemand folgt carlos' einladung zum weihnachtsessen, aber es löst bei allen eine auseinandersetzung mit der vergangenheit und der familie aus.
wie ein kaleidoskop zeigt der text die vielen facetten damaliger verhältnisse und lebensbedingungen in der kolonie angola auf. der mangel einer eigentlichen handlung und der von perspektivenwechseln und unterbrechungen durchsetzte text erfordert beim lesen viel konzentration. auch wenn ich dem inhalt nicht immer ganz folgen konnte und die lektüre zeitweise sehr kompliziert und anspruchsvoll war, hat es sich gelohnt, dieses buch zu ende zu lesen, lässt es doch einen kritischen blick auf die kolonialgeschichte portugals zu. der titel des buches hat letztlich etwas sarkastisches.

01.06.2021

arno camenisch: der schatten über dem dorf

vor vielen jahren hat sich über dem dorf ein unfall ereignet, bei dem drei kinder ums leben gekommen sind. diese tragödie bleibt den bewohnern und bewohnerinnen unvergessen. kaum jemand spricht darüber, aber immer wieder wird die erinnerung geweckt: sei es durch den blick hinauf zum unfallort, den man noch heute meidet oder durch die kindergräber auf dem friedhof. ueber diesem dorf, in dem alle sich gegenseitig kennen, viele miteinander verwandt sind, bleibt ein schatten, der sich in sprachlosigkeit und schicksalsergebenheit manifestiert.
hierher kehrt der erzähler nach langen jahren der abwesenheit zurück und beobachtet leben und menschen in diesem ort. subtil erzählt er von dieser tragik und führt einen mit aufbauender spannung an das ereignis heran, bis erst gegen ende des buches erzählt wird, was wirklich geschah.

26.05.2021

colum mc cann: apeirogon

der israeli rami und der palästinenser bassam sind zwei männer mit sehr ähnlichen erfahrungen: beide haben eine tochter verloren. ramis tochter smadar wurde bei einem selbstmordattentat in den strassen tel avivs getötet, bassams tochter abir wurde vor ihrer schule von einem israelischen grenzsoldaten erschossen. beide väter kommen nur schwer über den verlust ihrer töchter hinweg. sie lernen sich in einer kontaktgruppe kennen, in der sich betroffene eltern unabhängig von herkunft, nationalität und religion zum gemeinsamen gespräch treffen. sie wollen diese grenzen überwinden, arbeiten gegen diese politik, die ihnen ihre kinder genommen hat und für eine gemeinsame zukunft in frieden. die geschichte von rami und bassam ist wahr: die beiden sind freunde und brüder geworden.
die mitte des buches bilden die lebensgeschichten der beiden männer. vor und nach diesen beiden kapiteln stehen je 500 texte, textfragmente und bilder, die von ereignissen, gegebenheiten, schicksalen berichten und damit die realität und den wahnsinn des palästinakonflikts illustrieren. neben den schwierigkeiten im alltag, werden nicht nur eklatante unterschiede klar, sondern auch wie wenig die meisten palästinenser und israeli vom leben der anderen wirklich wissen. die portraits von menschen, die trotz all des leids an die möglichkeit eines einträchtigen miteinander glauben und ihr überzeugter und aus tiefen herzen kommender einsatz dafür, berühren sehr stark. ein fesselndes stück literatur, das direkt und eindringlich über menschen berichtet, die ihren schmerz durch hoffnung zu ersetzen suchen und das derzeit aktueller nicht sein könnte – ein buch für unsere welt.


18.05.2021

uwe tellkamp: der eisvogel

wiggo ritter, sohn aus einem begüterten elternhaus, hat seine akademische karriere verpatzt. er verdient sich sein leben mit zufälligen gelegenheitsjobs und hat eher unstete beziehungen. der versuch seines vaters, ihn bei seiner bank unterzubringen, scheitert ebenso. in dieser etwas ausweglosen lage lernt er das geschwisterpaar mauritz und manuela kennen, mitglieder einer im hintergrund agierenden konservativen organisation, die auch mit terroristischen mitteln ihre leute an die macht zu bringen sucht. für wiggo eine neue perspektive, doch er verliebt sich in manuela, was zur gefahr für die gesamte unternehmung zu werden droht.
das buch beginnt im spital, wo der zum mörder gewordene wiggo nach einer terroristischen aktion schwer verletzt liegt. diese geschichte wird aus seiner perspektive erzählt, während wir aus der sicht von einigen beteiligten verwandten und freunden eine aussensicht auf die geschehnisse erfahren. am anfang hatte ich schwierigkeiten, mich im komplexen handlungsverlauf zurecht zu finden, doch mit der zeit wurde der in einer dichten sprache geschriebene roman immer brisanter und aktueller.


11.05.2021

fabio andina: tage mit felice

felice ist ein alter mann, der ein bescheidenes leben als selbstversorger in seinem haus führt. jeweils früh morgens in der dunkelheit macht er sich auf, um oben im wald in einem wasserloch zu baden. tagsüber hilft er anderen leuten im dorf, besucht hin und wieder die bar oder fährt mit seinem alten auto hinunter ins tal. als er aber ein weiteres bett in sein haus stellt, finden gerüchte und vermutungen nahrung. niemand weiss genaues, aber man nimmt an, seine frau, die ihn vor vielen jahren verlassen hat, komme zurück.
der autor erzählt die geschichte dieses mannes aus der optik eines begleiters. er verbringt einige tage mit ihm, teilt seinen alltag und schildert das leben in diesen weilern am hang des bleniotales. er zeichnet die einzelnen menschen, die hier leben, ihre beziehungen untereinander, aber auch die einflüsse von aussen, die abwanderung der jugend, das zurückbleiben der alten und den zerfall von unbewohnten häusern weder beschönigend noch romantisierend. dieses ruhige buch ist einfach wundervoll zu lesen und weckt irgendwie eine gewisse sehnsucht nach diesem leben.

01.05.2021

nicolas mathieu: wie später ihre kinder

in einer kleinen stadt in lothringen ist nicht mehr viel los. das stahlwerk, der einzige grosse arbeitgeber, ist seit jahren stillgelegt, viele sind arbeitslos, es gibt wenig perspektiven. hier leben der 14-jährige anthony und sein cousin. sein zuhause ist von armut, alkohol und gewalt geprägt. an einem heissen sommernachmittag fahren die beiden mit einem gestohlenen kanu über den see zu einem entlegenen strand. dort trifft anthony zum ersten mal auf steph, tochter wohlhabender eltern, und verliebt sich in sie. steph geht ihm über jahre, bis er erwachsen ist, nicht mehr aus dem sinn. auch wenn sie sich hin und wieder treffen, es kann nicht wirklich etwas werden.
eine geschichte, die im hintergrund der handlung kaum etwas auslässt, was dieser industrielle niedergang nach sich zieht. nicht nur die aus dem süden zugewanderten fabrikarbeiter werden arbeitslos, sondern auch die menschen, die sich im unteren mittelstand wähnten, stürzen ab in prekäre lebensumstände. die jugendlichen, immer wieder von hoffnung und illusionen geleitet, werden bitter enttäuscht und bleiben abgehängt. von diesem genau beobachteten und beschriebenen milieu und den menschen, die darin leben, berichtet dieses buch eindrücklich ungeschminkt und birgt ein brisantes zeitdokument sozialer ver­hält­nisse.

27.04.2021

dmitrij kapitelman: eine formalie in kiew

mit acht jahren ist der autor und ich-erzähler aus der ukraine mit seiner familie nach deutschland gekommen und in einer plattenbausiedlung in leipzig gross geworden. etwa zwanzig jahre später fällt er den entscheid sich einbürgern zu lassen. dafür braucht er amtliche dokumente, die ihm eine behörde in kiew ausstellen muss. so fährt er zurück ins land seiner kindheit, mit dem ihn ausser ein paar entfernter verwandter nichts verbindet. die beschaffung seiner papiere ist erstaunlich unkompliziert, wesentlich schwieriger werden seine familienbeziehungen. unerwartet reist plötzlich sein vater für eine grössere zahnbehandlung an und als dessen gesundheitszustand sich verschlechtert wird ein spitalaufenthalt nötig. aus der kurz geplanten reise wird eine längere und es wird klar, wie die ablösung von seiner familie doch nicht so endgültig ist, wie er annimmt.
ein autobiografischer roman, der aus einer einwanderer- oder flüchtlingsperspektive viele aspekte aufgreift. in einer ganz eigenen sprache begegnet man hier einer anderen welt, die witzig und manchmal auch etwas sarkastisch dargestellt wird. das grundthema – der bruch zwischen der erlebniswelt von migrierten eltern und ihren kindern – wird ebenso deutlich, wie die schwierigkeit, zwischen zwei welten, zwei identitäten gross zu werden. die nie ganz mögliche befreiung aus familienzwängen kommt in einer liebevoll anmutenden tragik daher. an diesem bis zur letzten seite spannenden und unterhaltsamen buch hat mir besonders die mischung aus tiefgründigkeit, spannung und leichtigkeit gefallen.

23.04.2021

gerbrand bakker: birnbäume blühen weiss

gerard ist alleinerziehender vater von drei söhnen: die zwillinge kees und klaas und der jüngere gerson. sie leben gut und einvernehmlich zusammen, bis ein unfall alles verändert. gerson wird schwer verletzt und verliert sein augenlicht. von da an ist nichts mehr wie vorher und stellt alle vor eine grosse aufgabe. die vier halten zusammen und stellen sich dieser herausforderung auf eine ungewöhnliche weise.
spannend ist die wechselnde perspektive; aus der sicht gersons und aus der sicht der anderen familienmitglieder stellen sich die probleme nicht immer gleich dar. ein kurzer aber sehr berührender roman, der in einer klaren und ruhigen sprache eine tragische geschichte erzählt. zeitweise kam mir die handlung so nahe, dass ich das lesen unterbrechen musste. es ist ein buch, das ich nicht so schnell vergessen werde.

20.04.2021

andrej kurkow: petrowitsch

beim umzug in eine neue wohnung in kiew muss kolja von seinen vormietern einiges an einrichtung übernehmen, so auch ein volles bücherregal. dort findet er in einem buch handschriftliche einträge über geheime tagebücher des nationaldichters schewtschenko. diese sollen in einer festung in kasachstan vergraben sein. er macht sich auf die lange reise dorthin und kommt dabei unterwegs in der wüste beinahe ums leben. der nomade dshamsched und seine zwei töchter retten ihn und pflegen ihn in ihrer jurte wieder gesund. für die weiterreise gibt ihm dshamsched eine der beiden töchter mit. es entwickelt sich eine liebesgeschichte unter abenteuerlichen bedingungen, die am schluss ein gutes ende findet.
die reise durch die postsowjetisch entstandenen staaten zeigt auf, wie diese gesellschaften zwischen gastfreundschaft und menschlichkeit, aber auch kriminalität und korruption funktionieren. gleichzeitig ist man beim lesen nie sicher, was wahrheit und was fiktion ist. dieser heitere und zugleich düstere roman in der art eines road-movies ist leicht und unterhaltsam zu lesen.


11.04.2021

silvio blatter: eine unerledigte geschichte

eric ist der uneheliche sohn, den seine mutter in die ehe mitbringt. mit seinem jüngeren halbbruder ben teilt er das zimmer in dem haus, in dem auch sein grossvater wohnt. zu seinem stiefvater hat er kein wirkliches verhältnis und sein kleiner halbbruder nervt ihn oft. seine jugendliebe eva, wohnt zwei häuser weiter, wird aber später in ein internat geschickt und er sieht sie nie wieder. eric wird ein erfolgreicher komponist für filmmusik. später als ihn seine frau verlässt, nimmt er sich eine auszeit und geht nach kalifornien. dort erreicht ihn ein kompositionsauftrag zu einem film, den sein halbbruder finanziert. erst zögernd lässt er sich darauf ein und wird dadurch mit der geschichte seiner jugend konfrontiert, mit der er abgeschlossen zu haben meint.
gekonnt erzeugt der autor mit eher wenig handlung eine spannung, der man sich beim lesen kaum entziehen kann. die sozialen verhältnisse sind ebenso anschaulich und einfühlsam beschrieben, wie erics innere einsamkeit, seine träume und suche nach identität. die zentrale frage nach dem leiblichen vater, die immer wieder aufkommt, begleitet ihn bis zum ende des buches. mit verhaltenem humor sind orte und menschen sehr treffend dargestellt und ergeben eine mischung aus teenagerleben, ländlicher idylle und unterschiedlichen sozialen bedingungen, die aus dem roman ein besonderes zeitzeugnis machen.

06.04.2021

thomas hettche: herzfaden

nach einer vorstellung der augsburger puppenkiste wagt sich eine neugierige 12-jährige durch eine türe und gelangt so auf einen dachboden, wo sie auf verschiedene marionetten trifft. dort ist auch die tochter des gründers dieses theaters. diese beginnt dessen geschichte zu erzählen: wie alles während des zweiten weltkrieges begann und wie bombardierungen alles zerstörten. dank dem engagement einiger menschen glückt ein neubeginn. für die menschen im nachkriegsdeutschland wird die puppenkiste eine wichtige institution.
ueber die lebendige erzählweise taucht man schnell in die geschichte ein. es fasziniert nicht nur der elan und die zielstrebigkeit, mit der dieses theater gegründet wird, sondern auch die verbundenheit und begeisterungsfähigkeit der menschen, die ein solches projekt mit wenig ressourcen und viel phantasie zustande bringen. sehr zentral und berührend sind die beschreibungen der lebensumstände während des krieges aus der sicht eines kindes. so erfährt man aus einer ganz speziellen optik über widerstand, bombardierungen, verlust und ueberleben an einem ort, an dem es eigentlich kaum noch etwas gibt und wie wichtig dabei auch das aufleben eines kulturellen angebotes ist.

02.04.2021

michela murgia: accabadora

maria, das vierte kind einer armen familie, wird von der alleine lebenden bonaria aufgenommen, wird quasi zu ihrem adoptivkind. schnell fühlt sich maria geborgen und wohl im neuen haus und entwickelt sich zu einer fleissigen tochter und guten schülerin; mit ihrer neuen mutter hat sie ein vertrautes und gutes verhältnis. bonaria geht hin und wieder nachts aus dem haus und kehrt dann oft erst gegen den morgen zurück. sie ist eine accabadora, eine sterbeamme, die es in der tradition sardiniens bis mitte des 20. jahrhunderts gegeben haben soll: frauen, die den in agonie liegenden sterbenden die leidenszeit verkürzten. alle im dorf wissen davon, nur maria nicht. als sie es erfährt, verlässt sie bonaria und kehrt erst zurück, um sie zu pflegen als diese im sterben liegt.
subtil erzählt die autorin die geschichte um dieses schwierige thema einer besonderen art von sterbehilfe. der gesellschaftliche konsens über etwas, das streng juristisch nicht sein darf, das aber allen bekannt ist und über das niemand öffentlich redet, beleuchtet eine ganz spezielle tradition. die bodenständige handlung kontrastiert den ethischen diskurs auf eine ganz besondere weise und eröffnet ein ganz besonderes leseerlebnis.

30.03.2021

robert schneider: schlafes bruder

als zu beginn des 19. jahrhunderts in einem abgelegenen weiler im vorarlbergischen der kleine johann elias alder geboren wird, ahnt niemand, welch ausserordentliches gehör er entwickeln wird. diese fähigkeit macht ihn in der von armut, harter arbeit und frömmigkeit gezeichneten gesellschaft zum aussenseiter. nur peter, sein cousin sucht früh seine nähe. während der gottesdienste hört johann elias den schlechten zustand der orgel, lässt sich eines nachts in der kirche einschliessen, reinigt und repariert das instrument und beginnt darauf zu spielen. und weil das alleine nicht geht, bedient peter – in seiner bedingungslosen liebe zu elias – bald den blasebalg. aber elias' liebe gilt elsbeth, der schwester von peter. auch sie ist elias zugetan, wenngleich sie ihn auch etwas fürchtet. trotzdem wartet sie aber vergeblich auf ein zeichen vom schüchternen musiker und geht schliesslich auf wunsch ihrer familie die ehe mit einem anderen mann ein. als ein beamter, der ein verzeichnis aller orgeln im land erstellt, in den weiler kommt, entdeckt er elias' ausserordentliche musikalität und lädt ihn zu einem orgelfest ein. sein auftritt dort wird zu einem erfolg, aber elias flüchtet. zerrissen zwischen der liebe zur musik und zu elisabeth, will er nicht mehr schlafen: weil wer schläft, liebt nicht. so stirbt er mit 22 jahren.
dies ist ein buch, das seinesgleichen sucht. eine einzigartige, etwas mystische geschichte wird hier erzählt: in einem brutal realen umfeld stehen die bewohner des weilers im dauernden kampf gegen naturgewalten und feuersbrünste. alle sind hier mit allen verwandt, neid und missgunst sind hier ebenso weit verbreitet wie bigotterie und frömmigkeit. die sprache, die ohne antiquiert zu wirken an texte aus jener zeit erinnert, die komplexen satz-, genetiv- und gerundiumskonstruktionen, die die bilder dieses archaisch bäuerlichen lebens entstehen lassen, machen das lesen zu einem ganz besonderen erlebnis und entwickeln einen sog, dem man kaum widerstehen kann.

26.03.2021

benjamin quaderer: für immer die alpen

johannes kaiser kommt nach seinen zwillingsschwestern zur welt und muss sich als kleiner bruder gegen sie behaupten. bereits als kind ist er ein wacher kerl mit viel phantasie. als sich seine eltern trennen, wird er in einem kinderheim untergebracht, wo er sich nur schwer einordnen kann. schon früh lehnt er sich auf und geht seine eigenen, von den autoritäten nicht immer gern gesehenen wege. als jugendlicher wird ihm seine heimat liechtenstein schnell zu klein, er klaut das moped eines freundes und fährt damit bis nach spanien, wo er seine karriere als hochstapler beginnt. später zurück in der heimat arbeitet er bei einer bank, entwendet dort daten über finanztransaktionen, die er später den deutschen steuerbehörden verkauft. dies macht ihn zum meistgesuchten staatsfeind.
das grundmotiv des romans ist eine geschichte, die sich in liechtenstein wirklich ereignet hat. wieviel wahrheit, wieviel fiktion? diese frage lässt sich nicht genau beantworten, wird beim lesen aber auch immer weniger wichtig. das buch lebt stark von seiner witzigen und erfrischenden sprache und der phantasievoll und hochintelligent geführten handlung. der autor, mit den lokalen gegebenheiten bestens vertraut, lotet die verhältnisse dieses kleinen landes, in dem jede jeden kennt und alle irgendwie miteinander verbandelt sind, bis an seine grenzen aus. faszinierend beleuchtet er die rolle der monarchie und das funktionieren des finanzplatzes aus einer zeitweise ans sarkastische grenzenden optik. diese mischung aus geschichtsbuch, krimi und gesellschaftsdrama birgt spannung und unterhaltung vom besten.

20.03.2021

nadine gordimer: niemand der mit mir geht

das system der apartheid ist offiziell abgeschafft und südafrika ist im umbruch; das leben wird immer gefährlicher. hier handelt die geschichte von zwei befreundeten ehepaaren. vera stark, eine weisse juristin, arbeitet für eine stiftung, die versucht die umsiedlung der schwarzen bevölkerung zu verhindern, ihr mann ben ist künstler und bildhauer. sie haben ein offenes haus, in dem auch schwarze als freunde verkehren. nach langen jahren trennen sie sich, er zieht nach london, sie bricht mit ihrer vergangenheit, verkauft ihr haus und geht in die politik. didymus und sibongile maqoma, freiheitskämpfer des anc, sind nach jahren aus dem exil zurückgekehrt. während sibongile als frau eine politische karriere macht, ist es für ihren mann schwierig, nicht mehr in der ersten reihe zu stehen. er beginnt ein buch über die bewegung zu schreiben, was sich als schwierige aufgabe herausstellt. ihr öffentliches engagement wird von todes­drohungen überschattet.
es wird nie ganz klar, was die beiden paare ausser der gesellschaftspolitischen vision eigentlich verbindet. ihre lebensgeschichten und ihr handeln dienen eher als hintergrund für eine exemplarische darstellung der sich verändernden gesellschaft südafrikas. in einer komplexen und vielgestaltigen sprache lässt uns die autorin in vielen details die auswirkungen dieses unsäglichen systems der apartheid erahnen. die genaue kenntnis der lebensumstände und die faszinierende analyse der vehältnisse in der dortigen bevölkerung lassen das buch zu einem zeitdokument werden, das zu lesen keinen moment lang trocken, belehrend oder langweilig wäre.

12.03.2021

bov bjerg: serpentinen

der vater ist auf der schwäbischen alb aufgewachsen, heute lebt er in berlin. mit seinem sohn macht er eine reise in die welt seiner kindheit und trifft dort auf seine vergangenheit. seine eltern und grosseltern waren kriegsflüchtlinge aus dem osten und hatten keinen leichten stand. sein vater und sein grossvater haben sich das leben genommen. er selbst war oft aussenseiter. der sohn betrachtet diese ihm fremde welt mit den augen eines kindes und stellt immer wieder fragen, die andere perspektiven in die geschichte bringen.
hinter einer vagen handlung erscheint in diesem etwas collageartigen text die begegnung mit der vergangenheit und mit einem stück deutscher familiengeschichte. sowohl die auseinandersetzung damit, als auch die von generation zu generation vererbte depressionskrankheit lässt sich nicht immer einfach nachvollziehen: bleibt oft irgendwie an der oberfläche. die stärksten momente für mich waren die beschreibungen der reaktionen der dorfbewohner auf die flüchtlinge.

09.03.2021

sasha filipenko: rote kreuze

als der junge alexander in minsk eine neue wohnung mietet, macht er bald bekanntschaft mit seiner über 90-jährigen etwas aufdringlichen nachbarin tatjana. kaum trifft sie ihn auf der treppe, lädt sie ihn schon in ihre wohnung ein. eigentlich ist er gerade daran sein leben nach dem tod seiner frau neu zu organisieren, aber tatjana – getrieben von der drohenden demenz – hat nicht mehr viel zeit ihr leben zu erzählen. während der stalin-aera hat sie als uebersetzerin beim geheimdienst gearbeitet, wo sie vor allem anfragen des roten kreuzes zu bearbeiten hatte. als ihr mann in kriegsgefangenschaft gerät und sie dies auf einer liste entdeckt, manipuliert sie deren russische uebersetzung und meint, damit ihn und sich selbst zu retten, lädt aber die schuld auf sich, jemand anders zu einem potentiellen verräter gemacht zu haben. seit damals ist sie auf der suche nach diesem mann.
zwei menschen aus zwei ganz verschiedenen generationen treffen sich, beide haben ihre nächsten verloren. aber es ist nicht nur das, was sie verbindet, sondern es fasziniert ebenso, wie der junge alexander sich immer mehr auf die geschichte von tatjana einlassen kann und was dies bei ihm auslöst. dieser text über abhängigkeit und schuld, aber auch über eine kritische auseinandersetzung mit auswirkungen eines totalitären systems könnte mit blick auf die ereignisse im heutigen minsk nicht aktueller sein. trotz oder gerade wegen der hässlichen fratze, die das system zeigt, tritt eine tiefe menschliche beziehung zu tage und trotz der schwere der ereignisse bleibt der roman irgendwie leicht und behält etwas hoffnungsvolles. die dazwischen immer wieder dokumentierten anfragen des roten kreuzes geben einen zusätzlichen einblick über den umgang des damaligen regimes mit der genfer konvention.

02.03.2021

nino haratischwili: die katze und der general

nura, die tochter einer tschetschenischen familie träumt von einem anderen, modernen leben, fern der traditionen ihrer gesellschaft. während des krieges in ihrer heimat lässt sie sich auf kleine illegale geschäfte mit soldaten einer kleinen russischen einheit ein, um sich diesen traum zu finanzieren. aber sie gerät unter einen verdacht, der sie letztlich das leben kostet. alexander orlow, der als junger mann andere pläne hat, muss seine grosse liebe zurücklassen und wird in diesem krieg teil eben dieser russischen einheit und damit mittäter und mitschuldiger eines kriegsverbrechens. zehn jahre später ist er zu einem der reichsten oligarchen russlands aufgestiegen, aber die damaligen ereignisse um den tod nuras lassen ihn nicht los. er findet keine ruhe und entwickelt einen plan, um mit den früheren mitstreitern abzurechnen. die junge georgische schauspielerin, die er für seinen plan gewinnen will, weil sie nura so ähnlich sieht, beginnt aber, sich in dem vorhaben zu verselbständigen.
die stärke dieses werkes sind nicht nur der faszinierende wechsel zwischen dem thrillerverdächtigen handlungsverlauf und der akribischen beschreibung und analyse des postsowjetischen lebens, sondern auch die politischen aussagen und die treffenden milieubeschreibungen. mit einer atemberaubenden sicherheit beschreibt die autorin die mechanismen von abhängigkeit und gewalt, von macht und erpressung, die sich in dieser zeit des wertewandels und der quasi-abwesenheit des staates breit machen. dabei widmet sie sich intensiv den gefühlen und moralischen vorstellungen der einzelnen protagonisten. sprachlich brillant pendelt der text zwischen grauenvollen ereignissen, humorvoll-sarkastischen szenen und schönen bildern. dies alles ergibt eine einzigartige geschichte um schuld und sühne, die einen unweigerlich gefangen nimmt. die anfängliche schwierigkeit, sich im roman zu orientieren und den zeitsprüngen zu folgen, verliert sich schnell, denn die sich aufbauende spannung reisst nicht mehr ab und findet erst in den letzten zeilen ein völlig unerwartetes ende. ich musste lesen, bis mich die augen schmerzten.


17.02.2021

urs augstburger: schattwand

severin somm macht sich auf nach dem abgelegenen bergdorf gspona. dort steht ein altes haus, das ihm sein nachbar vererbt hat. bald erfährt er, dass die schöne lucrezia darin ein lebenslanges wohnrecht hat. das verhalten der wenig gesprächigen dorfbewohner ist rätselhaft und als er im haus einen zugemauerten raum entdeckt ist severins neugier unwiderruflich geweckt. so beginnt er einer dramatischen geschichte auf die spur zu kommen, die sich vor einem halben jahrhundert ereignet hat und kommt dabei auch der sich anfänglich eher feindselig verhaltenden lucrezia näher.
schnell nimmt der text spannung auf und man ist mitten im geschehen. die bildreiche sprache, die wun­der­bar beschriebenen originale von menschen und die schnellen, manchmal abrupten szenenwechsel sind höhepunkte, die einen das buch kaum weglegen lassen, bevor es zu ende gelesen ist. die abschnitte der aufkommenden erotischen spannung zwischen lucrezia und severin sind dagegen eher schwach und langweilen beinahe.

14.02.2021

tim krohn: irinas buch der leichtfertigen liebe

der ganze roman hat zwei ebenen. der autor lernt eine frau kennen, der er verspricht ein buch für sie zu schreiben. so entwickelt er jede nacht ein kapitel und faxt es ihr am morgen. abends erreicht ihn ihr kommentar. sie kritisiert, lobt und bestimmt, wie die handlung sich weiterentwickeln soll. daraus entsteht diese geschichte: dunia ist eine in paris lebende russin, die ihrem mann einen fax nach moskau schicken will. unglücklicherweise landet das dokument bei seiner früheren geliebten ewa in schweden. das sorgt für einige missverständnisse und verwirrungen. als ewa beschliesst nach paris zu reisen, wird alles noch komplizierter; der moment, als sie bei dunia vor der wohnung steht, könnte ungünstiger nicht sein.
ein dichter und verwegener text dessen zwei ebenen immer wieder parallel verlaufen und die orientierung beim lesen nicht einfach machen. viel fiktion, interpretation, emotion und projektion zeigen auf, wie zauberhaft schön, aber auch kompliziert liebesbeziehungen sein können. trotz oder gerade wegen dieser anspruchsvollen anlage vermag die geschichte einen zu fesseln.


06.02.2021

melinda nadj abonji: im schaufenster im frühling

luisa ist ein waches und aufmerksames mädchen. schon als kind ist sie anders als die anderen. langsam wird sie älter, kommt in die adoleszenz und wird eine junge frau. der einfluss ihrer freundin valérie ist nicht unbeachtlich und auch nicht immer nur gut. luisa lässt sich mit frank ein, für den sie eher eine art geliebte ist und dann ist da noch ihre nachbarin, eine ältere dame, zu der sie immer wieder vertrauen hat.
ganz subtil und zart wird hier die schwierigkeit des andersseins und des erwachsenwerdens beschrieben. der blick in diese jungmädchenwelt erfolgt durch szenen, die einen trotz der schnellen wechsel den ueberblick nicht verlieren lassen. bei aller ernsthaftigkeit des themas und den nicht wenigen schwierigen momenten hat der text etwas leichtes, beinahe flüchtiges.

01.02.2021

terézia mora: das ungeheuer

das leben von darius kopp, einem bisher erfolgreichen informatik-experten, nimmt eine dramatische wendung, als er seine stelle verliert und seine frau flora sich umbringt. lethargisch, verzweifelt und ohne ziel haust er in seiner wohnung und die versuche seines freundes juri, ihn wieder zurück ins arbeitsleben zu bringen scheitern. die urne mit der asche floras und ihr geheimes tagebuch nimmt er mit und bricht auf zu einer fahrt in richtung osteuropa. die geschichte entwickelt sich zu einer art road-movie während darius beim lesen des tagebuchs erfährt, wie wenig er seine frau kannte.
die beiden texte – darius' geschichte und floras tagebuch – laufen fortlaufend und getrennt untereinander über die seiten ohne dass ein direkter bezug ersichtlich würde. eine nicht einfach zu lesende sprache, die mit ihren vielen kurzen, oft unvollständigen sätzen, einen besonderen leserhythmus erzeugt, dominiert die geschichte von darius. das tagebuch seiner frau setzt sich aus einträgen zusammen, von denen viele eher unverständlich sind. der ganze roman vermag über weite strecken keine spannung zu erzeugen. auch habe ich vieles schlicht nicht verstanden, es begann mich zu langweilen und nach zwei dritteln der fast 700 seiten habe ich aufgegeben.

23.01.2021

antonio dal masetto: als wärs ein fremdes land

mitte des 20. jahrhunderts wandert agata nach argentinien aus, wo sie über vierzig jahre mit ihrer familie lebt. eines tages erklärt sie – mittlerweile 80-jährig – ihre absicht nach italien zu fahren, um noch einmal das dorf ihrer jugend zu besuchen. sie trifft zwar auf viel bekanntes, aber italien ist ein land, das nicht mehr das ihre ist. die gesellschaft hat sich sehr verändert, die werte sind nicht mehr die gleichen.
das buch enthält eine schön und ruhig erzählte geschichte. die übersichtliche handlungsführung bringt uns die etwas abenteuerliche reise und das beinahe unwahrscheinliche glück agatas nahe. die alte frau sucht eckpunkte in ihrer erinnerung und erfährt, was verschwunden und was neu entstanden ist. sie beobachtet ohne zu kommentieren und zu werten und trotzdem spürt man ihre gefühle, ihre freuden und ihre enttäuschungen. einzig das offene ende lässt einen etwas ratlos zurück.

17.01.2021

yusuf yeşilöz: der gast aus dem ofenrohr

er kommt als kurdischer flüchtling in die schweiz, trifft hier als erstes auf einen landsmann, der schon länger hier lebt und ihn in der nähe der grenze abholt. am nächsten tag stellt er einen asylantrag und lebt nun mit anderen männern, die in der gleichen lage sind, in einer entsprechenden unterkunft. sie reden über ihre heimat, über ihre dörfer und ihr brauchtum, das so anders ist. seine drei ersten arbeitsversuche sind schon gescheitert. die geschichte endet, als er auf dem weg zum vierten ist.
mit verhaltenem humor betrachtet der autor als fremder das leben und die gebräuche hierzulande. wegen der fremden sprache versteht er zu beginn kaum etwas, was zu fehleinschätzungen und miss­verständnissen führt. er beobachtet auch seine mitbewohner genau und realisiert, wie unterschiedlich sie mit ihrer neuen situation umgehen. sehr differenziert und ohne zu werten berichtet er über seinen alltag, sein befinden und seine wünsche. ein schönes buch, das auf eine ganz besondere art und weise zur diskussion um flüchtlinge beiträgt.

15.01.2021

urs augstburger: das dorf der nichtschwimmer

kurz vor merets geburt kehrt ihr vater vinzenz von einer bergtour nicht mehr zurück und wird seither vermisst. 36 jahre später gibt der schmelzende gletscher seine leiche frei. sie hat ihren vater nicht gekannt, reist aber zu seiner beerdigung ins bergdorf. hier trifft meret auf niculan, sohn einer eingesessenen familie. ihre beiden grossväter waren schüler in der dortigen klosterschule und damals eng befreundet, bis ein betrug sie trennte. auch ihre beiden väter waren freunde bis zu vinzenz' bergtod. meret und niculan finden schnell gefallen aneinander und werden ein paar. immer mehr werden ihnen die verflechtungen und beziehungen ihrer beiden familien klar.
das buch ist ein richtiges bergdrama mit allem, was dazugehört: mystik, aberglaube und gefahren in schnee und eis, die einen beim lesen frieren lassen. errungenschaften der moderne treffen hier immer wieder auf traditionelle wertehaltungen. dies fasziniert, wenngleich es manchmal etwas plakativ daherkommt. die etwas utopische und zeitweise phantasievoll unrealistische handlung dramatisiert die geschichte auf eine spannende weise. geschickt wechselt der autor zwischen den zeiten und generationen hin und her, so dass man beim lesen mühelos den ueberblick behält.

08.01.2021

lukas linder: der unvollendete

anatol ist schon mitte dreissig er hat zwar ein abgeschlossenes studium, arbeitet aber in einem pflegeheim als allrounder. auch seine schriftstellerischen versuche führen nicht zum erfolg und mit den frauen ist es auch schwierig. als er gefragt wird, ob er an einem kongress in polen stellvertretend einen vortrag über das netzwerk der pilze halten könnte, sagt er zu. und er beschliesst dort zu bleiben und einen neuanfang zu versuchen.
es ist nicht die etwas spezielle lebensgeschichte von anatol und es ist nicht die handlung, die dieses buch wirklich lesenswert machen. es sind vielmehr der abenteuerliche witz und die einzigartige sprachliche virtuosität, mit der die geschichte geschrieben ist. wunderbar komplexe sätze voll stilistischer und grammatikalischer raffinesse bieten einen beinahe nicht zu übertreffenden lesegenuss.